Öl für die Unabhängigkeit
Die Regierung Lula überlegt, was sie mit dem plötzlichen Ölreichtum tun soll
Für den Präsidenten Brasiliens, Luiz Inácio „Lula“ da Silva, ist die Sache klar: „Wir feiern eine neue Unabhängigkeit!“ Und diese neue Unabhängigkeit Brasiliens habe einen Namen, einen Inhalt und eine Form, ergänzt er. „Der Name ist ‚pré-sal‘ der Inhalt sind die gigantischen Öl- und Gasfelder, entdeckt in den Tiefen unseres Meeres, und die Form sind die Gesetzespakete, die wir vor einigen Tagen dem Nationalkongress vorgelegt haben“, sagte Lula am 7. September, dem Tag der Unabhängigkeit Brasiliens, in einer Fernsehansprache den BrasilianerInnen. Diese Gesetze „werden garantieren, dass dieser Reichtum richtig verwendet wird, für Brasilien und für alle Brasilianer“, so Lula.
„Pré-Sal“ bezeichnet die gefundenen Erdöllagerstätten vor der brasilianischen Küste. Auf einer Länge von 800 Kilometern, vom Bundesstaat Espírito Santo bis nach Santa Catarina erstrecken sich die Ölfelder, bis zu 350 Kilometer vor der Küste – das heißt, sie befinden sich noch in dem Bereich, auf den Brasilien alleine Anspruch hat. In einer Wassertiefe von über dreitausend Metern und unter einer zwei bis drei Kilometern dicken Salz- und Gesteinsschicht – daher der Name „pré-sal“, „vor dem Salz“ – liegen schätzungsweise bis zu 100 Milliarden Barrel Öl sowie riesige Mengen an Erdgas.
Lula hatte dem Kongress Ende August vier Gesetzespakete zur Debatte und Verabschiedung vorgelegt – zunächst unter höchster Dringlichkeitsstufe: Abgeordnetenkammer und Senat hätten so 45 Tage Zeit zur Debatte, für Änderungsvorschläge und die Ratifizierung. Doch nach Protesten der Opposition hatte Lula dann die Dringlichkeit reduziert, Regierung und Opposition einigten sich auf den 10. November als Tag der Abstimmung. Doch Mitte Oktober wurde klar, dass auch dieser anvisierte Termin nicht einzuhalten wäre, wenn weiterhin diese Fülle an Änderungsvorschlägen der Abgeordneten eingehen. Deshalb schlugen Abgeordnete der Regierungskoalition vor, die Dringlichkeitsstufe erneut zu erhöhen. Wie genau weiter verfahren wird, stand zu Redaktionsschluss noch nicht fest.
Die vier Gesetzespakete sollen das weitere Vorgehen des Staates bei der Ausbeutung der Ölfelder regeln. Erstens soll das bisherige Konzessionssystem durch ein Verteilungssystem ersetzt werden, zweitens soll eine Staatsfirma – die Petro-Sal – geschaffen werden, die den Staat bei den bevorstehenden Verhandlungen mit Erdölunternehmen vertreten soll. Drittens soll ein Sozialer Entwicklungsfonds gegründet werden, in den die zu erwartenden Ölmilliarden fließen sollen. Das vierte und letzte Gesetzespaket soll die Kapitalerhöhung des Ölkonzerns Petrobras regeln.
Die zu gründende Petro-Sal soll der Gesetzesvorlage der Regierung zufolge nicht selbst die Ölförderung betreiben, sondern den Ölsektor regeln und die Unternehmen auswählen, die dann gemeinsam mit der Petrobras das Öl fördern werden. Dem neuen Staatsunternehmen kommt also die Aufgabe zu, die staatlichen Interessen zu vertreten. Der Soziale Entwicklungsfonds soll aus den Anlagegewinnen – so der Wunsch der Regierung – Bildung, Gesundheit- und Sozialausgaben finanzieren.
Dieses Modell für die Ausbeutung der neuen Ölfelder, das die Regierung vorschlägt, weicht somit stark von der bisherigen Praxis der Konzessionsvergabe in der Ölbranche ab. Gegenwärtig erwerben Ölkonzerne in Brasilien die Konzessionen und zahlen Royalties je Barrel geförderten Öls. Dies bleibt auch so bei allen brasilianischen Ölfeldern, die nicht im Pré-Sal liegen. Doch für das Pré-Sal will die Regierung neue Regeln einführen, da das Küstengebiet nicht durch das alte Erdölgesetz juristisch abgedeckt werde. „Das Konzessionsmodell, das 1997 angenommen wurde, passt nicht zu dieser neuen Situation“, meint Lula. Es wäre ein schwerer Fehler, erklärte er in seiner Fernsehansprache, dieses Regelung auch im Pré-Sal beizubehalten, denn „die Regelung wurde eingeführt, als wir noch nichts von den großen Vorkommen wussten, und das Land keine Kapazitäten hatte, sein Öl zu fördern.“
Nun plant die Regierung, dass der staatliche Konzern Petrobras mit jeweils mindestens 30 Prozent an der Ausbeutung jedes Feldes beteiligt wird. Diejenigen Ölkonzerne, die für die restlichen 70 Prozent dem Staat den höchsten Anteil zusagen, sollen bei den Ausschreibungen den Zuschlag erhalten. Das unternehmerische Risiko der Investition bei der Förderung soll nach Vorstellung der Regierung bei dem Unternehmen liegen, aber anteilig über das dann sprudelnde Öl wieder ausgeglichen werden – jedoch „im Rahmen vorab festgelegter Höchstgrenzen je Periode“, so der Regierungsentwurf.
Gegenwärtig sind neben der Petrobras mehrere Konzerne an den Prospektionen im Pré-Sal beteiligt. So hält zum Beispiel die britische BG Group 25 Prozent am Feld Tupi, an dem die portugiesische Galp ihrerseits einen Anteil von zehn Prozent hat. Allein die Vorkommen im Feld Tupi werden auf zwischen zwölf und dreißig Milliarden Barrel Erdöl geschätzt. So nimmt es nicht Wunder, dass sich die Industrie mit einem ausgefeilten juristischen Gutachten zu Worte meldete. Das Brasilianische Petroleum-Institut IBP, eine Lobbyorganisation, der 200 Firmen aus der Ölbranche angehören, wirft in dem Gutachten der Regierung vor, die freie Markttätigkeit einzuschränken, den freien Wettbewerb und die Gleichberechtigung aller Marktteilnehmer zu untergraben. Die Anhänger des Marktliberalismus der Oppositionspartei PSDB folgen diesem Gutachten und behaupten, dass das vorgelegte Gesetz einen enormen Rückschritt bedeute. Als die PSDB mit Präsident Fernando Henrique Cardoso an der Regierung war (1995-2002), initiierten sie eine „Modernisierung“ der brasilianischen Erdölindustrie – es handelte sich um eine weitgehende Privatisierung der Branche. Die Vertreter von PSDB und der Lobbygruppe IBP argunmentieren nun, dass es der Petrobras als halbstaatlichem Unternehmen an Kapazitäten mangeln würde, um die Felder im Pré-Sal auszubeuten.
Dem widerspricht der Präsident der in der Petrobras arbeitenden Ingenieure, Fernando Leite Siqueira. In einem Interview mit der Zeitschrift Democracia e Política erkläre er, dass die Petrobras alleine 30 Jahre lang vor der Küste Brasiliens nach Öl suchte. Auch die erfolgreiche Bohrung der ersten Quelle im tiefen Wasser sei mit brasilianischer Technologie erfolgt und habe die Petrobras alleine 260 Millionen US-Dollar gekostet. Leite Siqueiras Meinung nach ist die Kritik der Konzerne und der Opposition lediglich der Versuch, eine der erfolgreichsten Firmen der Welt in Verruf zu bringen. Für ihn stehen politische Gründe für die Ablehnung der PSDB im Vordergrund. Er vermutet, die Opposition befürchte, dass die Ankündigung der Regierung, das zu erwartende Geld in Sozialprogramme und Bildung zu investieren, der Arbeiterpartei zur erneuten Wiederwahl verhelfen würde.
So geht die Lobbyorganisation IBP noch weiter und wirft der Regierung vor, Verfassungsbruch zu betreiben, wenn sie die Gesetzgebung ohne vorherige Änderung der Verfassung ändern wolle. Denn 1995 war die Verfassung geändert worden, um das alte Erdölgesetz aus dem Jahre 1953 abzuschaffen. Dieses Gesetz von 1953 hatte der damalige Präsident Getúlio Vargas nach einer nationalistischen Kampagne eingeführt. Der Slogan dieser Kampagne hieß schmissig „O petroleo é nosso!“ – „das Erdöl gehört uns!“ Das Gesetz von 1953 war die Voraussetzung für die Gründung des Staatskonzerns Petrobras gewesen, der ein Monopol garantiert bekam. Außerdem verbot das Gesetz den Verkauf von Aktien der Petrobras an Ausländer. Dieses Gesetz wurde 1997 dann von der Regierung Fernando Henrique Cardoso verändert. Nun können Petrobras-Aktien an der Börse Bovespa in São Paulo und an der New York Stock Exchange gekauft und verkauft werden. Inzwischen ist Petrobras „der achtgrößte Konzern der Welt. In ganz Europa gibt es keinen Konzern dieser Größe“, wie auch Präsident Lula anlässlich seiner Rede zur „neuen Unabhängigkeit“ Brasiliens stolz sagte.
Aber diese Teilprivatisierung der Petrobras – in wichtigen Fragen kann die Regierung mit ihren Anteilen immer ein Veto in der Aktionärsversammlung einlegen – ist sehr unbeliebt in Brasilien. Sie erinnert zu sehr an die komplette Privatisierung des Bergbaukonzerns Companhia Vale de Rio Doce, inzwischen nur noch Vale. Der Wert dieses Unternehmens hat sich in den ersten zehn Jahren nach der Privatisierung um mehr als 1.200 Prozent gesteigert. Inzwischen ist die Vale das größte Eisenerzbergbauunternehmen der Welt und eines der größten Bergbauunternehmen überhaupt.
So gewann nach der Entdeckung der Pré-Sal auch die alte Debatte um Privatisierung und Wiederverstaatlichung an Fahrt. Etliche soziale Bewegungen sowie eine Reihe linker Gruppen und Parteien fordern eine komplette Verstaatlichung der Petrobras und die Wiedereinführung des Monopols für Erdölförderung. In Anspielung auf die Kampagne von 1953 fordern sie: „Pré-Sal muss unser sein!“. Solche Forderungen nach Wiederverstaatlichung der Petrobras bereiten den AktionärInnen und den VerfechterInnen freier Marktwirtschaft ein Grausen.
Eine Gefahr für die Wirtschaft sieht gleichwohl auch die Regierung, aber von einer anderen Warte aus betrachtet. Der Finanzminister Guido Mantega, sprach sich dafür aus, die zu erwartenden Petrodollars in einen Fonds fließen zu lassen, der einen großen Teil im Ausland investiert. Dies soll den Devisenfluss besser kontrollieren. Ansonsten drohe die Gefahr der so genannten „holländischen Krankheit“: In den sechziger Jahren flossen auf Grund des Erdgasbooms in den Niederlanden viele Devisen ins Land. Dies wertete die Landeswährung auf, wodurch die Exporte sich verteuerten und das Land anfing, zu viel aus dem Ausland zu importieren. So wurde die Inlandsproduktion in Mitleidenschaft gezogen. „Wir werden die holländische Krankheit in Brasilien nicht dulden“, bekräftigte Mantega und fügte hinzu, dass er für die Zukunft einen Anstieg der brasilianischen Dollarreserven auf bis 500 Milliarden Dollar sehe.
Für Präsident Lula ist all dies ein Grund, „die Zukunft zu feiern“. Für seine alte Weggefährtin und Ex-Ministerin, die Senatorin Marina Silva, ist all dies weniger ein Grund zu feiern. Vor allem die Geschwindigkeit, mit der die Regierung die neuen Gesetze durch den Kongress bringen wolle, sei fragwürdig. „Die Hochdringlichkeit für eine solch komplexe Angelegenheit ist nicht der beste Weg. Es braucht für den Kongress ausreichend Zeit für die Debatte und ausreichend Zeit dafür, dass die Gesellschaft sich äußern kann“, so die künftige Präsidentschaftskandidatin der Grünen Partei PV im Interview mit der Agência Brasil. Und ihr Parteikollege, der Senator Fernando Gabeira, beklagt, das bei den vier Gesetzesvorschlägen der Regierung keiner sich mit den ökologischen Folgen der Ölförderung befassen, was in Zeiten einer bevorstehenden Klimakatastrophe nicht mehr zeitgemäß sei.
João Alfredo Telles Melo, Abgeordneter der PSOL, Professor und vormals Berater von Greenpeace Brasilien, weist darauf hin, dass gar nicht berechnet werde, welche Mengen an Kohlendioxid durch die Förderung des Öls freigesetzt werden würde. Die Nutzung der Ölreserven würde Basilien zwar 40 Jahre lang von Importen unabhängig machen, so Telles Melo weiter, aber gleichzeitig auch zu einem der größten Kohlendioxid-Verschmutzer der Welt machen. Er geht davon aus, das Brasilien jährlich circa 1,3 Milliarden Tonnen Kohlendioxid mehr emittieren würde, was eine Verdoppelung des gegenwärtigen Ausstoßes dieses Gases bedeuten würde. Darin noch nicht einmal einberechnet ist die Energie, die notwendig sein wird, um das Erdöl zu fördern.
Ein ganz anderer Ansatz wäre das, was der Journalist Danilo Pretti Di Giorgi in der Zeitschrift Correio da Cidadania schon im September 2008 für den Pré-Sal vorgeschlagen hatte: „Mein Vorschlag ist, dass wir die neuen Vorkommen im Pré-Sal in Frieden lassen, da, wo sie schon seit Hunderten von Millionen Jahren sind.“ Die gleiche Idee – aus Ecuador kommend – macht mit dem Erdöl im Yasuní Karriere. Pretti Di Giorgi fragt: „Wie viel wäre eine brasilianische Entscheidung, das Pré-sal nicht anzurühren, wohl wert?“