Niederlage im Frieden
Niederlage im Frieden
Regierungsbeteiligung als Knackpunkt
Für Rafael Vergara Navarro, gescheiterter Kandidat der Partei für den Senat, beginnt der Abstieg der AD-M19 bereits unmittelbar nach den Wahlen vor vier Jahren: Sündenfall war seiner Ansicht nach der Eintritt von Antonio Navarro Wolff als Gesundheitsminister in die Regierung des liberalen Präsidenten Gaviria.
In das gleiche Horn stößt auch Jorge Child, Ökonomie-Professor und ständiger Kolumnist der angesehenen Tageszeitung El Espectador, der der Kommunistischen Partei Kolumbiens nahesteht. Mit dem Eintritt in die Regierung sei die AD-M19 sozusagen mit fliegenden Fahnen zum Gegner übergelaufen. Ein anderer Kommentator bezichtigt Navarro Wolff gar des Betruges, weil er sich von den traditionellen Kräften habe vereinnahmen lassen und seine persönlichen Interessen über die der Bewegung und der Hoffnungen der WählerInnen gestellt habe.
Die AD-M19 hatte im Mai 1990 rund 700.000 Stimmen auf sich vereinigen können. Die Beteiligung an der Regierung hat nach der Auffassung von Jorge Child die WählerInnnen der AD-M19 enttäuscht. Sie hätten die AD-M19 gewählt, weil sie mit ihrem sozialen Profil anders als die traditionellen Parteien zu sein versprach, die vor allem auf die Besetzung von Posten und Ämtern in Regierung und Verwaltungen erpicht sind. Die Altparteien, die Liberale und die Konservative Partei, teilten sich seit Jahrzehnten die Macht im Land, und so waren Cliquenwirtschaft und Korruption die Regel.
In der damaligen politischen Situation gab es aber wohl keine Alternative zur Regierungsbeteiligung. Die AD-M19 hatte die Waffen niedergelegt, um in dem seit Jahrzehnten polarisierten Land einen Friedensprozeß einzuleiten. In diesem Sinne, so die Interpretation von Eduardo Chávez, bis zum Ende der Legislaturperiode Senator der AD-M19, “war die Partei in der Verpfichtung, den Frieden zu konsolidieren und zu beweisen, daß friedliches Zusammenleben möglich ist.” Er selbst erhielt – aus der Guerilla in seine Heimatstadt Cali zurückgekehrt – mehrere Monate lang täglich mehrfach Morddrohungen. Die Partei wollte beweisen, daß auch andere Kräfte das Land regieren können. Die Regierungsbeteiligung war Suche nach Konsens, nach einer “geistigen Entwaffnung” des Landes im Interesse des Friedens.
Fehlendes Profil
Ex-Gesundheitsminister Antonio Navarro Wolff kennt den Vorwurf der Korrumpierung durch den Ministerposten und des damit verbundenen Glaubwürdigkeitsverlustes seiner Partei sehr genau. Von sich aus kommt er als erstes auf diese Vorwürfe zu sprechen. Er verweist auf die Wahlergebnisse: In seiner Zeit als Minister seien die Stimmen für die Partei von 700.000 im Mai auf rund 1 Million bei den Wahlen im Herbst 1990 zur Verfassungsgebenden Versammlung gesteigert worden. Offenkundig sei das Ansehen der Partei in dieser Zeit gewachsen. “Dies hatte mit der praktischen Politik als Gesundheitsminister zu tun.”
Als Hauptproblem der Partei in den letzten eineinhalb Jahren der Opposition macht Navarro Wolff dagegen den Mangel an einem klaren Profil aus: “Das Problem ist nicht, ob wir in der Regierung sind oder in der Opposition. Entscheidend ist, daß wir den Unterschied erfahrbar machen. Wenn man sich in der Regierung nicht von den anderen unterscheiden kann, muß man raus.” Unnütz sei eben aber auch eine inaktive Opposition.
Den letzten Punkt kritisiert auch Jorge Child. Er verweist auf das Projekt der Sozialversicherung (mit Renten- und Krankenversicherung für einen großen und wachsenden Teil der Bevölkerung), das in den letzten zwei Jahren ein zentraler Gegenstand der öffentlichen und parlamentarischen Debatte war. “In dieser sehr wichtigen Debatte war die Position der AD-M19 wenig klar. Weder die Senatoren noch die Mitglieder des Repräsentantenhauses haben sich daran beteiligt. In diesem Moment haben sie sehr viel Glaubwürdigkeit verloren.”
Den Vorwurf mangelnder aktiver Beteiligung gerade an diesem wichtigen sozialpolitischen Projekt weist die Senatorin Vera Grabe, eine der bekanntesten und populärsten Persönlichkeiten der AD-M19, entschieden zurück.
“Wir haben nur eine andere Position als die traditionelle Linke. Wir haben nie, auch nicht als Guerilla, nur Opposition gemacht und kritisiert, sondern immer Lösungsvorschläge unterbreitet. Selbst die konservativen Parteien und viele Leute erkennen an, daß das Gesetz zur Sozialversicherung schlechter wäre, hätten wir nicht mit Vorschlägen und Lösungen konstruktiv daran mitgearbeitet.”
Viele Listen, wenig Stimmen
Die Aufsplitterung in zu viele Listen gilt übereinstimmend als eine Ursache des Wahldesasters. Die Ex-Guerilleros konnten insgesamt mehr als 150.000 Stimmen auf sich vereinigen (unter Berücksichtigung einiger Einzelkandidaturen sogar noch 100.000 mehr). Andere Listen gewannen mit 30.000 Stimmen einen sicheren Platz im Senat. Aber: Die Allianza war mit 13 verschiedenen Listen im ganzen Land angetreten. Das Debakel war programmiert. Was den großen Altparteien – mit ihrer Vielfalt von Richtungen und Flügeln, regionalen Patriarchen und Gruppen – genützt hatte, hat der AD-M19 das Genick gebrochen. Vera Grabe: “Was wir als eine Vielfalt geplant hatten, haben die Leute als Uneinigkeit interpretiert.”
Mit einer einzigen Liste angetreten, hätte die AD-M19 bis zu 5 Senatssitze gewinnen können. Die Wahlschlappe wäre nicht so verheerend gewesen. Zu erklären blieben jedoch auch dann die deutlichen Stimmenverluste von 700.000 auf 150.000.
Zu viel persönlicher Ehrgeiz…
Die Vielzahl der Listen hat mit einer Auseinandersetzung in der Partei zu tun, die an frühere Konflikte bei den Grünen in der BRD erinnert. Es gab ein schriftliches Versprechen der AD-M19 SenatorInnen, nicht wieder zu kandidieren, sofern sie nicht ausdrücklich von der Partei zur erneuten Kandidatur aufgefordert würden. Zu viele der einmal Gewählten fanden das Leben als Abgeordnete aber wohl zu interessant und kandidierten erneut. Ob mensch sich da halt versprochen hatte? Oder war es schlicht Existenzangst? Denn was macht ein Ex-Guerillero in einem Land, in dem die Hälfte der Bevölkerung sich den Lebensunterhalt im informellen Sektor verdienen muß.
…und zu wenig Disziplin
Die Solidarität, die in der Gruppe zur Zeit der Guerilla vorhanden war, hat sich im Kongress aufgelöst und ist einem weitverbreiteten Individualismus gewichen. Im Krieg war mensch noch aufeinander angewiesen, im Frieden nicht mehr. Antonio Navarro Wolff sagt, es habe keine Disziplin bei den ParlamentarierInnen geherrscht. “Im Parlament gab es keine Leitung und keine einheitliche öffentliche Selbstdarstellung.” Dies habe dem Ansehen der Partei sehr geschadet. Vera Grabe hält einen solchen Prozeß der Individualisierung innerhalb der Führungsruppe, den sie als Entwicklung einer gewissen Vielfalt bezeichnet, allerdings für unvermeidlich. Konsequenz der vielen Jahre in der Guerilla, in der ausschließlich das Prinzip der totalen Gemeinsamkeit habe herrschen müssen.
Laut Navarro Wolff war es auch nicht möglich, eine von den ParlamentarierInnen unabhängige Parteistruktur aufzubauen. Unter anderem deshalb nicht, weil sie, die für kolumbianische Verhältnisse sehr hohe Einkommen haben, nicht bereit waren, Gelder für die Parteiarbeit zu Verfügung zu stellen.
Eduardo Chávez, ehemaliger Senator der AD-M19, sieht eine zu starke Konzentration auf die Arbeit im Parlament. “Wir haben die Dynamik des alltäglichen Kampfes der Bürger vernachlässigt. Das hat eine Art Isolierung zwischen der Führung und dem normalen Bürger geschaffen, der von der Führung erwartet hatte, sie werde sich mehr um ihre alltäglichen Aktivitäten und Sorgen kümmern.”
Dabei scheint es inhaltlich weiterhin viele gemeinsame Positionen zu geben. Die Partei kritisiert die neoliberalen Wirtschaftskonzepte, die einseitige wirtschaftliche Öffnung des Landes von einem Tag auf den anderen durch die (neo)liberale Regierung Gaviria. Diese plötzliche Öffnung für Importe hat die einheimische Industrie und Landwirtschaft einem Wettbewerb ausgesetzt, der ihr schwer zu schaffen macht.
Gemeinsam tritt die AD-M19 für die Fortsetzung des Friedensprozesses mit der Guerilla ein. Ebenso stehen soziale Entwicklung, die Bewahrung der genetischen Vielfalt von Pflanzen und Tieren und umweltverträgliches Wirtschaften auf der Tagesordnung.
Die Liberalen – die großen Sieger
Die Liberalen sind nach den Wahlen vom März 1994 stärkste Fraktion und beherrschen den Kongreß. Besonders erfolgreich waren die AnhängerInnen des liberalen Präsidentschaftskandidaten Ernesto Samper, der – so die Umfrageergebnisse Mitte April – der nächste Präsident Kolumbiens sein wird. Er verspricht den KolumbianerInnen einen sozialen Kapitalismus, setzt auf die menschliche Arbeitskraft und will eineinhalb Millionen Arbeitsplätze schaffen. Der Staat soll wieder stärker eine soziale Funktion übernehmen. Wobei – wie Jorge Child sagt – Samper keineswegs die Eckpunkte des Neoliberalismus, wie Internationalisierung oder Privatisierung negiert, sondern nur einige Korrekturen vornehmen will. Die letzten Wahlergebnisse jedenfalls scheinen zu zeigen, daß das Versprechen eines sozialen Kapitalismus vielen KolumbianerInnen attraktiver erscheint, als die Kritik an der wirtschaftlichen Öffnung, wie die AD-M19 sie vertritt.
Trübe Aussichten
Die Allianza Democrática-M19 hat mit dem Wahldebakel ihren bisherigen Zugang zu den Medien verloren. Sie hat kein Geld. Was also bleibt? Jorge Child sagt ohne wenn und aber ihr Ende voraus: “Die Demokratische Allianz ist dabei auseinanderzufallen. Ein Teil dieses Prozesses hat auch mit der persönlichen Diktatur des Parteichefs zu tun.” Auch anderen Bewegungen, die sich in Kolumbien als sogenannte Dritte Kraft etablieren wollten, sei dieser Prozeß nicht erspart geblieben. Er erwartet, daß viele Aktivisten von den traditionellen Parteien aufgesogen werden, vor allem deshalb, weil diese Angebote für qualifizierte Leute machen. Die Liberalen seien ebenso wie die Konservativen nach außen sehr flexibel, mit verschiedenen Flügeln, die teilweise auch fortschrittlichere Positionen vertreten und Reformkräften offenstehen.
An eine Zukunft kann die AD-M19 wohl überhaupt nur denken, wenn sie ihre Strategie ändert und sozusagen an der Basis wieder neu beginnt. Navarro Wolff: “Viele unserer Generäle müssen sich die Sterne abnehmen – und die Rolle der einfachen Soldaten erfüllen.” Notwendig sei eine Restrukturierung der Partei, der Aufbau einer funktionierenden Parteiorganisation. Notwendig sei ferner eine von allen bewußt akzeptierte Disziplin.
Vor allem aber muß sich die Partei auf lokaler Ebene in den Städten und Regionen als politische Kraft installieren. Vera Grabe: “Das ist der Moment, nach neuen Formen der zivilen. friedlichen Aktion zu suchen. Politik im institutionalisierten Rahmen zu machen hat, wie wir gesehen haben, seine Kosten. Das hat den Leuten oft nicht gefallen. Es liegt jetzt an uns, auf regionaler und lokaler Ebene für soziale Angelegenheiten zu kämpfen.”
Rückfall in den “bipartidismo”
Die Demokratische Allianz AD-M19 steckt in einer schweren Krise, die ihr Aus bedeuten kann. Die Schwäche der AD-M19 bedeutet für die KolumbianerInnen: weiterhin bleibt das traditionelle Zwei-Parteien-System beherrschend und mit ihm der fortgesetzte Kauf von Stimmen. Alte Seilschaften statt mehr Bürgerbeteiligung und Demokratie. Keine Opposition und keine Kontrolle der Herrschenden. Schade – für Kolumbien.