Brasilien | Indigene | Nummer 567 – September 2021

OFFENSIVE GEGEN INDIGENE

Der Landraub in Brasilien soll stetig legalisiert werden

Die Regierung Bolsonaro hat ihre juristische Offensive gegen die Rechte der indigenen Völker verschärft. Für die Anerkennung aller indigenen Territorien soll der Nachweis ihrer Nutzung am 5. Oktober 1988 als Stichtag rechtlich verankert werden. Seit Wochen protestieren die indigenen Völker Brasiliens gegen diesen weitreichenden Angriff auf ihre Rechte unter dem Motto „Unsere Geschichte begann nicht erst 1988!“. Auf der anderen Seite stilisiert Bolsonaro die Entscheidung über den Stichtag (marco temporal) zur Schicksalsfrage für die Landwirtschaft Brasiliens und den weltweiten Kampf gegen den Hunger. Bolsonaro vertritt die Interessen des Agrobusiness und der Großgrundbesitze, dabei geht es um die Verfügung über Land als zentraler Machtfrage.

Von Thomas Fatheuer und Christian Russau, in Zusammenarbeit mit Juliana Miyazaki und Bernd Lobgesang

Gegen den marco temporal Protest vor dem Bundesgerichtshof (Foto: Fabio Rodrigues-Pozzebom, Agência Brasil)

Das Gesetzesvorhaben marco temporal steht im Fokus der aktuellen Auseinandersetzungen zwischen der brasilianischen Regierung und den Interessenvertretungen der indigenen Völker. Dabei geht es um die Einführung einer Stichtagsregelung, nach der die juristische Anerkennung jedes indigenen Territoriums von dem Nachweis seiner Nutzung am 5. Oktober 1988, dem Tag der Verkündung der heute gültigen Verfassung Brasiliens, abhängen soll. Die indigene Gemeinschaft, die Anspruch auf ein bestimmtes Gebiet erhebt, müsse am Stichtag auf diesem Land gelebt, sich in einem gerichtlichen Streit um das Land oder in einem direkten Konflikt mit Eindringlingen befunden haben. Für die Indigenen ist klar: So sollen mit einem Handstreich 500 Jahre kolonialer Ausbeutung und Landraub legalisiert werden. Der nationale Zusammenschluss der indigenen Völker (APIB) sieht deshalb den marco temporal als verfassungswidrig an, da dieser die Vertreibungen, Zwangsumsiedlungen und die Gewalt, die Angehörige verschiedener indigener Gemeinschaften vor 1988 erlitten haben, als Grundlagen des neuen Gesetzes anerkennt. Darüber hinaus werde die Tatsache ignoriert, dass es bis zum Inkrafttreten der Verfassung von 1988 für Indigene gar keine rechtliche Grundlage gab, um eigenständig ihre Rechte vor Gericht einzufordern. Hinzu kommt, dass der Nachweis der Nutzung eines Gebiets am 5.Oktober 1988 für viele indigene Gemeinschaften schwierig ist. In ihrer besonderen Beziehung zu ihrem Territorium ist nicht nur das Land identitätsstiftend, auf dem sie tatsächlich leben, sondern auch Gebiete, die eine kulturelle und spirituelle Bedeutung haben, aber nicht bewohnt werden.

Bereits im Wahlkampf hatte Jair Bolsonaro erklärt, dass unter seiner Präsidentschaft für indigene Gemeinschaften kein Zentimeter Land zusätzlich als Schutzgebiet ausgewiesen („demarkiert“) werden würde. Dieses Ziel hat er bisher umgesetzt: Unter seiner Regierung sind die Demarkationen indigener Territorien auf Null zurückgegangen. Die ausstehende juristische Entscheidung zum marco temporal diente der Regierung und einem Teil der Justiz als Rechtfertigung für die Lähmung der Demarkationspolitik. Ohne die juristische Anerkennung ihrer Territorien droht den Menschen dort die Vertreibung aus ihrer traditionellen Heimat, die untrennbar mit ihrer Kultur und ihren Lebensgrundlagen verwoben ist. Die möglichen Zwangsräumungen würden zur Auslöschung vieler indigener Gemeinschaften führen.

Legislative greift indigene Territorien an

Dabei schwelt der juristische Streit um die Stichtagsregelung schon länger. 2009 hatte der Oberste Gerichtshof (STF) bereits einmal über den marco temporal entschieden, als das indigene Territorium Raposa Serra do Sol anerkannt wurde. Das 1,7 Millionen Hektar große Gebiet in der nördlichen Hälfte des Bundesstaates Roraima ist die Heimat der Macuxi. Es ist das größte Schutzgebiet Brasiliens und eines der größten der Welt. Das 2009 erlassene Urteil wurde einerseits mit großer Erleichterung aufgenommen. Denn das Gericht erkannte an, dass die rechtliche Absicherung der indigenen Gebiete ein nationales Gebot ist – auch aufgrund der historischen Schuld gegenüber den indigenen Völkern. Anderseits führte das Urteil in seiner Begründung auch die bewiesene Besiedlung des Gebiets im Jahre 1988 an, berief sich also auf den Stichtag. Dies löste seinerzeit Befürchtungen aus, dass in diesem eigentlich positiven Urteil eine Zeitbombe versteckt sei. 2013 entschied der Oberste Gerichtshof in einem weiteren Verfahren, dass das Urteil von 2009 über das Gebiet Raposa Serra do Sol nur für diesen konkreten Fall gelte. Seitdem steht ein Grundsatzurteil zur Stichtagsregelung aus. Offen blieb damals auch, inwieweit ein Gesetz, wie zum Beispiel die Gesetzesinitiative PL 490 im Jahr 2007, den marco temporal etablieren könne. Damit war klar, dass Brasiliens Agrobusiness und die Agrarlobby der ruralistas wegen der Stichtagsregelung wieder vor Gericht ziehen würden. Dies geschah nun Anfang September dieses Jahres mit der Enteignungsklage der Regierung des Bundesstaates von Santa Catarina gegen das indigene Volk der Xokleng in Bezug auf deren Territorium Birama-Laklãnõ. Dieser Prozess führte nicht nur zu Protesten der Indigenen, sondern auch zu einer großen Mobilisierung des Agrarbusiness, das einhellig für eine Stichtagsregelung eintritt.

Der aktuelle Versuch, den marco temporal zu etablieren, ist nicht der einzige Angriff auf die Rechte der indigenen Völker. So hat Bolsonaro im Jahr 2020 die Gesetzesinitiative PL 191 den beiden Kammern des Nationalkongresses zur Entscheidung vorgelegt, die Bergbau und Wasserkraft in indigenen Territorien erlauben soll. Dies ist tragischerweise nicht durch die Verfassung ausgeschlossen. Die Legalisierung und Regulierung des Bergbaus wird damit zu einer zentralen Frage für die Zukunft der indigenen Völker in Brasilien.

Auch hier ist zu befürchten, dass die Mehrheitsfraktionen der Landwirtschaftslobby und der Bergbaulobby sich durchsetzen könnten. 280 der insgesamt 513 Mitglieder der Abgeordnetenkammer des brasilianischen Nationalkongresses sind Mitglieder der sogenannten „Ruralistas“-Fraktion, also des parteiübergreifenden Zusammenschlusses der Landwirtschaftslobby, der Frente Parlamentar da Agropecuária (FPA). Laut Recherchen der Nichtregierungsorganisation De Olho nos Ruralistas ging die mehrmalige Vertagung der Entscheidung des Obersten Gerichtshofes über die Stichtagsregelung auf den politischen Druck der FPA zurück. Die FPA verfolge damit das Ziel, zunächst in der Abgeordnetenkammer die Gesetzesinitiative PL 490/2007 durchzubringen. Dieser Gesetzentwurf soll maßgeblich Infrastrukturprojekte in indigenen Territorien gestatten, wenn es dem „relevanten öffentlichen Interesse des Bundes“ diene. Außerdem würde dieser Gesetzentwurf in der Praxis noch nicht abgeschlossene Demarkationsverfahren erheblich erschweren; die Anerkennung neuer Gebiete wäre praktisch unmöglich und darüber hinaus könnten sogar bereits bestehende Demarkationen rückgängig gemacht werden. Auch könnte mit indigenen Gruppen in freiwilliger Isolation leichter ein Kontakt erzwungen werden, was für diese Gemeinschaften lebensbedrohlich ist. Falls dieser Gesetzentwurf in Kraft tritt, wird sich die Lage der indigenen Völker Brasiliens weiter zuspitzen, Landraub und Konflikte sowie Entwaldung und Brandrodung werden zunehmen. Am 23. Juni dieses Jahres war der Gesetzesentwurf PL 490/2007 im zuständigen Ausschuss des brasilianischen Abgeordnetenhauses verabschiedet worden und muss nun im Parlamentsplenum beschlossen werden, bevor es dem Senat zur Entscheidung vorgelegt wird. Bereits im Juni hatten fast 1.000 indigene Repräsentant*innen vor dem Kongress in Brasília protestiert und die Gefahr von Landraub durch das Gesetz 490 sowie den darin ebenfalls enthaltenen Passus zum marco temporal wütend kritisiert.

Stichtagsregelung marco temporal

Weitere Gesetzesinitiativen sind zwei auch als „Landraubgesetze“ (PL da grilagem) bekannte Gesetzesvorhaben: eines im Nationalkongress (PL2633/2020), das andere im Senat (PL 510/2021), die beide unter anderem die illegale Aneignung von Land nachträglich legalisieren sollen.

Eine weitere zentrale Konfliktlinie ist die Zustimmung Brasiliens zur Konvention 169 der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) zum Schutz indigener Völker. Die Frente Parlamentar da Agropecuária hat am 12. August dieses Jahres ein Dokument veröffentlicht, in der sie den Austritt aus der ILO 169 fordert. Dort argumentiert das Agrobusiness, die ILO 169 beschneide Brasilien in den „Befugnissen zur Gesetzgebung, Verwaltung, Ausarbeitung und Bewertung nationaler und regionaler Entwicklungspläne und -programme, zum Bau von Straßen, Wasserkraftwerken und anderen Infrastrukturmaßnahmen – kurzum, zu souveränen Entscheidungen über das, was für den Fortschritt und die Entwicklung des Landes am nötigsten“ sei. Daher fordert die FPA, dass Brasilien zum nächstmöglichen Zeitpunkt aus der ILO 169 austreten solle. Nach den Regularien der ILO kann dies alle zehn Jahre geschehen. Da Brasilien die ILO-Konvention 169 im Jahr 2002 unterzeichnet hat, könne dieser Schritt bis zum 5. September 2022 vollzogen werden, so die Agrarlobby. Dies deckt sich mit Bolsonaros Vorstellungen. Denn auch er hatte bereits kurz nach seinem Amtsantritt geäußert, der Austritt Brasiliens aus der ILO 169 sei dringend notwendig, um die Entwicklung des Landes nicht weiter zu behindern. Ein Austritt Brasiliens aus der ILO 169 würde dem Trend hierzulande entgegenlaufen: Deutschland hat 2021 nach jahrzehntelanger zivilgesellschaftlicher Kampagne die ILO 169 endlich ratifiziert. Diese Ratifizierung sollte auch ein internationales Signal der Unterstützung der ILO 169 sein.
Brasilien ist für Deutschland der einzige sogenannte „strategische Partner“ in Südamerika und im Spätherbst stehen erneut hochrangige Regierungskonsultationen beider Partner-Länder an. Es bleibt zu hoffen, dass bei den Konsultationen jenseits von Dialog und gegenseitiger Partnerschafts-Beteuerung endlich auch einmal klare rote Linien gezogen werden: Ein drohender Austritt Brasiliens aus der ILO 169 sollte so eine rote Linie sein.

Die aktuellen Konflikte zeigen, dass der brasilianische Präsident jenseits aller rechtsradikalen Skurrilität eine konsistente Agenda verfolgt: Die Kampagne gegen die Rechte indigener Völker und traditioneller Gemeinschaften war bereits im Wahlkampf ein zentrales Thema Bolsonaros. Und die aktuelle Offensive geschieht mit der expliziten Unterstützung des mächtigen Agrobusiness und dessen massiver Präsenz im Parlament. Eine Kooperation mit dieser Regierung wird immer problematischer und unverständlicher.

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