Kolumbien | Nummer 239 - Mai 1994

Niederlage im Frieden

Niederlage im Frieden

Die ehemalige Guerillaorganisation Allianza Democrática-M19 (AD-M19) hat ihre Rolle als “Dritte Kraft” im kolumbianischen Kongress (Senat und Reprä­sentantenhaus) fast vollends eingebüßt. Lediglich ein Sitz im Repräsentanten­haus bildete die karge Ausbeute bei den Kongreßwah­len im März. Bei ihrem er­sten Auftritt auf der parlamentarischen Bühne im Mai 1990 konnte die AD-M19 noch 9 Sitze im Senat und 13 im Repräsentan­tenhaus verbuchen. Ein Er­folg, der sich bei den Wahlen zur Verfassungsge­benden Versammlung im Herbst desselben Jahres bestätigte, als sie ihren Stimmenanteil noch ausbauen konnte. Nach der Wahlschlappe sind die Aussichten für den Parteichef Antonio Navarro Wolff bei den Präsident­schaftswahlen Ende Mai ebenso trübe wie die Perspektiven für die Partei insge­samt. Die Wahlanalyse brachte innerhalb wie außerhalb der Partei unter­schiedliche Erklärungsansätze zutage, die hier be­leuchtet werden sollen.

Rolf Möller

Regierungsbeteiligung als Knackpunkt

Für Rafael Vergara Navarro, gescheiterter Kandidat der Partei für den Senat, beginnt der Abstieg der AD-M19 bereits unmittel­bar nach den Wahlen vor vier Jahren: Sündenfall war seiner Ansicht nach der Eintritt von Antonio Navarro Wolff als Gesundheitsminister in die Regierung des liberalen Präsidenten Gaviria.
In das gleiche Horn stößt auch Jorge Child, Ökonomie-Professor und ständiger Kolumnist der angesehenen Tageszeitung El Espectador, der der Kommunistischen Partei Kolumbiens nahesteht. Mit dem Eintritt in die Regierung sei die AD-M19 sozusagen mit fliegenden Fahnen zum Gegner übergelaufen. Ein anderer Kom­mentator bezichtigt Navarro Wolff gar des Betruges, weil er sich von den traditio­nellen Kräften habe vereinnahmen lassen und seine persönlichen Interessen über die der Bewegung und der Hoffnungen der WählerInnen gestellt habe.
Die AD-M19 hatte im Mai 1990 rund 700.000 Stimmen auf sich vereinigen können. Die Beteiligung an der Regierung hat nach der Auffassung von Jorge Child die Wäh­lerInnnen der AD-M19 ent­täuscht. Sie hätten die AD-M19 gewählt, weil sie mit ihrem sozialen Profil anders als die tradi­tionellen Parteien zu sein ver­sprach, die vor allem auf die Besetzung von Posten und Ämtern in Regierung und Verwaltun­gen erpicht sind. Die Altpar­teien, die Li­berale und die Konservative Partei, teilten sich seit Jahrzehnten die Macht im Land, und so waren Cliquen­wirtschaft und Kor­ruption die Regel.
In der damaligen politischen Situation gab es aber wohl keine Alternative zur Regie­rungsbeteiligung. Die AD-M19 hatte die Waffen niedergelegt, um in dem seit Jahr­zehnten polarisierten Land einen Friedens­prozeß einzuleiten. In diesem Sinne, so die Interpretation von Eduardo Chávez, bis zum Ende der Legislaturperiode Se­nator der AD-M19, “war die Partei in der Verpfichtung, den Frieden zu konsolidie­ren und zu beweisen, daß friedliches Zu­sammenleben möglich ist.” Er selbst er­hielt – aus der Guerilla in seine Heimat­stadt Cali zurückgekehrt – mehrere Mo­nate lang täglich mehrfach Mord­drohungen. Die Partei wollte bewei­sen, daß auch andere Kräfte das Land re­gieren können. Die Regierungsbeteiligung war Suche nach Konsens, nach einer “gei­sti­gen Entwaffnung” des Landes im Inte­resse des Friedens.

Fehlendes Profil

Ex-Gesundheitsminister Antonio Navarro Wolff kennt den Vorwurf der Korrumpie­rung durch den Ministerposten und des damit verbundenen Glaubwürdigkeits­ver­lustes seiner Partei sehr genau. Von sich aus kommt er als erstes auf diese Vor­würfe zu sprechen. Er verweist auf die Wahlergebnisse: In seiner Zeit als Mini­ster seien die Stimmen für die Partei von 700.000 im Mai auf rund 1 Million bei den Wahlen im Herbst 1990 zur Verfas­sungsgebenden Versammlung gesteigert worden. Offenkundig sei das Ansehen der Partei in dieser Zeit gewachsen. “Dies hatte mit der praktischen Politik als Ge­sundheitsminister zu tun.”
Als Hauptproblem der Partei in den letz­ten eineinhalb Jahren der Opposition macht Navarro Wolff dagegen den Man­gel an einem klaren Profil aus: “Das Pro­blem ist nicht, ob wir in der Regierung sind oder in der Opposition. Entscheidend ist, daß wir den Unterschied erfahrbar ma­chen. Wenn man sich in der Regierung nicht von den anderen unterscheiden kann, muß man raus.” Unnütz sei eben aber auch eine inaktive Opposition.
Den letzten Punkt kritisiert auch Jorge Child. Er verweist auf das Projekt der So­zialversicherung (mit Renten- und Kran­kenversicherung für einen großen und wachsenden Teil der Bevölkerung), das in den letzten zwei Jahren ein zentraler Ge­genstand der öffentlichen und parlamenta­rischen Debatte war. “In dieser sehr wich­tigen Debatte war die Position der AD-M19 wenig klar. Weder die Senatoren noch die Mitglieder des Repräsentanten­hauses haben sich daran beteiligt. In diesem Moment haben sie sehr viel Glaubwürdigkeit verloren.”
Den Vorwurf mangelnder aktiver Beteili­gung gerade an diesem wichtigen sozial­politischen Projekt weist die Senatorin Vera Grabe, eine der bekanntesten und populärsten Persönlichkeiten der AD-M19, entschieden zurück.
“Wir haben nur eine andere Position als die traditionelle Linke. Wir haben nie, auch nicht als Guerilla, nur Opposition gemacht und kritisiert, sondern immer Lö­sungsvorschläge unterbreitet. Selbst die konservativen Parteien und viele Leute erkennen an, daß das Gesetz zur Sozial­versicherung schlechter wäre, hätten wir nicht mit Vorschlägen und Lösungen kon­struktiv daran mitgearbeitet.”

Viele Listen, wenig Stimmen

Die Aufsplitterung in zu viele Listen gilt übereinstimmend als eine Ursache des Wahldesasters. Die Ex-Guerilleros konn­ten insgesamt mehr als 150.000 Stimmen auf sich vereinigen (unter Berücksichti­gung einiger Einzelkandidaturen sogar noch 100.000 mehr). Andere Listen ge­wannen mit 30.000 Stimmen einen siche­ren Platz im Senat. Aber: Die Allianza war mit 13 verschiedenen Listen im gan­zen Land angetreten. Das Debakel war programmiert. Was den großen Altpar­teien – mit ihrer Vielfalt von Richtungen und Flügeln, regionalen Patriarchen und Gruppen – genützt hatte, hat der AD-M19 das Genick gebrochen. Vera Grabe: “Was wir als eine Vielfalt geplant hatten, haben die Leute als Uneinigkeit interpretiert.”
Mit einer einzigen Liste angetreten, hätte die AD-M19 bis zu 5 Senatssitze gewin­nen können. Die Wahlschlappe wäre nicht so verheerend gewesen. Zu erklären blie­ben jedoch auch dann die deutlichen Stim­menverluste von 700.000 auf 150.000.

Zu viel persönlicher Ehrgeiz…

Die Vielzahl der Listen hat mit einer Aus­einandersetzung in der Partei zu tun, die an frühere Konflikte bei den Grünen in der BRD erinnert. Es gab ein schriftliches Versprechen der AD-M19 SenatorInnen, nicht wieder zu kandi­dieren, sofern sie nicht ausdrücklich von der Partei zur er­neuten Kandidatur auf­gefordert würden. Zu viele der einmal Gewählten fanden das Leben als Abgeordnete aber wohl zu in­teressant und kandidierten erneut. Ob mensch sich da halt versprochen hatte? Oder war es schlicht Existenzangst? Denn was macht ein Ex-Guerillero in einem Land, in dem die Hälfte der Bevölkerung sich den Le­bensunterhalt im informellen Sektor ver­dienen muß.

…und zu wenig Disziplin

Die Solidarität, die in der Gruppe zur Zeit der Guerilla vorhanden war, hat sich im Kongress aufgelöst und ist einem weitver­breiteten Individualismus gewichen. Im Krieg war mensch noch aufeinander an­gewiesen, im Frieden nicht mehr. Antonio Navarro Wolff sagt, es habe keine Diszi­plin bei den ParlamentarierInnen ge­herrscht. “Im Parlament gab es keine Lei­tung und keine einheitliche öffentliche Selbstdarstellung.” Dies habe dem Anse­hen der Partei sehr geschadet. Vera Grabe hält einen solchen Prozeß der Individuali­sierung innerhalb der Führungsruppe, den sie als Entwicklung einer gewissen Viel­falt bezeichnet, allerdings für unvermeid­lich. Konsequenz der vielen Jahre in der Guerilla, in der ausschließlich das Prinzip der totalen Gemeinsamkeit habe herrschen müssen.
Laut Navarro Wolff war es auch nicht möglich, eine von den ParlamentarierIn­nen unabhängige Parteistruktur aufzu­bauen. Unter anderem deshalb nicht, weil sie, die für kolumbianische Verhältnisse sehr hohe Einkommen haben, nicht bereit waren, Gelder für die Parteiarbeit zu Ver­fügung zu stellen.
Eduardo Chávez, ehemaliger Senator der AD-M19, sieht eine zu starke Konzentra­tion auf die Arbeit im Parlament. “Wir ha­ben die Dynamik des alltäglichen Kampfes der Bürger vernachlässigt. Das hat eine Art Isolierung zwischen der Füh­rung und dem normalen Bürger geschaf­fen, der von der Führung erwartet hatte, sie werde sich mehr um ihre alltäglichen Aktivitäten und Sorgen kümmern.”
Dabei scheint es inhaltlich weiterhin viele gemeinsame Positionen zu geben. Die Partei kritisiert die neoliberalen Wirt­schaftskonzepte, die einseitige wirtschaft­liche Öffnung des Landes von einem Tag auf den anderen durch die (neo)liberale Regierung Gaviria. Diese plötzliche Öff­nung für Importe hat die einheimische In­dustrie und Landwirtschaft einem Wett­bewerb ausgesetzt, der ihr schwer zu schaffen macht.
Gemeinsam tritt die AD-M19 für die Fort­setzung des Friedensprozesses mit der Guerilla ein. Ebenso stehen soziale Ent­wicklung, die Bewahrung der genetischen Vielfalt von Pflanzen und Tieren und umweltverträgliches Wirtschaften auf der Tagesordnung.

Die Liberalen – die großen Sieger

Die Liberalen sind nach den Wahlen vom März 1994 stärkste Fraktion und beherr­schen den Kongreß. Besonders erfolgreich waren die AnhängerInnen des liberalen Präsidentschaftskandidaten Ernesto Sam­per, der – so die Umfrageergebnisse Mitte April – der nächste Präsident Ko­lumbiens sein wird. Er verspricht den Kolumbiane­rInnen einen sozialen Kapita­lismus, setzt auf die menschliche Arbeits­kraft und will eineinhalb Millionen Ar­beitsplätze schaf­fen. Der Staat soll wieder stärker eine so­ziale Funktion übernehmen. Wobei – wie Jorge Child sagt – Samper keineswegs die Eckpunkte des Neolibera­lismus, wie In­ternationalisierung oder Privatisierung ne­giert, sondern nur einige Korrekturen vor­nehmen will. Die letzten Wahlergebnisse jedenfalls scheinen zu zeigen, daß das Versprechen eines sozia­len Kapitalismus vielen KolumbianerIn­nen attraktiver er­scheint, als die Kritik an der wirtschaftli­chen Öffnung, wie die AD-M19 sie vertritt.

Trübe Aussichten

Die Allianza Democrática-M19 hat mit dem Wahldebakel ihren bisherigen Zu­gang zu den Medien verloren. Sie hat kein Geld. Was also bleibt? Jorge Child sagt ohne wenn und aber ihr Ende voraus: “Die Demokratische Allianz ist dabei auseinan­derzufallen. Ein Teil dieses Prozesses hat auch mit der persönlichen Diktatur des Parteichefs zu tun.” Auch anderen Bewe­gungen, die sich in Kolumbien als soge­nannte Dritte Kraft etablieren wollten, sei dieser Prozeß nicht erspart geblieben. Er erwartet, daß viele Aktivisten von den tra­ditionellen Parteien aufgesogen werden, vor allem deshalb, weil diese Angebote für qualifizierte Leute machen. Die Libe­ralen seien ebenso wie die Konservativen nach außen sehr flexibel, mit verschie­denen Flügeln, die teilweise auch fort­schrittlichere Positionen vertreten und Re­formkräften offenstehen.
An eine Zukunft kann die AD-M19 wohl überhaupt nur denken, wenn sie ihre Strategie ändert und sozusagen an der Ba­sis wieder neu beginnt. Navarro Wolff: “Viele unserer Generäle müssen sich die Sterne abnehmen – und die Rolle der ein­fachen Soldaten erfüllen.” Notwendig sei eine Restrukturierung der Partei, der Auf­bau einer funktionierenden Parteiorgani­sation. Notwendig sei ferner eine von al­len bewußt akzeptierte Disziplin.
Vor allem aber muß sich die Partei auf lo­kaler Ebene in den Städten und Regionen als politische Kraft installieren. Vera Grabe: “Das ist der Moment, nach neuen Formen der zivilen. friedlichen Aktion zu suchen. Politik im institutionalisierten Rahmen zu machen hat, wie wir gesehen haben, seine Kosten. Das hat den Leuten oft nicht gefallen. Es liegt jetzt an uns, auf regionaler und lokaler Ebene für soziale Angelegenheiten zu kämpfen.”

Rückfall in den “bipartidismo”

Die Demokratische Allianz AD-M19 steckt in einer schweren Krise, die ihr Aus bedeuten kann. Die Schwäche der AD-M19 bedeutet für die KolumbianerInnen: weiterhin bleibt das traditionelle Zwei-Parteien-System beherrschend und mit ihm der fortgesetzte Kauf von Stimmen. Alte Seilschaften statt mehr Bürgerbeteili­gung und Demokratie. Keine Opposition und keine Kontrolle der Herrschenden. Schade – für Kolumbien.

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