Mit voller Kraft zum Sozialismus
Partizipation in Venezuela soll ausgebaut werden
Caracas am frühen Abend. Auf den palmenbesäumten Straßen rund um die U-Bahn-Station Altamira staut sich der Verkehr. Auffällig viele Taxis und teure Geländefahrzeuge ziehen sich an riesigen Shopping-Malls vorbei oder an luxuriösen Apartmentblocks, die von hohen Mauern mit Elektrodrähten umzogen sind. Die zahlreichen Cafés und Restaurants sind überfüllt. In den Supermärkten, wo die KundInnen mit gezückter Kreditkarte und randvoll gefüllten Einkaufswagen geduldig vor den Kassen ausharren, ist der Kaufrausch ausgebrochen. Vom Sozialismus des 21. Jahrhunderts, den die Regierung ansteuert, fehlt jede Spur.
Nur wenige U-Bahn-Stationen weiter, am Capitolio, ist das anders. Dort tagt das venezolanische Parlament, in dem seit dem Wahlboykott der Opposition Ende 2005 nur noch AnhängerInnen des Präsidenten Hugo Chávez sitzen. „Vaterland, Sozialismus oder Tod!“ heißt es hier martialisch auf einem quer über der Straße hängenden Transparent. Oder: „Mahmud Ahmadinedschad, Präsident des Iran, du bist willkommen! Das rebellische Caracas steht auf deiner Seite.“ Solche Parolen sind vermutlich im Präsidentenpalast Miraflores erdacht worden, der von hier zehn Minuten zu Fuß entfernt liegt. Gleich hinter dem Amtssitz des Präsidenten wächst bereits das Armenviertel 23 de Enero die grünen Hänge hinauf.
Die Sierra Maestra von Caracas
Die U-Bahn steuert dieses Viertel von der Station Capitolio aus an. Sie verlässt dort die unterirdischen Tunnelgewölbe und gibt den Blick auf müllübersäte Hänge, schäbige Baracken und riesige Wohnblöcke frei. Nach einem Stopp ist 23 de Enero erreicht. Klapprige Busse und wild hupende Kleintransporter, die den Nahverkehr abwickeln, prägen das Straßenbild. Gelegentlich drängen sich schrottreife, verbeulte Limousinen dazwischen, die schwarze Rauchsäulen hinter sich herziehen. Wieviel Sprit sie verbrauchen, kümmert ihre FahrerInnen nicht, denn ein Liter Benzin kostet in etwa soviel wie ein Kaugummi. Reiseführer raten TouristInnen dringend davon ab, dieses Viertel zu besuchen. Doch wer sich dafür interessiert, wie es um die bolivarianische Revolution bestellt ist, sollte lieber hier aussteigen als in Altamira.
Bereits eine kurze Fahrt mit dem Kleinbus zeigt, dass 23 de Enero eine linke Hochburg ist: Wandmalereien verdammen den US-Imperialismus, das berühmte Portrait des Comandante Che Guevara ziert unzählige Mauern und Hauswände. Links zieht die Sierra Maestra vorbei, einige Wohnblöcke, die nach dem Gebirge benannt wurden, von dem die kubanische Revolution ihren Ausgang nahm. Fidel Castro selbst weihte diese Blöcke 1959 ein. Der gesamte Stadtteil verdankt seinen Namen dem 23. Januar 1958, als nach dem Sturz des Diktators Marco Pérez Jiménez neu errichtete Wohnblöcke einfach von der Bevölkerung besetzt wurden.
Inzwischen sind die über 50 Blocks im Viertel, die Pérez Jiménez als Sozialbauten errichten ließ, ein wenig heruntergekommen. Der Putz an den Fassaden bröckelt, und der Rost hat in die dicken Abfallrohre, die an den Außenwänden nach unten führen, riesige Löcher gefressen. Da die BewohnerInnen der oberen Etagen ihren Müll ungeachtet dessen durch diese Rohre nach unten befördern, landen Berge von Unrat nicht in den dafür vorgesehenen Behältern, sondern direkt auf der Straße. Die Angestellten der städtischen Müllabfuhr kümmert das nicht. Sie durchkreuzen das Viertel an diesem Tag in nagelneuen Transportern, auf denen in großen Lettern für die bolivarianische Revolution geworben wird, doch sie leeren nur die Müllbehälter.
Die Ingenieure der Revolution
Die Fenster einiger Wohnblöcke sind bis in die oberen Etagen vergittert. Wären da nicht überall bunt behängte, an den Gitterstäben festgezurrte Wäscheleinen, würden die Gebäude an Gefängnisse erinnern. Auf den Dächern einiger Blocks stehen großflächige Werbetafeln. Links wirbt der Toyota-Konzern für seine Produkte, und gegenüber heißt es: „Auf dem Weg zum bolivarianischen Sozialismus. 23 de Enero zündet die Motoren.“ Doch so wenig Toyota seine Karossen für die Reise in den Sozialismus zur Verfügung stellen wird, so wenig sitzen die Ingenieure der Revolution, die an diesen – insgesamt fünf – Motoren tüfteln, in 23 de Enero. Zum ersten Motor hat Chávez nämlich seine umstrittene Vollmacht erklärt, mit Gesetzesdekreten am Parlament vorbeiregieren zu können. Als zweiter Motor gilt eine Verfassungsreform, die das Gerüst des sozialistischen Rechtsstaats schaffen soll. Der dritte Motor steht für eine Erziehung zu neuen Werten und der vierte für die geografische Neuordnung des Landes. In 23 de Enero wird vor allem am letzten Motor auf Hochtouren gearbeitet: der „Explosion der kommunalen Volksmacht“. Viele der AktivistInnen, die daran basteln, den fünften Motor zu frisieren und zünden, nennen sich „SozialkämpferInnen“. Sie haben in der Regel einen dreimonatigen Kurzlehrgang auf Kuba absolviert.
Einer von ihnen sitzt im Kleinbus, der soeben die Sierra Maestra hinter sich gelassen hat. Sein Name ist Johnny, doch er stellt sich als Marxist-Leninist vor. Johnnys Aufgabe ist es, in diesem Viertel beim Aufbau von Kommunalen Räten zu helfen, die auf der Grundlage eines Gesetzes vom April letzten Jahres zusehends in die Lokalpolitik eingreifen sollen. Jetzt ist Johnny unterwegs, um sich mit dem Chef des Viertels zu treffen, der unter dem Spitznamen Mao bekannt ist. Während der Fahrt lässt er seiner Empörung darüber Lauf, dass eine kurze Fahrt mit dem Kleinbus fast doppelt so teuer ist wie eine U-Bahn-Tour quer durch die Stadt. „Damit wird bald Schluss sein“, schimpft er, „Die bolivarianische Revolution wird solchen Preiswucher nicht mehr lange hinnehmen!“
Der große Steuermann
Mao, der seinen Posten dem chavistischen Bürgermeister von Caracas verdankt, residiert im „Haus der Volksmacht“, im Erdgeschoss eines großen Blockes. Hier werden so banale Dokumente wie Sterbeurkunden oder Führungszeugnisse ausgestellt. Mao thront hinter einem riesigen Schreibtisch. Mit seiner runden Brille und seinem blond gefärbten Spitzbart erinnert er eher an den sowjetischen Revolutionsführer Trotzki als an seinen Namensgeber. Neben den obligatorischen Fotos von Castro, Guevara und Chávez hängt hinter seinem Rücken ein gemaltes Portrait von ihm, Mao, selbst. Auf einer Art Altar stehen neben diversen Revolutionsdevotionalien ein Plastikweihnachtsmann und die Jungfrau Maria. Während Mao erklärt, wie es zur „Explosion der Volksmacht“ kommen soll, schreibt er ein paar Zeilen in seinen aufgeklappten Laptop und unterzeichnet eine von seiner Sekretärin gereichte Geburtsurkunde. Oder er trommelt mit den Fingern zu Jazzrhythmen, die aus seiner Stereoanlage klingen.
Ob Mao als großer Steuermann auch nach der Zündung der Motoren die Revolution in diesem Viertel lenken wird, ist fraglich. Er selbst prophezeit, dass Bürgermeister und Gouverneure ihren Job verlieren, wenn die Räte erst einmal erfolgreich arbeiten. Insgesamt sollen in Venezuela bis Ende des Jahres 50.000 Kommunalräte entstanden sein. Ein Drittel davon hat sich bereits konstituiert. In einem Bezirk wie 23 de Enero können sich laut Gesetz zwischen 200 und 400 Familien zu einer asamblea, einer Versammlung, zusammenfinden. Die Versammlung wählt die Räte und ist bei Anwesenheit von zehn Prozent ihrer Mitglieder beschlussfähig. Die Räte bestehen aus verschiedenen Komitees, die unter anderem für Gesundheit, Wasser oder Müll zuständig sind. Eine kommunale Bank und ein Kontrollorgan, das Korruption und Amtsmissbrauch verhindern soll, kommen hinzu. Die Bank, von der Regierung mit einem Grundkapital ausgestattet, kann Darlehen an Mikrounternehmen und Kooperativen vergeben. Eigene Einkünfte können die Kommunalen Räte durch Verhängung von Bußgeldern generieren. Ansonsten müssen sie vorerst beim zuständigen Ministerium oder beim Bürgermeister Projektanträge stellen. Die Arbeit der Räte kann damit prinzipiell von höheren Instanzen kontrolliert werden. Die Regierung kündigte an, für dieses Jahr fünf Milliarden Euro für Projekte der Räte bereitzustellen. Immerhin dreimal so viel wie im vergangenen Jahr.
Der neue Mensch
Mao glaubt fest an die Zukunft der Räte. Während heute etliche korrupte Bürgermeister auf ihren Amtssesseln klebten, so doziert er, könne die Bevölkerung künftig in den Räten alle Politiker davon jagen, denen sie nicht mehr vertraue. An eine Kontrolle von oben glaubt der örtliche Chef der Volksmacht nicht. Ein gut begründeter Projektantrag müsse schließlich vom Ministerium bewilligt werden. KritikerInnen bemängeln vor allem das rasende Tempo, in dem die Räte Kompetenzen von den Bürgermeisterämtern übernehmen. Die Rechtsopposition fürchtet, dass sie in einem System der kommunalen Volksmacht immer weniger Mitspracherecht bekommt und langfristig ihre letzten Bürgermeister- oder Gouverneursämter verliert. Wie die Räte künftig auf überkommunaler Ebene kooperieren werden, bleibt weitgehend unklar. Vermutlich hängt es vom Engagement der Räte und anderer örtlicher Initiativen ab, ob sich in Venezuela künftig tatsächlich eine Basisdemokratie entwickelt. Ob der an autoritäre Entscheidungen gewöhnte Präsident bereit ist, einen Teil seiner eigenen Macht abzugeben, ist allerdings fraglich.
In 23 de Enero haben die 84.000 EinwohnerInnen bereits 17 Räte ins Leben gerufen. 57 sollen es Mao zufolge insgesamt werden. Aber das Viertel ist nicht unbedingt repräsentativ, denn die Menschen waren hier schon immer besser organisiert als anderswo. Einige Kollektive vor Ort
widmen sich seit Jahren der Stadtteilarbeit, greifen erfolgreich in die Kommunalpolitik ein, und haben den Drogenhandel aus der Zone verbannt. Zudem waren es nicht zuletzt die Bewohner Innen des 23 de Enero, die nach dem Putsch gegen Hugo Chávez im April 2002 erfolgreich für seine Rückkehr sorgten.
In anderen Regionen des Landes kommt die Gründung der Räte schleppender voran. In seiner Fernsehsendung Aló Presidente, in der sich Chávez einmal pro Woche direkt an die Bevölkerung wendet, träumte der Präsident kürzlich den alten Traum des Che Guevara, einen neuen Menschen zu schaffen, der sich, von sozialistischen Idealen geprägt, an der Bildung der Volksmacht beteiligt. Dieser Traum soll mit Hilfe des dritten Motors der Revolution Wirklichkeit werden: Tausende Brigadiere wurden bereits in alle Landesteile geschickt, um die Bevölkerung zu schulen und zu unterrichten. Während die Regierung sich jedoch öffentlich darüber auslässt, wie viele Brigadiere sie bis zu welchem Datum mobilisieren kann, schweigt sie sich über den Inhalt der Kampagne aus.
Haargel für das Volk
Auf die bisherigen Errungenschaften der Revolution in 23 de Enero kann Mao stolz sein. Die Regierung hat dort fünfzehn so genannte bolivarianische Schulen eingerichtet, in denen Kinder bis zum Abend beschäftigt werden und drei Mahlzeiten pro Tag erhalten. In fünf Großküchen werden an Bedürftige – Obdachlose, Behinderte, Schwangere oder ältere Menschen – umsonst Mittagessen ausgeteilt. Wer nicht als bedürftig eingestuft wird, erhält das Menü, zu dem in der Regel Fleisch, Gemüse, Obst und eine Suppe zählen, zum Vorzugspreis. Die Speisesäle, die im ganzen Land eingerichtet wurden, sind sehr sauber, das Personal ist freundlich und hilfsbereit. Außerdem können die EinwohnerInnen von 23 de Enero in ihrem Viertel günstig einkaufen. Wie in anderen Armenvierteln hat der Staat auch in 23 de Enero kleinere Supermärkte, so genannte mercales, eingerichtet, die ihre Waren direkt bei den ProduzentInnen kaufen und so versuchen, den Zwischenhandel auszuschalten. Grundnahrungsmittel werden dort zu einem Preis angeboten, der deutlich unter dem der privaten Supermärkte liegt.
In diesen Tagen fällt das Angebot in den mercales indes nicht besonders üppig aus. Die halbleeren Regale erinnern an einen ehemaligen HO-Laden in der DDR. Frisches Obst und Gemüse gibt es kaum. Das wird an bestimmten Tagen nur in einem Mega-mercal im Zentrum von Caracas verkauft. In den Regalen stehen aber immerhin Grundnahrungsmittel wie Reis, Mehl, Nudeln, Öl oder Salz. Auch Toilettenartikel von der Seife bis zum Haargel oder Produkte wie Kakao, Pudding oder Ketchup sind günstig zu erstehen. Am Wochenende, sagt die Verkäuferin, würden auch Hähnchen angeboten. Ansonsten ist Fleisch, ebenso wie Zucker und Karotten, zur Zeit knapp. Die ProduzentInnen dieser Produkte behaupten, der Staat habe deren Preise so niedrig festgesetzt, dass beim Verkauf Verluste entstünden. In den privaten Supermärkten rund um die
U-Bahn-Station Altamira ist von diesem Mangel nichts zu merken, denn die Preisbegrenzung gilt nicht für Waren in höherer Qualität.
Kein Bier in Altamira
Das Prunkstück der Revolution in 23 de Enero ist die Gesundheitsvorsorge. Etwa 100 von insgesamt über 20.000 kubanischen ÄrztInnen im Land arbeiten dort in Krankenstationen und einem neu eingerichteten Hospital. Knapp 40 von ihnen unterhalten eine Praxis in kleinen, achteckigen Bauten, deren Obergeschoss sie bewohnen. Sie besuchen die PatientInnen im Notfall auch zu Hause, ein Service, den es im Viertel zuvor nicht gegeben hat. Drei mittelgroße Krankenstationen, Modul 2 genannt, bleiben rund um die Uhr geöffnet und sind mit Röntgen- und Ultraschallgeräten, einem Labor und sogar einem kleinen Operationssaal ausgestattet. Die Gebäude sind nagelneu, die Behandlungsräume sauber, die medizinischen Geräte gewartet und gut in Schuss. Das Angebot reicht von klassischer Medizin, Massage, Akupunktur oder Logopädie bis hin zu Beschäftigungs- und Psychotherapie. In der Ecke eines größeren Raumes, in dem PatientInnen unter Aufsicht eines Physiotherapeuten mit Gewichten und Medizinbällen trainieren, wird mit Fotos und kubanischen Fahnen José Martí, der Freiheitsheld der Karibikinsel, geehrt.
Die kubanischen ÄrztInnen haben sich verpflichtet, zwei Jahre in Venezuela zu bleiben und müssen mit etwa 200 US-Dollar pro Monat auskommen. Für Ausflüge mit der U-Bahn nach Altamira und dem anschließenden Besuch einer Bar reicht das nicht. Ohnehin sollen die ÄrztInnen ihr Viertel aus Sicherheitsgründen nur in Begleitung verlassen. Denn Einzelne von ihnen, sofort an ihrem Dialekt erkennbar, sind in Venezuela schon ermordet worden. Der tiefe Hass gegen die Regierung im reichen Caracas macht offenbar auch vor den kubanischen ÄrztInnen nicht Halt. Da ist zum Beispiel Portu, ein aus Portugal stammender Taxifahrer, der in den besseren Zonen der Hauptstadt heftig gegen die ÄrztInnen von der sozialistischen Insel wettert. Er hält sie für unqualifiziert und behauptet, sie würden einheimischen ÄrztInnen die Arbeitsplätze wegnehmen. Vermutlich hat Portu noch nie eine Krankenstation mit kubanischen DoktorInnen von innen gesehen. Und sollte er zufällig einen arbeitslosen und qualifizierten venezolanischen Arzt kennen, so wäre dieser mit Sicherheit nicht bereit, zu dem dafür vorgesehenen Gehalt in einer Krankenstation wie im 23 de Enero seinen Dienst zu tun.
So gesellen sich zu den Widersprüchen des bolivarianischen Prozesses auch jene zwischen Vierteln wie Altamira und 23 de Enero. Die sind nicht nur aufgrund der sozialen Gegensätze zwei Welten, die nicht zusammenpassen: Vorurteile gegen die Revolution hier, Unverständnis für die Opposition dort. Selbst wenn die fünf Motoren erfolgreich zünden, wird das Tempo auf dem Weg zum Sozialismus in beiden Stadtteilen auch künftig völlig unterschiedlich ausfallen. Wo es Volksmacht nicht einmal im Keim gibt, kann sie auch nicht explodieren.