Nummer 313/314 - Juli/August 2000 | Tourismus

Neue Seite im Reisekatalog

Zauberformel Ökotourismus in Lateinamerika

Ökotourismus heißt die Zauberformel mit der nicht nur Umweltbewußte zu Fernreisen gelockt werden sollen. Verschiedene Interessen sollen hier verbunden werden: Naturschutz, aktive Teilnahme der EinwohnerInnen des Ziellandes, Genuss und Erholung für TouristInnen und schließlich ökonomischer Aufschwung.

Martina Backes/Tina Goethe

Noch Ende der 60er Jahre erschien der Ferntourismus – das zunehmend massenhafte Reisen von TouristInnen aus Europa (und den USA) in Länder des Südens – als Hoffnungsträger für die wirtschaftliche Entwicklung vieler Länder der Dritten Welt. Ganz im Zeichen dieser Euphorie erklärten die Vereinten Nationen (UN) das Jahr 1967 zum Jahr des Ferntourismus.

Entwicklung für die bereisten Gesellschaften

Die im Vergleich zu anderen Wirtschaftszweigen vermeintlich „weiße Industrie ohne Schornsteine“ habe keine oder vergleichsweise geringe negative Auswirkungen auf die Umwelt, erklärten die Theoretiker der Entwicklungshilfe. Als Instrument der „nachholenden Entwicklung“ würde Tourismus vor allem auch die Modernisierung der bereisten Gesellschaften voranbringen.
Diese Illusionen sind längst zerstört. Die verheerenden Auswirkungen auf Boden, Wasser, Flora und Fauna, sowie auf die sozialen und kulturellen Lebensbedingungen der lokalen Bevölkerung sind zahlreich dokumentiert. Nach vielen Fehlschlägen und massiver Kritik zog sich die Entwicklungshilfe aus der Tourismusförderung zurück.
Heute ist sie allerdings wieder da – die Tourismusförderung. Mit Ökotourismus scheint nun ein wirtschaftliches Instrument „nachhaltiger Entwicklung“ gefunden, das nicht nur „umweltschonend“ ist (wie noch die „weiße Industrie”). Diese besondere Form des Tourismus soll als „grüne Industrie“ sogar zum Schutz von Natur und Umwelt beitragen. Und wieder springt die UN euphorisch wie vor 33 Jahren auf den Zug, und erklärt das Jahr 2002 zum Internationalen Jahr des Ökotourismus.

Per Flugzeug in den Urwald

Schon jetzt vermarkten Tourenveranstalter gerade in Lateinamerika jeden Kurztrip per Flugzeug in den Urwald, Jeep-Fahrten durch die Wüste oder Rafting durch die Canyons der Anden als Ecoaventura oder Ecotour. Natürlich gibt es inzwischen Angebote, die eine ökologische Form des Reisens mit dem Ziel nahelegen, Naturschutz zu finanzieren und die lokale Bevölkerung am Profit teilhaben zu lassen.
Am einen Ende des Interessenspektrums findet man diejenigen, die Ökotourismus als Instrument zur Finanzierung des Naturschutzes sehen. Auf der anderen Seite steht der Nutzen, sprich der Konsum der Natur – möglichst einer unverdorbenen „heilen“ Wildnis – an erster Stelle. Tourismus im Dienst der Natur oder Natur im Dienst des Tourismus: Gemeinsam ist allen Akteuren die Tatsache, dass Tourismus in jedem Fall ein Geschäft ist.

Konfliktfeld Natur

Deshalb sind Schutz und Nutzen von Natur gerade im Tourismus nicht so leicht in Einklang zu bringen. Auch beim Ökotourismus bleibt der Widerspruch, dass er seine Grundlage, die Natur, durch die konsumptive Nutzung derselben gefährdet. Bisher gibt es kaum Erfolgsnachrichten, die davon überzeugen konnten, dass Ökotourismus tatsächlich eine „grüne Alternative“ ohne Umweltschäden ist: Müll, der Auf- und Ausbau touristischer Infrastruktur, Stören von Wildtieren, Klimabelastung, Wasserverbrauch u.a. verursachen derzeit in Schutzgebieten immer wieder Probleme.
Oft werden nur die direkten, lokalen Auswirkungen gesehen. Die Langzeitperspektive, indirekte oder weit entfernte Folgen sind häufig ausgeblendet. So lautet die große, immer wieder gestellte und bisher unbeantwortete Frage: Wie viel und welchen Nutzen verträgt die Natur?
Da sie nicht für sich selber sprechen kann, sind (Für)sprecherInnen nötig, die Belastungsgrenzen ziehen und dafür sorgen, dass sie nicht übernutzt und somit zerstört oder verändert wird.
Welche Natur wo und wie weit geschützt werden muss, ist ein gesellschaftlicher Aushandlungsprozess, bei dem innergesellschaftliche und internationale Machtverhältnisse bestimmend sind. Im Nord-Süd-Verhältnis ist damit klar, wer Schutz und Nutzung definiert. Die lokale Bevölkerung der zu schützenden Gebiete hat dabei kaum ein Mitspracherecht.

Indigene raus – Touristen rein?

Das bekommt insbesondere die indigene Bevölkerung des Amazonastieflandes zu spüren. In Peru gibt es seit den 70er Jahren eine nationale Gesetzgebung zu Schutzgebieten. Inzwischen stehen insgesamt 4,29 Prozent der gesamten Staatsfläche unter Schutz. In den Nationalparks ist den Menschen grundsätzlich jede direkte Nutzung der Ressourcen sowie die Besiedlung untersagt.
Nur die wissenschaftliche und touristische „Sondernutzung“ ist erlaubt, soweit mit den Schutzzielen kompatibel. Für den Teil der indigenen Bevölkerung, der innerhalb und in der Nähe der Parks lebt, führen diese Vorschriften zu massiven Einschränkungen ihrer Lebensweise. Indigene Gruppen dürfen nur dann in Schutzgebieten bleiben, wenn sie sich streng an ihre traditionellen Produktions- und Lebensformen halten und kaum oder keinen Kontakt zur nationalen Zivilisation haben.
Jegliche kommerzielle Nutzung der Ressourcen, um – wenn auch bescheiden – für den Markt zu produzieren und sich damit industriell gefertigte Güter kaufen zu können, wird ihnen untersagt. Im Interesse des Naturschutzes werden so Menschen zu einer musealen Lebensführung gezwungen. Eine eigenständige, selbstbestimmte Entwicklung wird ihnen verwehrt. So definiert man Indigene entweder zu einem unbedingt zu schützenden Teil der Natur, zu Objekten des Schutzes von außen – oder sie werden wegen vermeintlicher Bedrohung der Natur zum „freiwilligen“ Verlassen der Schutzgebiete aufgefordert.

Schwieriges Ko-Management der Ecolodge

Anders lief vor vier Jahren ein Projekt am Rande des Nationalparks Bahuaja-Sonene ebenfalls im peruanischen Amazonastiefland. Die indigene Gemeindeorganisation Comunidad de Infierno (CNI) schloss 1996 mit dem peruanischen Tourveranstalter Rainforest Expeditions (RFE) ein Joint Venture über den Bau und das Management der Ecolodge Posada Amazonas am Tambopata River ab. Laut Vertrag erhält die aus 80 Familien bestehende Gemeinde 60 Prozent der Profite, die restlichen 40 Prozent gehen an das Unternehmen. Nach 20 Jahren Laufzeit soll die Lodge samt Inhalt gänzlich in den Besitz der Gemeinde übergehen. Solange die Partnerschaft zwischen CNI und RFE besteht, darf die Gemeinde mit keinem anderen Anbieter zusammenarbeiten; ebenso hat sie sich verpflichtet, in ihrem Territorium kein weiteres Ökotourismusprojekt aufzubauen.
Nach dem kollektiv organisierten Bau der Lodge durch die Gemeindemitglieder stellte sich insbesondere das gemeinsame und gleichberechtigte Ko-Management des Projekts als Problem heraus. Die rassistischen, sozialen und kulturellen Strukturen der peruanischen Gesellschaft machten es den Partnern – städtische Unternehmer aus Cusco und Indigene bzw. Mestizos aus der Gemeinde – sehr schwer, sich als Gleichberechtigte wahrzunehmen. Zudem fehlte die unternehmerische Erfahrung.
Erst nach über einem Jahr Laufzeit gelang es, die Hierarchien innerhalb des Ko-Managements zu mildern. Inzwischen treten die Gemeindemitglieder nicht mehr nur als ArbeiterInnen auf, sondern als EntscheidungsträgerInnen. „Woanders sind die Leute Angestellte, wir sind hier Eigentümer“. Auch auf Seiten des Unternehmens werden die Gemeindemitglieder anders wahrgenommen: „Bisher haben wir gesagt, wo es langgeht, jetzt hören wir zu und überlassen der Gemeinde mehr Entscheidungen“. Dennoch ist dieses Beispiel nach wie vor mit Vorsicht zu behandeln und nicht zu verallgemeinern. Um sagen zu können, unter welchen Bedingungen eine Zusammenarbeit zwischen Privatsektor und lokaler Gemeinde erfolgreich – das heißt für beide Seiten gewinnbringend – verlaufen kann, bedarf es noch viel mehr Erfahrungen.
Neben diesen sehr kleinen Ökotourismusprojekten, deren mäßiger ökonomischer Erfolg meist der Grund ihres Scheiterns ist, gibt es auch staatlich gelenkte und vermarktete ökotouristische Reiseziele. Die Länder Mittelamerikas haben 1996 ein gemeinsames Aktionsprogramm zur Entwicklung des Ökotourismus verabschiedet. Hier wird besonderer Wert auf die „kooperative Identität“ der Region gelegt, um sich als Ökoreiseziel Mittelamerika gemeinsam vermarkten zu können. In den verabschiedeten Programmen wurden umweltpolitische Interessen mit wirtschaftspolitischen Absichten vermischt, ohne zu konkretisieren, was Ökotourismus ist, wo er anfängt und wo er aufhört.
Der Begriff Ökotourismus hatte damit als Instrument in einer Vielzahl von Plänen zum Naturschutzmanagement und zur nachhaltigen Entwicklung Eingang gefunden, bevor der eigentliche Aushandlungsprozess über Grenzen und Definitionen stattgefunden hat.
Der rhetorische Gebrauch machte Mittelamerika quasi über Nacht zu „world’s number one ecotourism destination“ und öffnete zugleich die Türen für Willkür und Missbrauch.

Beispiel Costa Rica

In Costa Rica, dem Vorzeigebeispiel für Ökotourismus, sind Regenwaldzerstörung und Tourismuswachstum gegenläufig. Umso größer ist jetzt die Hoffnung, den Naturschutz über Einnahmen wie Parkgebühren oder Bezahlung von Touristenführern finanzieren zu können.
Ein gelungenes Beispiel scheint hier das Reservat Monteverde, wo 3,5 US-Dollar pro Hektar und Jahr an Einnahmen circa 3,6 US-Dollar an Ausgaben für das Schutzgebietsmanagement gegenüberstehen. Doch der Landesdurchschnitt der anderen 45 Parks ist ernüchternd. Hier kommen nur 0,25 US-Dollar an Einnahmen auf 18,5 US-Dollar Ausgaben – eine Finanzierung des Schutzes scheint völlig illusorisch. Selbst in Monteverde ist die Zukunft des Schutzgebietes so ungewiss wie die wirtschaftlichen Aussichten für die lokale Bevölkerung. Während die Canopy-Tours, die zu 90 Prozent in ausländischer Hand sind, das „sanfte Gondeln mit der Schwebebahn von Baum zu Baum durchs Urwalddach“ als exklusiven Regenwaldschutz-Tourismus anpreisen, sind die ökologischen Auswirkungen auf diesen bisher wenig erforschten Kronenbereich nicht abzuschätzen.
Die Begrenzung auf 100 Besucher täglich ist eine willkürliche Zahl – es gibt keine Erfahrungswerte für den Beginn einer Schädigung des Regenwaldes oder Erkenntnisse aus anderen Gebieten, die übertragbar wären.
Schon plädiert der Vizepräsident der Tourismusvereinigung für 400 BesucherInnen täglich. In einem lokalen Komitee versuchen sich fortschrittsgläubige und entwicklungsskeptische Kräfte gegenseitig zu überzeugen. Santa Elena, ein nahegelegenes Schutzgebiet, konnte dem Druck erst einmal ausweichen, doch auch hier gibt es bereits 12.000 TouristInnen jährlich. Die Besucherzahlen steigen ständig und die angebotenen Touren sind so teuer, dass sich die CostaricanerInnen einen Besuch nicht leisten können. Nicht alle in Monteverde profitieren vom Tourismus. Die Grundstückspreise rund um das Reservat sind enorm gestiegen, viele Bauern werden zu landlosen Saisonarbeitern. 50 Prozent der Unterkünfte und Hotels sind in ausländischer Hand.
Währenddessen ereifern sich Tourismusfachleute über ökologische und soziale Standards. Sie handeln Belastungsgrenzen aus, überschütten den Markt mit einer für die Reisenden völlig unübersichtlichen Menge an Gütesiegeln, die sich kleine, lokale Anbieter selten leisten können und die eher den Großen der Branche das Image aufpolieren. Dabei überschattet die Kontroverse um ökologische und soziale Aspekte die entscheidende Tatsache, dass sich der Ökotourismus primär an marktwirtschaftlichen Rahmenbedingungen misst.
Gerade bei der Vermarktung der Natur tritt eine zweifache Abhängigkeit des Südens vom Norden in Erscheinung. Während die biologische Vielfalt im Süden zu finden ist, bleibt der Ökotourismus auf die Kaufkraft der TouristInnen aus dem Norden angewiesen – und ebenso auf Investitionen zum Aufbau einer ökotouristischen Infrastruktur. Das ökologische und das wirtschaftliche Risiko, dass dieses Wagnis schief gehen kann, trägt allein der Süden.

Dilemma im Ökotourismus

Damit wird das Dilemma im Ökotourismus deutlich: Meist handelt es sich um kleinere Projekte, die oft wenig Vorstellungen von Tourismus und den Erwartungen der TouristInnen haben. Zudem liegen sie häufig in entlegenen Gebiete und damit schwer zugänglich für Reisende. Aus ökonomischer Sicht bleibt der große Erfolg daher oft aus. Auf der anderen Seite bedeutet zu großer Erfolg ebenso eine Gefährdung der Schutzziele – die Galapagos Inseln geben inzwischen ein trauriges Beispiel dafür ab. Denn ein erfolgreiches Ökoreiseziel zieht nicht nur (zu) viele TouristInnen an, sondern auch InländerInnen auf der Suche nach Arbeitsmöglichkeiten.
Damit stellt sich die eingangs aufgeworfene Frage von neuem: geht die Verbindung von Ökologie und Ökonomie im Ökotourismus auf? Gibt es diesen schmalen Grat der Balance zwischen effektivem Schutz und erfolgreichem Nutzen tatsächlich? Oder ist er vielleicht erträumte, herbeigeredete Illusion?
Ökotourismus hat bisher noch nicht beweisen können, wie er die ihm inhärenten Widersprüche lösen kann. Wie soll diese Reiseform ein Instrument nachhaltiger Entwicklung sein, solange es noch keine Alternativen zum Flugverkehr gibt? Denn jedeR ÖkotouristIn ist nur im Naturschutzgebiet öko – solange die BesucherInnen im Flugzeug eingeflogen werden, wird jede Rede vom ökologischen Reisen zur Absurdität.
Bisher konzentrieren sich die meisten Projekte darauf, neue Gebiete (öko)touristisch zu erschließen – eine Ökologisierung des bestehenden Tourismus wird dagegen kaum ernsthaft angegangen. Die Wirtschaftsbranche Tourismus ist ihren Wachstumsimperativen unterworfen, sie muss immer neue Angebote auf den Markt bringen. Derzeit droht Ökotourismus lediglich eine neue Seite im Katalog der Tourismusindustrie zu öffnen. Am Rest des Kataloges ändert sich damit wenig.

Die Autorinnen sind Mitarbeiterinnen bei FernWeh, Forum Tourismus & Kritik im iz3w (Informationszentrum 3. Welt, Freiburg).


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