Brasilien | Nummer 392 - Februar 2007

Parallelmacht unterm Zuckerhut

Die aktuelle Gewaltwelle in Rio de Janeiro entfacht erneut eine Debatte über öffentliche Sicherheit

Mit Militärs und Spezialeinheiten will die brasilianische Politik dem organisierten Verbrechen Einhalt gebieten. Doch der Erfolg eines repressiveren staatlichen Vorgehens wird von Kennern angezweifelt. Ohne die Verstrickung von Polizei und Politik in kriminelle Machenschaften aufzulösen, wird dem Problem nicht beizukommen sein.

Andreas Behn

Heftige Gewaltausbrüche auf den Straßen und die chronische Krise der öffentlichen Sicherheit – erneut wird das Thema Kriminalität in Brasilien, mal in schockiertem, mal in autoritär moralischem Ton diskutiert. Auch die Verlautbarungen der verantwortlichen Politiker sind bekannt: Bis hin zu Präsident Inácio Lula da Silva werden härtere Strafen erwogen, sogar ein Gesetzespaket gegen „Terrorismus“ soll auf den Weg gebracht werden. Zudem sollen mehr PolizistInnen, SoldatInnen der Armee und eine neue Eliteeinheit der Bundespolizei die Straßen sicherer machen.
Der Anlass dieser neuen Runde in der Diskussionsspirale über Gewalt, Ursachen und Folgen kommt diesmal aus Rio de Janeiro. Kurz vor Sylvester verübten mutmaßliche Mitglieder von Drogenhändlerbanden eine Reihe koordinierter Überfälle, bei denen mindestes 19 Menschen starben. Die Opfer waren entweder Polizisten oder Zivilisten, alle traf es völlig willkürlich. Das schrecklichste Bild war der brennende Reisebus der Firma Itapemirim, deren knallgelbe Busse ein Markenzeichen der hiesigen Landstraßen sind. Acht Menschen verbrannten in den Flammen, die anderen Reisenden konnten sich mit teils schweren Verbrennungen retten. Der Bus wurde gestürmt, ausgeraubt und skrupellos in Brand gesteckt

Reigen der Allgemeinplätze

Ziel der Angriffe war, im wahrsten Sinne des Wortes, Angst und Schrecken zu verbreiten und damit Macht zu demonstrieren. Dies ist gelungen, genauso wie im vergangenen Jahr in São Paulo, wo eine Welle von Attentaten auf PolizistInnen und deren anschließender Rachefeldzug gegen die BewohnerInnen von Armenvierteln innerhalb weniger Tage mehrere Hundert Todesopfer verursachten. Auch die ersten Tage des neuen Jahres waren in Rio von Überfällen gekennzeichnet.
Einmal mehr wird die Frage aufgeworfen, wie es zu einer solchen Gewalteskalation im Land kommen konnte und wie darauf reagiert werden kann. Das Schwarzweiß-Bild vom bösen Kriminellen und dem bravem Bürger, wie es gern in den Medien vermittelt wird, hilft da wenig weiter. Doch auch der Allgemeinplatz, dass es in einer derart polarisierten Gesellschaft, wo extrem arm und überschwänglich reich unmittelbar nebeneinander leben wie in Rio de Janeiro, nicht friedlich zugehen kann, greift als Erklärung zu kurz.
Wegweisender ist da der Hinweis, dass organisierte Kriminalität und Gewalt dort entsteht und Raum gewinnt, wo etwas anderes fehlt: nämlich staatliche oder zivilgesellschaftliche Institutionen, die in der Lage sind, einen rechtsstaatlichen Umgang mit unumgänglichen Konfliktsituationen sicherzustellen. Seitens vieler Men­schenrechtlerInnen wird immer wieder darauf verwiesen, dass die Politik – egal welcher Partei – keine wirkliche, intelligente Bekämpfung von Verbrechen betreibt und zugleich eine extrem repressive wie unterbezahlte Polizei sowie ein menschenunwürdiges Gefängnissystem unterhält. In Kombination mit einer fast inexistenten Justiz wird so der Korruption Tür und Tor geöffnet. Und damit sind Gewaltexzesse derjenigen, die die nicht vorhandenen Strukturen ersetzen, geradezu vorprogrammiert.

Parallelmacht Polizei

Dieser Mangel an Rechtsstaat bezieht sich keinesfalls auf Gesetze, zu wenig Polizisten oder fehlendes Durchgreifen sondern auf die Unmöglichkeit, sich gegen die Macht der Stärkeren zu wehren. Doch man kann schwerlich von einer Parallelmacht sprechen: Das Gewaltphänomen ist in Rio de Janeiro eng an korrupte Verflechtungen und handfeste finanzielle Interessen innerhalb des staatlichen Sicherheitsapparates und Teilen der alteingesessenen Politikerklasse gekoppelt.
Obwohl es naturgemäß an Daten und Beweisen mangelt, zweifelt kaum jemand daran, dass die Polizei in Rio de Janeiro sich nicht in erster Linie der Bekämpfung des Drogenhandels und der Bandenkriminalität widmet. Im Gegenteil, oft schauen die Beamten entweder weg und lassen sich dafür gut bezahlen, oder sie sind selbst, bis hin zu den Vorgesetzten, in die kriminellen Machenschaften verstrickt. Die extreme Härte, mit der PolizistInnen gegen BewohnerInnen und mutmaßliche Verbrecher in den Favelas vorgehen, wird von MenschenrechtlerInnen nicht nur als verfehlte polizeiliche Maßnahme gedeutet. Sie gilt auch als Beleg, dass sie an einem Geschäft beteiligt sind, das so lukrativ ist, dass es einen solchen Kampf rechtfertigt. Offiziellen Statistiken zufolge erschießen Uniformierte in der berühmten Touristenstadt jährlich über Tausend Menschen, drei Todesopfer jeden Tag.

Umkämpfte Macht in den Favelas

Innerhalb der Favelas halten aber andere das Gewaltmonopol inne. Seit Jahren dominieren verschiedene Banden von Drogenhändlern die zumeist auf steilen, innerstädtischen Hügeln gelegenen Favelas. Dort organisieren sie den Handel mit Kokain und anderen verbotenen Substanzen, der ihre wichtigste Einnahmequelle darstellt. Zugleich haben sie damit ein Rückzugsgebiet, zu dem Polizei, Justiz oder andere Institutionen kaum Zugang haben. Immer wieder ist von einer Parallelmacht die Rede, die nicht zuletzt wegen ihrer sozialen Aktivitäten und dem Schutz vor Polizeiübergriffen von Teilen der BewohnerInnen durchaus akzeptiert wird.
Angesichts einst großer Gewinnspannen und heftiger Konkurrenz kommt es immer wieder zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen Fraktionen der Banden, deren Mitglieder im Lauf der Zeit immer jünger geworden sind. Häufig liegt das Eintrittsalter unter 14 und die Lebenserwartung kaum über 25 Jahren.
Dieser Status quo wird seit einigen Monaten durch ein neues Phänomen in Frage gestellt. In einigen Favelas sind sogenannte Milizen aufgetaucht und haben die Chefs der Drogenbanden vertrieben. Dabei handelt es sich um paramilitärische Gruppen, die, Fachleuten zufolge, aus ehemaligen sowie aktiven Polizisten, Militärs, Feuerwehrleuten und Angestellten privater Sicherheitsfirmen bestehen. Laut Zeitungsberichten sollen mittlerweile fast hundert Favelas in Rio von solchen Milizen kontrolliert werden. Sie versprechen Sicherheit – fürwahr ist es ihnen gelungen, Schießereien zwischen Banden oder mit der Polizei zu unterbinden –, wenden aber klassische Mafiamethoden wie Schutzgelderpressung sowie Drohungen gegen KritikerInnen und Zahlungsunwillige an.

Schutzgeld statt Drogenhandel

Es wird vermutet, dass ein Rückgang der Gewinne des Drogenhandels und in der Folge eine geringere Gehaltsaufbesserung für Viele innerhalb des staatlichen Sicherheitsapparates Anlass für das Entstehen dieser Milizen war. Offenbar wirft die direkte Ausbeutung der BewohnerInnen mittels Schutzgeld mehr Profit ab als der umkämpfte Verkauf von Drogen in den besseren Stadtvierteln. Und nicht zuletzt können politisch Verantwortliche darauf verweisen, dass Teile der Stadt befriedet wurden, so wie der konservative Bürgermeister Rio de Janeiros, Cesar Maia, der die Milizen im Vergleich zu den Drogenbanden unumwunden als „das kleinere Übel“ bezeichnete und sie sogar als Teil einer „Selbstverteidigung“ rühmte.
Mit deutlichen Worten definiert Tim Cahill von Amnesty International in Brasilien die Milizen als logische Konsequenz eines tragischen Prozesses: „Die Existenz dieser Milizen ist ein Symptom der ganzen Fäulnis, die die Politik der öffentlichen Sicherheit in Rio de Janeiro in den vergangenen Dekaden charakterisiert hat. Ein politischer Wille ist absolut nicht vorhanden. Es scheint sogar, dass „das Interesse seitens bestimmter Personen vorhanden ist, das Sicherheitssystem im Bundesstaat zu belassen wie es ist,“ so der Wissenschaftler in einem Interview mit der Agentur Cartamaior.

Reaktion der alten Bosse

Der Vormarsch dieser paramilitärischen Milizen hat nun offenbar eine heftige Reaktion der traditionellen Drogenhändler provoziert: Zunächst haben sich erstmals seit Jahren die drei bis aufs Messer verfeindeten Fraktionen der Drogenbanden auf ein gemeinsames Vorgehen geeinigt. Deren Chefs haben, wie üblich vom Gefängnis aus, ihren Untergebenen draußen befohlen, die Stadt und vor allem Polizeieinrichtungen mit tödlichen Angriffen zu überziehen. Sozusagen als Warnung unmittelbar an die Sicherheitsbehörden, dass den Milizen die Macht über die Favelas nicht so ohne weiteres überlassen wird. Dies ist die Analyse der meisten Fachleute, der Medien und Sergio Cabrals, dem neuen Gouverneur des Bundesstaates.

Garotinhos Erbe

Im Gegensatz dazu verkündete die abtretende Gouverneurin Rosinha Garotinho, die Gewaltwelle sei wie damals in São Paulo als Kampf gegen ein schärferes Regime in den Haftanstalten zu werten. Nur eine von vielen Meinungsverschiedenheiten zwischen Cabral und seiner Vorgängerin, die gemeinsam mit ihrem Vorgänger und Ehemann Anthony Garotinho den Bundesstaat acht Jahre lang regiert und in einen Pfuhl von Korruption und Vetternwirtschaft verwandelt hat.
Ihr bisheriger Polizeichef und jetziger Abgeordnete Álvaro Lins wird als treibende Kraft hinter diversen kriminellen Vereinigungen angesehen. Kürzlich kamen 70 Militärpolizisten wegen Beteiligung am Drogenhandel ins Gefängnis. Telefonmitschnitte belegen, dass aktive Polizisten den paramilitärischen Milizen Sylvesterglückwünsche übermittelten. Dies sind nur einige Indizien für das Ausmaß, in dem die politisch Verantwortlichen offenbar nicht in der Lage oder gewillt waren, gegen Verbrechen und Gewalt in Rio de Janeiro vorzugehen.

Militärs sind keine Lösung

Was Rosinha stets ablehnte, hat der neue Gouverneur Sergio Cabral schon an seinem ersten Amtstag akzeptiert: Das Angebot von Präsident Lula, Soldaten der Armee und eine Sondereinheit der Bundespolizei nach Rio zu entsenden. Eine polemische Maßnahme, zumal Kritiker darauf hinweisen, dass mehr Polizei und vor allem Militärs auf den Strassen alles andere als eine Garantie für mehr Sicherheit und weniger Gewalt sind. Ebenso wird kritisiert, dass Lula die Gewaltwellen in populistischem Ton als „Terrorismus“ bezeichnete. Bereits eine Woche nach den tödlichen Angriffen lag ein erster Gesetzesvorschlag vor, der bestimmte Gewalttaten als terroristisch einstuft und mit härteren Strafen ahnden will.
Trotz aller Skepsis scheint der neuen Gouverneur Sergio Cabral gewillt, die bewussten Versäumnisse seiner Amtsvorgänger zu revidieren. Zumindest in den ersten Wochen seiner Amtszeit lässt er den Worten Taten folgen und versucht, gegen die korrupten Verflechtungen insbesondere im Sicherheitsapparat und in der Gesundheitsversorgung vorzugehen, was schon einigen Protest bis hin zu Todesdrohungen gegen einige seiner Beamte zur Folge hatte. Im Zentrum der Bemühungen steht der Versuch, die öffentliche Sicherheit auf Bundes- und Landesebene miteinander in Einklang zu bringen – eine Forderung, die von Experten aller Couleur seit langem erhoben wird. Kaum jemand bezweifelt, dass Korruption und die Verstrickungen der Sicherheitskräfte in Rio de Janeiro in allerlei Verbrechen nur mit Hilfe der Bundespolizei bekämpft werden können. Die genießt nämlich den Ruf, die einzige Polizeikraft des Landes zu sein, die nicht vollkommen korrumpiert ist.

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