NARKOTISIERTE GEWALT
Ein Interview über Gewalt und ihre gesellschaftlichen Funktionen mit dem Geisteswissenschaftler Daniel Inclán
Medien benutzen die Darstellung von Gewalt gerne um Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit zu bekommen. Sie hingegen beschreiben Gewalt als alltägliche Methode in einem sozialen Krieg. Hinkt hier die öffentliche Wahrnehmung der Realität hinterher?
Ich glaube nicht, dass sie hinterher ist. Es geht nicht um Verständnis, sondern um Verhaltensweisen. Das Problem ist, was machen wir mit dem Wissen darüber was passiert? Nicht nur in Lateinamerika, sondern überhaupt auf der Welt geschieht etwas ähnliches. Die Menschen sind sich bewusst darüber, dass eine große Transformation stattfindet, eine soziale Mutation. Es fehlt nicht die Fähigkeit, das zu verstehen. Es handelt sich eher um eine bewusste Entscheidung Empathie zu vermeiden mit dem, was wir von Medien gezeigt bekommen und was wir täglich auf den Straßen sehen.
Der soziale Krieg, der auf der ganzen Welt stattfindet, hat je nach Region andere Merkmale, gemeinsam ist ihm dabei die soziale Betäubung. Wir wissen, was vor sich geht, ziehen es aber vor uns selbst zu täuschen. Es ist die Umkehrung der Formel vom Fetischismus des Marktes bei Karl Marx: Sie wissen es nicht, aber sie tun es. Heute wissen wir, aber wir machen weiter. Wir wissen über die Ausbeutung und die obszöne Bereicherung einiger weniger Menschen Bescheid, aber wir ziehen es vor weiter zu machen, als ob es uns nicht angehen würde. Um damit leben zu können, müssen wir Erklärungen konstruieren, mit denen wir uns narkotisieren.
Wer sind die Akteure in dem sozialen Krieg?
Der Staat ist nicht verschwunden und weiterhin ein großer Akteur, aber er hat sich in einer Art transformiert wie wir es noch nie gesehen haben. Die politische Theorie muss sich in diesem Punkt erneuern. Den Staat verstehen wir als eine Synthese gesellschaftlicher Kräfte. Heute gibt es gesellschaftliche Kräfte, die früher nicht Teil des Staates waren wie das organisierte Verbrechen in all seinen Varianten. In Mexiko und Kolumbien sind es Drogenhändler, in Brasilien gibt es Mafias, denken wir auch an Russland mit der Mafia oder an Italien. Es gibt also eine Synthese gesellschaftlicher Kräfte, die es vorher nicht gab. Außerdem müssen wir eine andere Perspektive einnehmen. Wenn wir weiter auf den liberalen Staat des 20. Jahrhunderts schauen, können unsere Analysen nicht zutreffen, weil wir dann den Staat nicht als Korrelation von Kräften begreifen. Es gibt eine wichtige Transformation, die sich durch immer mehr private Interessen kennzeichnet.
Es entstehen gleichzeitig verschiedene Formen von Söldnertruppen. Lateinamerika ist weiterhin ein Laboratorium dafür. Während der Aufstandsbekämpfung (in den 1970er und 1980er Jahren, Anm. d. Red.) entstanden paramilitärische Gruppen, die mit dem Staat verbunden waren, der sie steuerte und bezahlte. Heute sind sie nicht mehr unbedingt mit dem Staat verbunden. Die Formen der Gewalt haben sich ebenfalls privatisiert. Diese Gruppen kontrollieren nicht mehr nur Territorien, sondern auch ökonomische Mechanismen, wie Menschen- und Drogenhandel.
Außerdem gibt es eine Art soziale Gewalt, welche gekennzeichnet ist durch Geschlecht, Herkunft (spanisch: raza, Anm. d. Übers.) und ethnische Zugehörigkeit. Überall auf der Welt gibt es eine zunehmende Gewalt aufgrund von diesen Zugehörigkeiten. Fast alle Menschen reproduzieren das auf die ein oder andere Weise und das macht es noch komplizierter. Die Mechanismen, die noch während des 20. Jahrhunderts funktionierten, um strukturelle Gewalt zu begrenzen, funktionieren heute nicht mehr. Silvia Federici beschreibt in ihrem berühmten Buch Caliban und die Hexe, wie das Einkommen des Patriarchats die machistische Gewalt zähmte. Heute hat das Einkommen seine soziale Funktion verloren und die Form der Gewalt aufgrund von Geschlecht hat sich verändert. Sie nimmt auf der ganzen Welt zu, auch wenn sie in Lateinamerika viel tödlicher ist. Auch die strukturelle Gewalt aufgrund von ethnischer Zugehörigkeit verschärft sich aufgrund von Migration.
In Mexiko tritt dieses Phänomen häufiger auf, weil die USA die Nordgrenze geschlossen haben. Mexiko ist nun nicht mehr nur ein Transitland, sondern Ort der Ankunft von Migration. Inzwischen kommen Menschen aus der Karibik, das gab es bisher nicht. Und nun zeigt sich die Fremdenfeindlichkeit, der Rassismus ist sehr stark. Das ist verrückt. Mehr als 10 Prozent der mexikanischen Bevölkerung lebt in den USA, das sind 15 Millionen Menschen. Aber wenn die Migranten aus Mittelamerika in das Land kommen, werden sie wie Abfall behandelt.
Schließlich nimmt auch die Diskriminierung der wenigen Sektoren zu, die sich noch mit der Arbeiterklasse identifizieren lassen. Denn die Idee von heute ist es, dein eigener Arbeitgeber zu sein. Wenn heute Streiks oder Demonstrationen von Seiten einer Gewerkschaft stattfinden, dann fühlen wir uns gestört, weil Straßen blockiert, Schulen oder Arztpraxen geschlossen sind, denn wir wollen zur Arbeit kommen, unsere Kinder in der Schule abgeben und unsere Gesundheit versorgt haben. Wir denken nicht darüber nach, dass sie damit eine gesamte Struktur verteidigen.
Sie beschreiben Gewalt als eines der dringlichsten Probleme unserer Epoche. Gibt es Unterschiede zur Gewalt im 20 Jahrhundert?
Sehr viele. Ich sehe Gewalt im Zusammenhang mit Politik und den Verantwortlichen. Gewalt ist keine Anomalie in modernen Gesellschaften. Sie wird gebraucht, um so hierarchische Gesellschaften zu organisieren, wie wir sie haben. Es gibt viele Hierarchien von Geschlecht, Klasse, Ethnien und so weiter. Im 20. Jahrhundert gab es eine säkulare Transformation unter dem Einfluss der Industrialisierung. Die Eigenart dieser Transformation gibt es im 21. Jahrhundert nicht mehr, Gewalt ist nun ebenso privatisiert, wie auch nahezu vollständig die Produktion. Im 20. Jahrhundert ging Gewalt von Staaten aus, denken wir zum Beispiel an Deutschland und Europa. Heute spielt staatliche Gewalt zwar noch eine Rolle beim Thema Sicherheit, aber es gibt mehr private Akteure auf allen Ebenen. Zur Gewalt gehörte damals eine Logik von Gut und Böse. Staaten kämpften gegen andere Staaten, der Feind war einfach zu benennen. In Lateinamerika folgten aus den Doktrinen der nationalen Sicherheit Diktaturen, woraus wiederum ein Zusammenhalt der Kommunisten, der Subversiven, entstand.
Heute ist das anders, die Denkstruktur ist eine ganz andere. Ich glaube, es gibt so etwas wie einen sozialen Autoritarismus, der nicht durch Regierungen oder Staaten verkörpert wird. Er schafft einen internen Wettbewerb, der durch Individualismus und Privatisierung gestützt wird. Heute kämpfen wir nicht mehr gegen so eindeutige Gegner wie gegen Diktaturen oder Faschismus.
Gewalt steht auch mit ökonomischen Aspekten in Zusammenhang. Sehen Sie Unterschiede in der Ausprägung von Gewalt bei Staaten mit einer starken Wirtschaft, wie Brasilien und Mexiko, und Staaten die weniger ökonomisch entwickelt sind, wie Honduras oder Guatemala?
Es gibt wichtige Unterschiede. Manche sind qualitativ, wie der Grad der Grausamkeit und wie tödlich Gewalt ist. Ich denke, qualitative Merkmale haben damit zu tun, welche Art von Angriffen auf Körper stattfinden und welche Effekte sie dabei auf Territorien haben. Im Fall von Mexiko, Brasilien und auch Kolumbien handelt es sich um die Kontrolle von Territorien durch die Kontrolle von Körpern. Die Kontrolle von Territorien funktioniert für die großen korporativen Geschäfte wie den Bergbau, Infrastrukturprojekte, Tourismus oder illegalen Handel. Entweder werden Menschen dafür von Territorien vertrieben oder auf ihnen kontrolliert. Zum Beispiel sind in diesen Ländern Fälle dokumentiert, in den Gemeinden gezwungen werden für den Drogenanbau zu arbeiten, für Kokain in Kolumbien, für Marihuana und Mohn in Mexiko.
In den Ländern Zentralamerikas ist der Konflikt um Territorien nicht der springende Punkt, weil sie ökonomisch gesehen Leichtgewichte sind. Der wirtschaftliche Zusammenhang mit der Grausamkeit ist dort nicht so offensichtlich. Diese Staaten sind weiterhin komplett von den USA abhängig und inzwischen wirtschaftlich unbedeutend. Sie sind nicht mehr die Bananenrepubliken des 19. Jahrhunderts, welche die Wirtschaft in den USA ankurbeln. Die USA haben inzwischen die bäuerliche Landwirtschaft in Lateinamerika zerstört und verkaufen selbst Lebensmittel dorthin. Sie brauchen die Territorien nicht mehr, um dort zu produzieren. Die Früchte, welche früher in Mittelamerika produziert wurden, werden jetzt in Florida angebaut. Ich habe Mittelamerika nicht bis ins Detail studiert und habe nur eine Hypothese zur sozialen Zersetzung: Das ist ein Fall von verselbstständigter politischer Gewalt, die früher eine ökonomische Basis hatte. Obwohl diese Basis jetzt fehlt, haben die Menschen ein bestimmtes Know-How. Es gibt ein gesellschaftliches Wissen über die Ausübung von Gewalt in all seinen Formen, das fast „automatisch“ und „spontan“ ist. Es steht aber in keinem direkten Zusammenhang mehr zu einer großen Ökonomie, weil sie an Relevanz verloren hat.
Vielleicht wird das auch Mexiko, Kolumbien und Brasilien so gehen, wenn sie ihr ökonomisch-strategisches Gewicht verlieren. Etwas sehr ähnliches ist in Afghanistan oder im Irak passiert. Nachdem die strategischen Knotenpunkte nach langen Kriegen unter Kontrolle gebracht worden waren, hat sich die Gesellschaft zersetzt. Aber mit einem Know-How und mit Technologien von Gewalt, die es davor nicht gegeben hat. Das geschah durch die Lieferung von Waffen und anderer Technologien aufgrund der Bedeutung von Öl, welches die Initialzündung für die Kriege war.
Das Paradox in Zentralamerika ist, dass es lange Bürgerkrieg gab, in dem Generationen aufgewachsen sind. Wenn du damit aufwächst, wird es leicht zu einem sozialen Horizont und du reproduzierst die Gewalt. Ich denke, es gibt eine Verselbstständigung von Gewalt. Die Menschen besitzen Waffen und das Know-How, also benutzen sie sie auch.