Hundert Jahre Julio Cortázar
Eine Bilanz zum Werk und Wirken des argentinischen Schriftstellers
Das Werk Julio Cortázars umfasst sechs Romane, unzählige Kurzprosabände, Essays sowie diverse Publikationen, die nicht so einfach einem einzigen literarischen Genre zuzuordnen sind. Was Cortázar vor allem ausmachte, war der Drang zur Grenzüberschreitung in jeder nur möglichen Dimension. Er vermischte nicht nur Genres, sondern erfand zudem so viele Neologismen, dass er aus ihnen eine völlig neue Sprache kreierte: das gíglico, welches dieselbe Syntax und Morphologie wie das Spanische, jedoch einen eigenen Wortschatz besitzt und in vielen Werken Cortázars Verwendung findet. So besteht beispielsweise ein Kapitel seines berühmtesten Romans Rayuela fast ausschließlich aus Neologismen, die beim Lesen eigenständig mit Sinn zu füllen sind. Das Spiel mit der Sprache trieb Cortázar immer wieder an die Schwelle zur Unverständlichkeit, ohne diese jedoch jemals zu überschreiten. Stilistisch war er so präzise, dass ganze Erzählungen ohne Verben auskommen können und dennoch einen deutlichen Sinn ergeben. Seine Strategie war es, Ambiguität zu schaffen, Verwirrung zu stiften, die Lesenden aktiv in seine Literatur mit einzubinden und deren Aufmerksamkeit während der Lektüre immer aufrecht zu erhalten. Und das ist vielleicht seine größte Qualität: den Anfang einer Suche – nach Freiheit, nach neuen Lebensentwürfen, einer Person oder sogar dem Tod – zu beschreiben, deren konkreten Verlauf und Ausgang jedoch offen zu halten. Seine Literatur dient als Impuls, gibt jedoch keine Antworten. Im Prolog zu Rayuela schlägt der Autor selbst verschiedene Lesarten vor, denen zufolge der Roman entweder auf die traditionelle Art – von Anfang bis Ende – gelesen werden könne, oder aber nach einer scheinbar willkürlich zusammengesetzten Reihenfolge der Kapitel. Heraus kommen zwei völlig verschiedene Bücher.
Es ist nahezu unmöglich, die Literatur Cortázars einem bestimmten Themengebiet zuzuordnen. In seinen Erzählungen beschäftigte er sich oft mit scheinbar banalen Dingen. So gibt er beispielsweise Anweisungen zum Treppensteigen oder Uhrenaufziehen. Dies jedoch auf eine Art und Weise, die eine humorvolle Nostalgie der Zeit und des Todes erkennen lassen, ohne jemals auch nur ansatzweise dem Kitsch zu verfallen. Die bereits erwähnte Suche, nach irgendetwas, besonders nach der Sicherheit über den eigentlichen Gegenstand der Suche, ist immer präsent. Oft geht es um die Suche nach der eigenen Identität oder auch der der anderen. Die Frage nach der lateinamerikanischen Identität ist ein roter Faden in der Literatur Cortázars, ohne allerdings jemals direkt zur Sprache zu kommen. Für ihn ist Identität in erster Linie etwas Persönliches, Individuelles, das es zunächst eigenständig zu finden gilt, bevor auf kultureller Ebene darüber gesprochen werden kann. Seine Erzählungen handeln deshalb von Individuen, deren spezifische Konditionen außerhalb der Lektüre jedoch allgemeinere Fragen aufwerfen: Wer sind wir? Was ist Lateinamerika? Cortázar sagte einmal, dass Argentinien zunächst zurückweichen, in Bitterkeit versinken, den Grund berühren müsse, um sich das Recht auf eine eigene kulturelle Identität zu erarbeiten.
Entwurzelung, Einsamkeit, Verlorenheit in der Welt, das sind die großen Themen der latinoamericanidad („Lateinamerikanität“) und es sind Cortázars Themen. Auch wenn er einen großen Teil seines Lebens in Paris verbrachte, schrieb er für Argentinien und ganz Lateinamerika. Sein selbsternanntes „Exil“ in Paris konfrontierte ihn allerdings nicht selten mit dem Vorwurf der Entfremdung von Lateinamerika und der Unmöglichkeit des Verständnisses der wahren Begebenheiten auf dem Kontinent. Möglicherweise versuchte Cortázar sich auch deswegen in den späteren Jahren seines Schaffens aktiv in die politischen Geschehnisse Lateinamerikas einzubringen. 1959 unterstützte er die Kubanische Revolution, in den siebziger Jahren die emanzipatorischen Bewegungen in Zentralamerika. Er nahm an internationalen Gerichtsverhandlungen zu Menschenrechtsfragen teil und verzichtete mehrfach auf seine Autorenrechte, um die linken lateinamerikanischen Bewegungen finanziell zu unterstützen. In der Essaysammlung Nicaragua, tan violentamente dulce (deutsch: „Nicaragua, so gewaltsam zärtlich“) beschreibt Cortázar seine Eindrücke von der Sandinistischen Revolution und seinen Reisen nach Nicaragua. Nach seinen persönlichen Erfahrungen in Zentralamerika widmete er sich ganz seiner Rolle als politischer Intellektueller. Er gab Konferenzen, schrieb Chroniken, politische Manifeste, Polemiken, trat in Kontakt mit Journalist_innen, die seiner Meinung nach die Lage in Nicaragua nicht authentisch einschätzen konnten. Auch in Erzählungen wie Graffiti, welche die Lage der unterdrückten Zivilgesellschaft zu Zeiten der argentinischen Militärdiktatur beschreibt, drückt Cortázar, wenn auch auf sehr subtile Art und Weise, seine Kritik an den politischen Verhältnissen Lateinamerikas aus.
Nach Castros Kuba reiste er mehrfach. Auf den Fall des inhaftierten Dichters Heberto Padilla im Jahr 1971, der die gesamte lateinamerikanische Linke und somit auch die Schriftsteller des Booms in der Literatur spaltete, reagierte Cortázar mit einer Mischung aus Essay und Gedicht, die bis heute polemisiert wird. In Policrítica en la hora de los chacales (deutsch: „Politkritik in der Stunde der Schakale“) setzt sich Cortázar von den Meinungen anderer Intellektuellengruppen ab, denen er zuvor zugeordnet wurde. Für Cortázar waren Literatur und die konkrete politische Aktion unzertrennlich, ohne dass sich jedoch dabei die Literatur bestimmten revolutionären Kriterien unterzuordnen habe. Die Schakale, auf die er sich in seiner Antwort auf den Fall Padilla bezieht, stellen weder das eine noch das andere der gespaltenen Intellektuellenlager dar, sondern einen scheinbar unsichtbaren Feind, der die Kommunikation und die geringste Übereinstimmung beider im Laufe der sechziger Jahre unmöglich gemacht hatte. Er distanzierte sich somit sowohl von den Intellektuellen, die dem Castro-Regime stalinistische Maßnahmen vorwarfen, als auch von der kubanischen Regierung, indem er die Verantwortung des Konflikts den imperialistischen Kultur- und Propagandamethoden zuschrieb und den Konflikt selbst als ein intellektuelles Missverständnis aufzudecken versuchte.
Cortázar, der Schlichter, immer auf der Suche nach Antworten auf teils unformulierte Fragen, hat vieldeutige, oft unlesbare Spuren in der Welt hinterlassen. Ihnen zu folgen ist anstrengend, verwirrend und voller Gegensätze, kann uns aber einen der größten Schriftsteller des zwanzigsten Jahrhunderts näher bringen.