Guatemala | Nummer 420 - Juni 2009

Präsident unter Mordverdacht

Videobotschaft eines Ermordeten Anwalts setzt Álvaro Colóm unter Druck

Ein derart ungeheuerlicher Vorgang würde wohl jeden Staats- oder Regierungschef der Welt in ärgste Bedrängnis bringen: Der Fall beginnt mit einem Mord. Mitte Mai wurde der Anwalt Rodrigo Rosenberg in Guatemala beim Fahrradfahren erschossen. So zynisch das klingt, bei vier bis fünftausend Mordopfern jährlich im kleinen Guatemala ist dies allein kaum eine Schlagzeile Wert. Die Bombe platzt einen Tag später. Zwei große Tageszeitungen veröffentlichten eine Videobotschaft des Ermordeten, aufgenommen eine halbe Woche vor dem Mordanschlag.

Markus Plate

„Guten Tag, mein Name ist Rodrigo Rosenberg Marzano. Leider hören Sie diese Botschaft, weil ich ermordet worden bin … durch den Präsidenten Álvaro Colóm.“ So beginnt die Videobotschaft, die in Guatemala eine Staatskrise auszulösen droht. Nicht nur für seinen Tod sei der Präsident verantwortlich, sondern auch für die Ermordung des Unternehmers Khalil Musa und seiner Tochter Marjorie. „Beide wurden auf feige Art und Weise ermordet, durch Präsident Colóm mit voller Unterstützung durch dessen Gattin Sandra de Colóm…“, so Rosenberg in der Videobotschaft.
Rodrigo Rosenberg, ein Anwalt mit weißer Weste. Ein bereits im April zusammen mit seiner Tochter ermordeter Unternehmer. Das sind die Opfer. Als TäterInnen werden benannt: Der Präsident und seine Ehefrau, die den Sozialfonds der Regierung steuert. Außerdem der Financier der Wahlkampagne Álvaro Colóms und der Sekretär des Präsidenten. Khalil Musa, der ermordete, laut Rosenberg integere Unternehmer, sollte in den Vorstand der privaten Bank für ländliche Entwicklung Banrural berufen werden. Stattdessen starb er.
Es geht, darüber sind sich die meisten einig, um Politik, um viel Geld, um den äußerst gewinnträchtigen Bankensektor Guatemalas und um Geldwäsche aus dem Drogengeschäft. Denn Guatemala gilt als eines der Länder der Region, in der das Organisierte Verbrechen nicht nur große Gewinne macht, sondern auch paradiesische Zustände vorfindet, diese Gewinne weiß zu waschen. Der Wirtschafts- und Finanzsektor, die Justiz, das Parlament und auch die Regierung Álvaro Colóms sollen tief in diese Machenschaften verstrickt sein. Und letztere – das ist der Kern der Videobotschaft – soll auch vor Mord an engagierten BürgerInnen nicht zurückschrecken.
Tausende Menschen forderten in den vergangenen Wochen vor dem Präsidentenpalast den Rücktritt Álvaro Colóms und Gerechtigkeit. Die DemonstrantInnen kommen diesmal aus dem gutbürgerlichen Spektrum – und versammeln sich an einem Ort, an dem sonst Indigene oder Gewerkschaften demonstrieren. Warum hat sich die obere Mittelschicht bis heute Zeit gelassen, um angesichts der jahrelangen Gewalt in Guatemala den Rücktritt eines Präsidenten zu fordern? „Weil es bis heute niemanden gegeben hat, der die Regierung und den Präsidenten direkt belastet hat“, erklärt eine Demonstrantin. „Jetzt gibt es klare Beweise. Und nach dem guatemaltekischen Gesetz müssen die Beschuldigten ihr Amt ruhen lassen, solange gegen sie ermittelt wird.“
Präsident Colóm reagierte auf die Anschuldigungen ebenfalls mit einer Videobotschaft an die Nation, in der er alle Vorwürfe von sich weist und eine umfassende Aufklärung durch den Oberstaatsanwalt der Republik und durch die internationale Kommission gegen die Straffreiheit in Guatemala CICIG verspricht.
Auch Unternehmerkreise und rechte PolitikerInnen fordern mittlerweile die Einschaltung der CICIG. Das ist einigermaßen pikant. Denn gerade hier regte sich erbitterter Widerstand gegen die Bestellung einer internationalen Kommission, die von MenschenrechtlerInnen seit langem gefordert wurde. Sie soll die notorische Straffreiheit für schwerste Menschenrechtsverbrechen in Guatemala untersuchen und beseitigen helfen. Ausgerechnet Colóm gilt als Unterstützer eben dieser Kommission.
Seitdem geht es hoch her in Guatemala. Am 17. Mai versammelten sich gleich zwei Großdemonstratio-nen im Zentrum von Guatemala-Stadt. Die einen forderten Colóms Rücktritt, die anderen solidarisierten sich mit ihm. Mit Tausenden von Menschen ist jede einzelne Demonstration für sich schon die größte seit Jahren in dem zentralamerikanischen Land. Wirklich spontan sind jedoch beide Demos nicht, die eine wird von der Regierung, die andere vom Unternehmersektor gefördert.
„Die Situation ist delikat und gefährlich“, sagt Enrique Corral, Präsident der angesehenen Stiftung Guillermo Toriello. Er ist ein Kenner der politischen Situation Guatemalas und glaubt, dass es dieser Tage um mehr geht, als um ein Verbrechen und um Aufklärung: Die intransparenten Machtstrukturen in der Umgebung der Regierung seien besorgniserregend – von der Finanzierung der Wahlkampagne bis hin zu Colóms Sicherheitsorganen. Im Bankensektor, aber auch in anderen Bereichen gebe es einen heftigen Disput zwischen Unternehmersektor und der Regierung.
„Eine Demonstration, die Colóm absetzen will, spiegelt auch die Bestrebungen derjenigen wider, die Vizepräsident Espada auf den Schild heben wollen“, so Corral. „Ihnen missfällt Colóms antioligarchischer und sozialer Touch. Diese Bestrebungen gibt es schon seit längerem, aber dies ist sicherlich der perfekte Moment. Das alles scheint mir nicht spontan und nicht zufällig, sondern geplant und gewollt.“
Die Anwältin und Journalistin Ileana Alamilla, Präsidentin der alternativen Nachrichtenagentur CERIGUA, will sich nicht auf Spekulationen einlassen, geht aber mit der Regierung Álvaro Colóms hart ins Gericht. Die Vorwürfe Rosenbergs an die Adresse der First Lady hätten durchaus Hand und Fuß: Der Präsident habe dem Herzen seiner Regierung, nämlich seiner Ehefrau, das Management von Abermillionen von Quetzales anvertraut – Gelder, die aus wichtigen Ministerien wie Gesundheit oder Bildung abgezogen wurden.
„Diese Gelder verwaltet jetzt die Ehefrau des Präsidenten – und das, obwohl sie überhaupt kein öffentliches Amt hat“, so Alamilla. „Sie untersteht deswegen auch nicht der Finanzüberwachung und legt keine Rechenschaft ab.“ Die Präsidentengattin sei die wichtigste Figur der Regierung, vielleicht wichtiger als der Präsident selbst. Alamillas Urteil steht fest: „Die Colóms haben die Institutionen Gua-
temalas gewaltig beschädigt, da Sandra de Colóm Aufgaben an sich reißt, für die zum Beispiel der Vizepräsident zuständig ist.“
Fest steht: Guatemalas Oligarchie geht es in erster Linie um die Verteidigung eigener Pfründe. Dass ihr plötzlich an einem demokratischen Rechtsstaat gelegen ist, wäre neu. Das System Guatemala besteht aus einer Handvoll Superreichen und einer Masse völlig Verarmter. Bislang konnten die Oligarchen noch jede Regierung wegputschen, die dieses System verändern wollte.
Auch die Regierung Colóm sei alles andere als die Verteidigerin der Rechte der Armen – auch wenn sie sich so gerne darstelle, sagt die Journalistin Alamilla. „Die Präsidentenpartei UNE hat sich als sozialdemokratische Regierung dargestellt – und damit diese Ideologie verunglimpft. Wir sind umgeben und durchdrungen von der Kriminalität und der Präsident soll nicht versuchen, diese Verantwortung auf die Vorgängerregierungen abzuwälzen.“
Alamilla ist hörbar wütend: „Ich bin es echt leid! Wenn Colóm vor der Wahl gesagt hat, er hätte ein Regierungsprogramm um die Leute, das Land von der Kriminalität zu befreien – worauf wartet er? Wir haben zu viele Tränen geweint, zu viele Menschen sind ermordet worden! Stattdessen gibt es Indizien für die Verstrickung seiner Regierung in dunkle Machenschaften. Und in solch einer Situation muss der Präsident handeln. Sonst macht er sich zum Komplizen.“
Möglich scheint derzeit vieles: Dass aus der direkten Umgebung des Präsidenten drei Morde in Auftrag gegeben worden sind – um die Veröffentlichung von Beweisen für Korruption und die Verstrickung von Regierungskreisen mit dem organisierten Verbrechen zu verhindern. Dass sich Colóm heimlich mit dem Oberstaatsanwalt traf, wobei er freilich ertappt wurde, lässt zumindest Zweifel aufkommen an Colóms Bereitschaft, den Fall eingehend und unabhängig untersuchen zu lassen.
Möglich ist aber auch, dass seine GegnerInnen aus dem Unternehmersektor ein perverser Plan eingefallen ist, den Präsidenten und dessen Ehefrau loszuwerden und durch den umgänglicheren Vizepräsidenten zu ersetzen. Auch dafür gibt es zumindest Indizien: Zum Beispiel der Journalist, der das Rosenberg-Video aufzeichnete. Dieser soll bereits in den 1980er Jahren in Putschaktivitäten gegen den damaligen Präsidenten Cerezo verwickelt gewesen sein.
Überraschen würde Enrique Corral auch das nicht: „Ich hatte schon vieles, was in diesem Land an Schrecklichem passiert ist, nicht für möglich gehalten“, so der Anwalt. Sicher sei aber, dass die CICIG durch diese Affäre gestärkt werde. „Endlich fordert die Gesellschaft lautstark eine Aufklärung. Und die internationale Kommission ist momentan die einzige Institution, die diese Aufklärung leisten kann.“
Immerhin: Durch die Morde hat die besagte internationale Kommission gegen Straffreiheit CICIG ihren ersten großen Fall. Es könnte der Anfang für größere Veränderungen in Guatemala sein – vielleicht. Denn mächtige Interessen würden beeinträchtigt: Höchst lukrative illegale Geschäfte, die Privilegien einer kleinen, mächtigen Kaste, die Korruption als bedeutendster Faktor von Entscheidungen in Politik, Justiz und Wirtschaft. Das sind die Fundamente eines politischen und gesellschaftlichen Systems in Guatemala. Und die Ursache dafür, dass Guatemala heute eines der ärmsten und gewalttätigsten Länder der Welt ist.

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