„Nationale Interessen beiseite lassen“
Interview mit dem Generaldirektor von Telesur Aram Aharoniam
Angelehnt an einen Ausspruch des Sängers Daniel Viglietti haben Sie gesagt, dass Telesur die Medien „entflechten” wird. Wie meinen Sie das?
Damit beziehe ich mich auf die großen Medienmonopole, nicht auf die Medien an sich. Es gibt eine totale Hegemonie im kommerziellen Fernsehen, die nur ein Denken zulässt, nur eine Art von Bildern. Wir wollen diese Hegemonie aufbrechen, indem wir eine Alternative anbieten: Telesur wird für andere Denk- und Ausdrucksformen zugänglich sein.
Können Sie den Anspruch von Telesur genauer beschreiben? Einmal heißt es, Telesur soll „ein aktiver und nicht reaktiver Kanal sein“, auf der anderen Seite heißt es aber auch, es soll ein „gegenhegemonialer Kanal“ sein.
Telesur ist kein Fernsehsender gegen etwas, sondern ein Kanal mit einer eigenen politischen Agenda. Wir machen kein Programm gegen CNN oder gegen das spanische Fernsehen. Und wir wollen auch nicht dem Vorbild der großen Informationssender folgen, sondern wollen die soziale, ethnische und kulturelle Unterschiedlichkeit Lateinamerikas reflektieren. In diesem Sinne ist Telesur mit seiner eigenen politischen Agenda sowohl aktiv, als auch gegenhegemonial, weil es gegen das Einheitsdenken ist.
Es war zu lesen, dass der Kanal nach den strengen Kriterien von „Rentabilität und Wettbewerbsfähigkeit“ funktionieren soll.
Nein, nicht Rentabilität, sondern Nachhaltigkeit. Es ist kein kommerzieller Kanal, sondern ein politisches und strategisches Projekt.
Was garantiert, dass der Kanal nicht von bestimmten Regierungen abhängig sein wird wie zum Beispiel denen von Lula, Chávez oder Tabaré Vázquez?
Wir sind sehr froh darüber, dass das Projekt durch verschiedene Staaten angestoßen wurde. Nach vielen Jahren gibt es endlich wieder Anstrengungen für regionale Projekte. Es sind die Staaten, wohlgemerkt nicht die Regierungen, die uns unterstützen, und das garantiert uns, dass wir weiterkommen können. Es ist kein Projekt, das dauernd „es lebe Lula“ oder „es lebe Chávez“ ausruft. Es ist ein Projekt für ganz Lateinamerika.
Es geht nicht darum zu verbreiten, was in diesen wenigen Ländern passiert, sondern es geht darum, zu informieren was auf dem gesamten Kontinent passiert. Wenn wir von Integration reden, uns aber gar nicht kennen, dann ist es schwierig, dass wir uns integrieren.
Können Sie Ihre Vorbehalte gegenüber den „Alternativen Medien“ erläutern?
Ich habe hier keine Vorbehalte. Ich sage nur, dass wir während vieler Jahrzehnte nur auf die alternativen Medien gesetzt und die Massenmedien in den Händen des Gegners gelassen haben. Viele Jahre lang haben wir Geld aus Europa und den USA erhalten, damit wir mit diesen Projekten weitermachen, haben uns aber eben auch nicht aus dieser Nische heraus bewegt. Auf diese Weise wurde bewirkt, dass wir uns nicht zusammengeschlossen und auch kein Massen wirksames Projekt auf die Beine gestellt haben.
Ich bin nicht gegen alternative oder kommunale Medien. Alle diese Medien haben einen sehr großen Wert, sowohl was lokalen Widerstand als auch was die Bildungsmöglichkeiten für die Bürger betrifft. Mich als Gegner der alternativen Medien darstellen zu wollen, wäre eine große Dummheit, weil die alternativen Medien mit Telesur zum ersten Mal auch die Massen erreichen werden können.
Sie haben gesagt, dass der Sender „Ausdrucksraum für die sozialen Bewegungen, die heute nicht in den Medien vertreten sind, sein soll“. Aber die große Mehrheit der Menschen ist kein Teil von sozialen Bewegungen. Wie sollen diese Teile der Bevölkerung erreicht werden?
Es gibt auf jeden Fall eine Elite oder ein Bürgertum, die den sozialen Bewegungen abweisend gegenüber steht. Aber heute werden in Lateinamerika die Veränderungen von den sozialen Bewegungen initiiert. Sie sind auf der Straße, bedrängen die Regierungen und erreichen die Veränderungen in unseren Ländern.
Aber es gibt auch viele Menschen, die nicht zur Elite gehören, die die sozialen Bewegungen nicht anerkennen.
Die Menschen werden jetzt seit über 30 Jahren mit einer Propaganda und einer Kultur bombardiert, die sagt, so kannst du das nicht sehen, du musst das mit den Augen eines Ausländers sehen. Aber wenn es jetzt eine Alternative gibt, etwas mit eigenen Augen zu betrachten, kann es sein, dass sie reagieren.
Was genau ist also die Strategie?
Lateinamerika mit lateinamerikanischen Augen zu zeigen, so dass die Menschen sich damit identifizieren können. Die lateinamerikanische Identität herstellen, von der wir so oft reden, aber die wir nie konkretisieren. Es geht darum, die Wurzeln zu erkennen, die Erinnerung wieder zu beleben, es geht um die Sprachen und die Wörter, es geht darum sich kennen zu lernen, sich lieben zu lernen und dann eine Einheit herzustellen. Heute wissen wir mehr darüber, was in Tschetschenien passiert, als darüber, was um die Ecke passiert. Das ist das Problem der Desinformation, der Hegemonie. Eine Menge von Information, die uns nichts bringt, die aber den Interessen der anderen entspricht.
Wie wird Ihre Nachrichtenpolitik aussehen?
Nachrichten werden nicht produziert, sie produzieren sich selbst. Es geht also darum, über das zu berichten, was die Korrespondenten und Partner in den beteiligten Ländern berichten. Es geht darum, eine globale Vision von dem was Tag für Tag in Lateinamerika und in der Karibik passiert zu schaffen. Und das mit einem Programm, das sich auf lateinamerikanische Interessen bezieht.
Es wird nicht so sein, dass wir nur berichten, wenn eine Katastrophe passiert, wenn es einen Aufstand gibt oder ein Präsident gestürzt wird. Der hegemoniale Blick ordnet uns in ein Schwarz-Weiß-Muster ein. Wir sind aber ein total farbenfroher Kontinent. Deshalb werden wir alles, was passiert, in einem kontinuierlichen Prozess und Kontext darstellen. Wenn es also einen Regierungssturz gibt, wird über die Vorgeschichte und die Folgen berichtet werden. Man wird erfahren, wer was warum macht.
Was bedeutet es für einen Journalisten und politischen Aktivisten wie Sie an einem solchen Projekt mitzuarbeiten?
Für mich ist es einer der wenigen Träume, der Realität geworden ist. Auf dem ganzen Subkontinent gibt es zurzeit einen Mentalitätswechsel. Bis vor kurzem dachten wir, dass uns viele Dinge verboten sind und wir haben uns in kleinen Nischen versteckt. Die Möglichkeit, die übermächtigen Informationskartelle mit einem Alternativprojekt zu konfrontieren, erschien nicht realistisch. Aber viele Dinge, die vielleicht vor fünf Jahren nicht möglich waren, sind heute möglich. Und diese Dinge müssen wir tun.
Welche Unterschiede und Gemeinsamkeiten gibt es zwischen den Ideen von heute und denen von vor 30 Jahren?
Es gibt heute ein besseres Verständnis von dem, was Lateinamerika ist. Was wir aus diesen Jahren gelernt haben, ist, dass es nicht ausreicht, uns zu beschweren. Wir müssen auch zur Tat schreiten, müssen aktiv werden und dürfen nicht immer nur reagieren.
Bis jetzt haben wir den Neoliberalismus bekämpft, ohne eine Alternative anzubieten. Heute deuten sich Alternativen an. Integration ist der einzig mögliche Weg und das ist es, was wir lernen müssen: Wir müssen die nationalen Interessen und den Egoismus beiseite lassen. Wir müssen unsere Kräfte bündeln und zeigen, dass wir viele sind!