Neun Jahre ohne Aufklärung
Protestierende fordern zum Jahrestag der Gewalttat von Ayotzinapa Fortschritte in den Ermittlungen
„Sie sind nicht verschwunden, sie wurden uns genommen.” Davon zeigt sich Cristina Bautista in Alpoyecancingo, einem Náhuatl-Dorf in den rauen Bergen des Bundesstaates Guerrero, überzeugt. Bautista ist alleinerziehende Mutter in einer der ärmsten und gewaltvollsten Gegenden Mexikos. Seit neun Jahren ist sie zudem im Kampf für Wahrheit und Gerechtigkeit für die „verschwundenen“ Studenten von Ayotzinapa aktiv. Regelmäßig nimmt sie beschwerliche Wege auf sich, um sich an der Organisation von Protesten zu beteiligen. Cristina ist die Mutter von Benjamín Bautista. Ihr ältester Sohn ist einer der 43 Studierenden, die seit Ende September 2014 als verschwunden gelten.
In der Nacht vom 26. auf den 27. September 2014 waren 43 Normalistas, Lehramtsstudenten der Escuela Normal Rural de Ayotzinapa, in gekaperten Reisebussen auf dem Weg nach Mexiko-Stadt. Dort wollten sie an einer Demonstration in Gedenken an das „Massaker von Tlatelolco“, das der Staat 1968 an der Studierendenbewegung verübt hatte, teilnehmen. In der Stadt Iguala stoppten schwerbewaffnete Polizisten die Busse und griffen deren Insassen an. Drei Studenten und drei Unbeteiligte starben noch in derselben Nacht – getötet von sogenannten Sicherheitskräften, wohl auch mit illegal erworbenen Waffen aus deutscher Produktion.
Sechs Normalistas überlebten den Angriff, 43 gelten seither als verschwunden. Es wird davon ausgegangen, dass sie von staatlichen Einsatzkräften verschleppt und später an die kriminelle Gruppe Guerreros Unidos übergeben wurden. Auch soll das Militär zugegen und über die Vorgänge informiert gewesen sein. Der genaue Tathergang und die Motive sind jedoch nach wie vor unklar. Mehrere Zeug*innen wurden im Zuge der Ermittlungen ermordet, Aussagen nachweislich durch Folter erzwungen. Einst ermittelnde Beamte befinden sich mittlerweile selbst in Haft oder auf der Flucht. Der damalige Generalstaatsanwalt Jesús Murillo Karam sitzt seit 2022 wegen Manipulation der Ermittlungen, Folter und Beteiligung an der Entführung im Gefängnis. Der damalige Leiter der im Fall ermittelnden Kriminalpolizei, Tomás Zerón, befindet sich auf der Flucht. Ihm wird vorgeworfen, Beweise gefälscht und Zeug*innenaussagen durch Folter erzwungen zu haben.
Laut der kurz nach der Tat von den Ermittlungsbehörden als „historische Wahrheit” präsentierten Version gerieten die Studierenden in eine Auseinandersetzung zwischen kriminellen Gruppen und wurden dabei getötet. Auch korrupte Polizeieinheiten seien beteiligt gewesen. Anschließend seien die Leichen der Studenten verbrannt worden. Ziel dieser Darstellung war es, die Ereignisse als lokales Problem darzustellen und die Ermittlungen abzuwürgen, bevor sie weitergehende staatliche Verstrickungen ans Licht bringen konnten.
Anders als es in der vorherrschenden Berichterstattung erscheint, handelt es sich beim „Fall Ayotzinapa“ nicht nur um einen Kriminalfall. Der Bundesstaat Guerrero, in dem Ayotzinapa liegt, ist einer der ärmsten und gewaltvollsten in Mexiko. Die Ursprünge der Gewalt liegen unter anderem in dem sogenannten Guerra Sucia (Schmutzigen Krieg). Ungefähr von 1960 bis 1990 versuchte der Staat mit terroristischen Mitteln, die soziale Basis oppositioneller Bewegungen zu zerstören. Zur Zielscheibe wurde die arme und oft indigene Bevölkerung. Mit der Eskalation des sogenannten Drogenkrieges kam ab 2006 ein weiterer Aspekt hinzu.
Im Rahmen des schmutzigen Krieges gerieten auch die Escuelas Normales Rurales ins Visier des Staates. Ihr Ursprung liegt im postrevolutionären Mexiko der 1920er Jahre. Ihr Ziel ist die „Bildung der Massen“, was auch an sozialistischen Idealen orientiert ist. Die Studierenden der Internate kommen aus marginalisierten Verhältnissen und sind oft indigen. Nach ihrer Ausbildung kehren sie in ihre Ursprungsgemeinden zurück.
„Sie sind nicht verschwunden, sie wurden uns genommen.”
Nach dem „Verschwinden“ der Studenten von Ayotzinapa kam es in ganz Mexiko zu großen Mobilisierungen. In Guerrero wurden 28 Regierungsgebäude besetzt und Straßen blockiert. In der Hauptstadt Chilpancingo ging der Regierungspalast in Flammen auf, Demonstrierende drangen in Militäreinrichtungen ein. In Mexiko-Stadt kam es zu Massendemonstrationen und der Errichtung von teils mehrmonatigen Protestcamps und Straßenblockaden. Mit dem Amtsantritt von Präsident Andrés Manuel López Obrador 2018 verbanden Angehörige und Aktivist*innen zunächst Hoffnungen. Im Wahlkampf hatte er versprochen, sich für schonungslose Aufklärung und ein Ende der Straflosigkeit für Polizei und Militär einzusetzen.
Tatsächlich wurden die Ermittlungen zunächst wieder aufgenommen. Die Wahrheitskommission der Regierung (COVAJ) formierte sich neu und die Bedingungen für die Arbeit der international besetzten unabhängigen Expert*innengruppe (GIEI, Grupo Interdisciplinario de Expertos Independientes) der Interamerikanischen Menschenrechtskommission wurden verbessert. Sie sprechen mittlerweile von einem „Staatsverbrechen“, an dem Gemeindepolizei, Bundesstaatspolizei, Bundespolizei, Ministerialpolizei, Armee und Marine beteiligt gewesen seien.
Die Expert*innenkommission hat sechs Ermittlungsberichte vorgelegt, laut denen die Studierenden von Ayotzinapa bereits seit Jahren vom Militär und dem Nachrichtendienst überwacht worden waren. Es seien sogar zwei Spitzel in das Internat eingeschleust worden, von denen einer selbst Opfer der Tat wurde. Die militärischen Befehlshaber seien in Echtzeit über das Geschehen informiert gewesen. Agenten des militärischen Nachrichtendienstes verfolgten die Studenten ab dem Zeitpunkt, als sie in Iguala ankamen. Mehrere Militärpatrouillen wurden zu den Orten entsandt, an denen die Studenten angegriffen wurden. Auch direkte Kontakte zwischen Polizei und der mutmaßlich verantwortlichen kriminellen Gruppe sind erwiesen. Das Militär hörte die Telefone von Mitgliedern der Guerreros Unidos und der Präventivpolizei von Iguala ab. Auch wurde ein Gespräch zwischen dem Anführer der kriminellen Bande und einem Polizisten aufgezeichnet, in dem erwähnt wird, dass 17 Studenten zu einem Grab außerhalb der Stadt gebracht werden sollen.
Auf Grundlage der Ermittlungsergebnisse wurden im vergangenen Jahr 83 Haftbefehle ausgestellt, unter anderem gegen hochrangige Mitglieder in Militär, Polizei, Politik und Justiz. So wird dem damaligen Brigadekommandeur und späteren General José Rodríguez Pérez vorgeworfen, die Hinrichtung von mindestens sechs Normalistas befohlen zu haben. Sein Vorgesetzter und späterer Stabschef der Nationalen Verteidigung, General Alejandro Saavedra Hernández, soll genau über das Geschehen informiert gewesen sein.
Trotzdem behindert insbesondere das Militär die Untersuchungen weiter. 16 der gegen Militärs gerichteten Haftbefehle wurden zwischenzeitlich wieder annulliert. Im Mai wurde der damalige Bürgermeister von Iguala, José Luis Abarca, dessen Familie über enge Verbindungen zum organisierten Verbrechen verfügen soll, zunächst verurteilt, kurz darauf jedoch von einer höheren Instanz wieder freigesprochen.
Das Vertrauen der Angehörigen der 43 Studenten in die Regierung von López Obrador hat sich mittlerweile in Frust und Enttäuschung gewandelt. „Sie stehen auf der Seite des Militärs, aber sie sollten auf der Seite der Opfer stehen”, so die Einschätzung nach einem Treffen mit dem Präsidenten während der Protesttage im September. Der hatte zuvor die Armee verteidigt und Unterstützer*innen und Menschenrechtsorganisationen unterstellt, im Bund mit internationalen Organisationen seiner Regierung schaden zu wollen und vom Leid der Opfer finanziell zu profitieren.
Ende Juli hatte die unabhängige Expert*innenkommission, die sich das Vertrauen der Angehörigen erarbeitet hat, ihre Arbeit unverrichteter Dinge abgebrochen, da die Verweigerungshaltung der Armee eine konsequente Aufklärung verunmögliche. Zudem übte sie heftige Kritik an der Regierung, die sich weigere, die Armee dazu zu bewegen, der Untersuchungskommission Zugriff auf nötige Informationen zu verschaffen und Dokumente herauszugeben. Nach dem Aus der Kommission erklärten Angehörige: „Die Regierung muss sich entscheiden, auf welcher Seite sie steht: auf Seiten der Lügen der Armee oder auf der Seite der Familien und der Wahrheit.“
„Wir sind hier, weil die Militärs für das Verschwinden der Jugendlichen verantwortlich sind.“
Angesichts der Blockadehaltung der Regierung setzen die Angehörigen mittlerweile vor allem auf den Druck der Straße. Im September reisten Normalistas aller 16 Schulen des Landes nach Mexiko-Stadt, um gemeinsam mit den Angehörigen und Vertreter*innen sozialer Bewegungen eine lückenlose Aufklärung des Falls zu fordern. Auch in anderen Städten des Landes wurde demonstriert. In den Tagen zuvor war es zu Auseinandersetzungen in Chilpancingo gekommen.
In der Hauptstadt besetzten die Protestierenden symbolträchtig die Zufahrt zur Militärbasis Nr. 1 und Errichteten ein Protestcamp. „Wir sind hier, weil sie für das Verschwinden der Jugendlichen verantwortlich sind. Sie haben Zeugenaussagen manipuliert und uns angelogen. Wir wollen die Wahrheit wissen. Wir werden weiterhin unsere Stimme erheben, damit die Regierung reagiert“, erklärte Melitón Ortega, Onkel von Mauricio Ortega Valerio, einem der vermissten Studenten.
Zum Höhepunkt der Proteste demonstrierten am Abend des 26. September, des neunten Jahrestages der Gewalttat, mehrere tausend Menschen mit einer kraftvollen Demonstration in Mexiko-Stadt. Am von Aktivist*innen errichteten „Antimonument +43“ las Cristina Bautista die Namen aller „verschwundenen“ Studenten von Ayotzinapa sowie der drei Studenten vor, die an dem Tag von Einsatzkräften in Iguala getötet worden waren. Zum Abschluss enthüllte sie eine Gedenktafel, auf der die Notwendigkeit von Wahrheit und Gerechtigkeit betont wird. Ans Aufgeben denkt Bautista auch neun Jahre nach dem Verbrechen nicht: „Lebend haben sie sie uns genommen, lebend wollen wir sie zurück!”