Chile | Nummer 347 - Mai 2003

Regierungsbündnis im Sumpf

Korruption zwingt die chilenische Regierung zum Schulterschluss mit der Opposition

Die Verwicklungen chilenischer Politiker in verschiedene Bestechungs- und Korruptionsskandale werden immer deutlicher. Auch der Präsident hatte während seiner Zeit als Bauminister mit dubiosen Geschäften zu tun. Die Opposition versucht ihn dennoch zu stützen, um bei den Wahlen 2006 ihren Nutzen daraus zu ziehen.

Sandra Grüninger

Korruptionsskandale haben das chilenische Regierungsbündnis Concertación in die tiefste Krise seit der Regierungsübernahme im Jahr 1990 gestürzt. Am Beginn stand eine regionale Bestechungsaffäre zu Gunsten der Vergabe von öffentlichen Bauvorhaben. Ein halbes Jahr später waren verschiedene Ministerien, Bauunternehmer und Consultingfirmen, sowie eine staatliche Universität in die dubiosen Finanzierungspraktiken verwickelt. Die Enthüllungen nehmen kein Ende und könnten das vorzeitige Ende der derzeitigen Regierungskoalition bedeuten.

Zusatzgehälter laufen über Scheinfirmen

Alles begann mit dem so genannten „Caso coimas“ (Bestechungsfall) in Rancagua. Der Unternehmer Carlos Fillipi berichtete in der Wochenzeitung Que Pasa, wie Baufirmen Extra-Zahlungen ans Bau- und Verkehrsministerium leisteten, um bei öffentlichen Vergabeaufträgen begünstigt zu werden. Im Verlauf der Untersuchungen stellte sich heraus, dass hohe Funktionäre des Bauministeriums von den Unternehmern finanzielle Unterstützung für den Wahlkampf ihrer Partei verlangten. Diese Zahlungen gingen an die Consultingfirma GATE (Gestion Ambiental y Territorial S.A. – Territoriale Umweltverwaltung).
Eine Firma hatte beispielsweise 100 Millionen Pesos (140.000 US-Dollar) für eine Umweltverträglichkeitsprüfung an GATE überwiesen. Dieser Betrag übersteigt nicht nur den Marktwert einer solchen Untersuchung bei weitem, es gibt auch keinen Nachweis über die tatsächliche Ausführung einer solchen Untersuchung. Vermutlich wurden verschiedene private Firmen wie GATE sowohl für die Umleitung von Staatsgeldern und die Zahlung unkontrollierter Zusatzausgaben als auch für Parteispenden verwendet.
Der ehemalige Bauminister Carlos Cruz hat inzwischen zugegeben, dass über GATE die Zahlungen von Zusatzgehältern abgewickelt wurden. Er hat dafür die politische Verantwortung übernommen, nicht aber mit den weit reichenden strafrechtlichen Konsequenzen gerechnet. 1.440 Millionen Pesos (2 Millionen Dollar) sind laut Rechnungsprüfungsamt zwischen 1999 und 2001 auf diesem Umweg ausgezahlt worden. Durch GATE und andere Schein-Consulting-Firmen hat das Bauministerium somit eine Parallelkasse eingerichtet, für die es keine Rechenschaft abgelegen musste. Noch ist nicht klar, ob die Unternehmer für Mehrzahlungen Gegenleistungen erhielten. Die Zusatzgehälter wurden auch im Gesundheits- und im Bildungsministerium gezahlt. Im letzteren werden beispielsweise jährlich zwei Millionen Schulstunden verrechnet, die nie gehalten wurden.

Anklage wegen Missbrauchs von Staatsmitteln

Die Vorfälle haben Diskussionen darüber ausgelöst, wie die öffentliche Verwaltung bei niedrigen Tariflöhnen die geeigneten Fachleute einstellen soll, beziehungsweise wie die hoch qualifizierten Mitarbeiter ausreichend bezahlt werden sollen. Um angemessene Löhne zu garantieren, wurde das GATE-System ins Leben gerufen. Tatsächlich wird die Zahlung von Zusatzgehältern auch weder von der Regierung noch von der Opposition in Frage gestellt, sondern als notwendig erachtet. Die Gerichte fassen sie nicht als Vergehen auf, sondern verstehen sie als Teil des Systems.
Was dem ehemaligem Minister und den anderen Angeklagten zur Last gelegt wird, sind nicht die aufgestockten Gehälter an sich, sondern der Betrug gegenüber dem Staat und der Missbrauch von Staatsmitteln. Denn über das so genannte Dreieckssystem (Unternehmer – GATE – Ministerien) wurden öffentliche Gelder umgeleitet und deren endgültige Verwendung der öffentlichen Kontrolle entzogen.
Viele der Beteiligten sind nicht zum ersten Mal in einen solchen Skandal verwickelt. GATE kam schon 1999 in die Schlagzeilen, als eine Sekretärin versucht hatte, 190 Millionen Pesos zu stehlen und schließlich vor Gericht aussagte, dass GATE nur eine Fassade für die Parteifinanzierung der Sozialisten sei. Der GATE-Eigentümer Héctor Peña war schon zu Beginn der 90er Jahre seines öffentlichen Amtes enthoben worden, als er als Mitarbeiter des Verkehrsministeriums von Busunternehmern zusätzliche Zahlungen verlangt hatte, damit diese die Konzession für den öffentlichen Nahverkehr bekämen.

Auch Lagos steckt mit drin

Bei der Überprüfung weiterer und früherer Consulting-Verträge ist die amtierende Richterin Gloria Ana Chevesich auch auf illegale Finanzierungspraktiken im Zusammenhang mit Projekten der Universität Chile gestoßen, einer der prestigeträchtigsten Universitäten des Landes. Einige der umstrittenen Verträge, bei denen ein Teil der gezahlten staatlichen Mittel oder sogar der gesamte Betrag wieder in Parallelkassen des Bauministeriums zurückgeflossen ist, wurden während Lagos Zeit als Bauminister abgeschlossen.
Somit war der derzeitige Präsident damals ebenso verantwortlich für Unregelmäßigkeiten in seinem Ministerium wie sein Nachfolger Carlos Cruz, der wegen Anklage auf Staatsbetrug über zwei Monate in Untersuchungshaft saß. Im Vorfeld einer möglichen Aussage hat Lagos bereits erklärt, dass er Vorgehensweisen genehmigt hat, aber keine konkreten Projekte. Da allerdings eine konkrete Anschuldigung des Präsidenten in niemandes Interesse ist und nur die Regierungsfähigkeit und Funktionstüchtigkeit des Landes in Gefahr bringen würde, ist es fraglich, ob Richterin Chevesich hier Lagos tatsächlich Staatsbetrug zur Last legen wird.

Illegale Wertpapierverkäufe

Der letzte große Geldskandal, der den chilenischen Staat vermutlich über 100 Millionen US-Dollar kosten wird, war der illegale Verkauf von Corfo-Wertpapieren auf dem internationalen Finanzmarkt durch die Investment-Firma Inverlink, der im Februar aufflog. Corfo (Körperschaft zur Produktionsförderung) ist eine staatliche Einrichtung zur Stärkung der Produktionskapazitäten von Unternehmen. Der Corfo-Verantwortliche für Finanzen hatte die Wertpapier-Dokumente der Investment-Firma illegal zur Verfügung gestellt, damit diese Sicherheiten für Ihre Finanz-Spekulationen vorweisen konnte. Auf Grund von finanziellen Engpässen begann Inverlink, diese Wertpapiere zu verkaufen, die dann von Dritten eingelöst wurden, was schließlich einem Bankangestellten auffiel und zur Aufdeckung des Skandals führte.
Das Bekanntwerden des Inverlink-Betruges, an deren Spekulationen praktisch alle chilenischen Banken und privaten Fonds, auch die privaten Kranken- und Rentenkassen, beteiligt waren, führte zu einem panischen Rückzug großer Mengen von Kapital vom Finanzmarkt. Es kehrte erst wieder Ruhe ein, als die Regierung mit den Banken eine Vereinbarung unterschrieb, dass die Wertpapier-Dokumente im Umlauf nicht eingefroren werden, sondern eingelöst und Zinsen erzielt werden können, bis die Gerichte entscheiden, wem die Gelder zum jetzigen Zeitpunkt gehören: Corfo, dem ursprünglichen rechtmäßigen Eigentümer, oder den verschiedenen Institutionen, die die Dokumente in gutem Glauben von Inverlink erworben hatten. Inverlink hatte nämlich alle Hinweise auf Corfo aus dem Dokument entfernt.

Kuscheln mit der Opposition

Eine der bemerkenswertesten Konsequenzen der Krise ist der Schulterschluss von Regierung und Opposition, der praktisch zu einer Mitregierung der rechten Oppositionsparteien geführt hat.
Dabei handelt es sich bei der Unterstützungsstrategie zu Gunsten des gebeutelten sozialistischen Präsidenten Ricardo Lagos von Seiten der rechten UDI (Unabhängige Demokratische Union) wohl weniger um die uneigennützige Sorge um das „Wohl des Landes“ wie Parteichef Pablo Longeira gerne betont, sondern vielmehr um politisches Kalkül. Jeder Regierungsskandal macht den Sieg der Rechten in den nächsten Präsidentschaftswahlen wahrscheinlicher. Auch wenn bereits erste Gerüchte um einen möglichen Rücktritt Lagos kursieren, stärkt die Opposition, vor allem die UDI, den Präsidenten. Demokratie-Defizit ist immer noch eine der Hauptschwächen im öffentlichen Image der Partei. Daher zieht die UDI es vor, mit ihrem Kandidaten Joaquín Lavín im Jahr 2006 einen klaren Wahlsieg zu erzielen, als während einer laufenden Legislaturperiode eine marode Staatsverwaltung zu übernehmen.

Parteipolitische Spielchen

Ohne Verhandlungs- und Kollaborationsbereitschaft von Seiten der Opposition wäre die Regierung praktisch regierungsunfähig, da sie wegen der knappen Mehrheit im Senat keine wichtigen Gesetze ohne Stimmen der Opposition verabschieden kann.
So wurde unter Führung der UDI der so genannte „Modernisierungspakt“ geschlossen, ein Paket von über 40 Gesetzen, die Korruption und andere Auswüchse von schlechter Verwaltung beenden sollen. An Stelle von Parteizugehörigkeit und parteipolitischen Quoten soll künftig die Qualifikation über die Einstellung im öffentlichen Dienst entscheiden und damit der Einfluss der Parteien auf den Staatsapparat reduziert werden. Über 20 dieser Gesetze sollen noch im Mai in Kraft treten, so dass Lagos in seiner Jahresansprache zum 21. Mai erste Erfolge vorweisen kann.
Dieser strategische All-Parteien-Pakt kann nicht über die parteipolitischen Machtkämpfe hinter den Kulissen hinwegtäuschen und ist zumindest von der UDI genutzt worden, um ihre Vorreiterrolle gegenüber dem Wahlbündnispartner Nationale Erneuerung (RN) weiter auszubauen. Die RN hatte im vergangenen Jahr ihre Kontakte zu den unter dem neuen Vorsitzenden Adolfo Zaldivar weiter nach rechts gerückten Christdemokraten ausgebaut, um mit diesen „Concertactions“-Müden eventuell eine neues Mitte-Bündnis aufzubauen. Die ChristdemokratInnen ihrerseits hatten unter Lagos innerhalb des Regierungsbündnisses eine kritische Haltung eingenommen, mit dem Ziel, sich für die nächsten Wahlen parteipolitisch zu profilieren.

Politischer Skandal um Bachelet

Deutliches Zeichen, dass Staatspräsident Lagos derzeit ein gutes Einverständnis mit den Oppositionsparteien wichtiger ist als mit den eigenen Koalitionspartnern ist die Ernennung von Vittorio Corbo als Nachfolger für den infolge der Skandale zurückgetretenen Zentralbank-Präsidenten Carlos Massad. Corbo, ein international anerkannter Wirtschaftswissenschaftler, ist Verfechter des neoliberalen Modells und steht den rechten Parteien näher als der Concertación.
Der bisher letzte politische Skandal der Concertación ist eine öffentliche Erklärung der linken illegalen bewaffneten Gruppierung „Frente Patriótico Manuel Rodriguez“, dass die derzeitige sozialistische Verteidigungsministerin Michele Bachelet Ende der 80er Jahre der Gruppierung angehört habe. Damit wurde eine der glaubwürdigsten Figuren der Concertación und mögliche Präsidentschaftskandidatin in Misskredit gebracht. Bachelet, Tochter eines von den Militärs nach dem Putsch ermordeten Generals und erste Frau auf ihrem Posten in Lateinamerika, bekam inzwischen Rückendeckung von den Oberbefehlshabern der Streitkräfte.
Bleibt abzuwarten, wie regierungsfähig eine Regierung bleibt, deren Existenz momentan vom Wohlwollen der Opposition abhängt.

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