Ring frei für 2012
Opposition muss erneut gegen Chavez antreten
Er ließ sich nicht lange bitten. Unmittelbar nach Bekanntgabe des Ergebnisses am 15. Februar erschien Hugo Chávez auf dem Balkon des Präsidentenpalastes Miraflores. Sofern ihm dies seine Gesundheit gestatte und die Bevölkerung nichts dagegen habe, sei er nun bereits Vorkandidat für die Präsidentschaftswahlen 2012, rief der venezolanische Präsident tausenden jubelnden AnhängerInnen entgegen. In seiner gut einstündigen Rede kündigte er unter anderem an, in diesem Jahr das bisher Erreichte konsolidieren und den Kampf gegen bestehende Probleme wie Unsicherheit, Korruption, Ineffizienz und Bürokratismus intensivieren zu wollen. Kurz zuvor hatten die WählerInnen mehrheitlich für die Änderung von fünf Verfassungsartikeln gestimmt. Damit ist es allen gewählten AmtsträgerInnen in Zukunft erlaubt, sich beliebig oft als KandidatIn aufstellen zu lassen. Maßgeblich ging es bei dem Referendum aber um die Person Chávez, der bei einer Niederlage nach dem Ende seiner zweiten vollen Amtszeit 2012 nicht noch einmal hätte kandidieren dürfen.
Nach Auszählung von 99,75 Prozent der abgegebenen Stimmen kam das „Ja“ auf 54,85 Prozent, während das „Nein“ 45,15 Prozent erreichte. Bei einer Wahlbeteiligung von gut 70 Prozent votierten somit über 6,3 Millionen WählerInnen für die Verfassungsänderung und fast 5,2 Millionen dagegen. Neben den Staaten Zulia, Táchira, Miranda und Nueva Esparta, wo die Opposition bei den Regionalwahlen im vergangenen November die Gouverneursposten erringen konnte, bekam die Option „Nein“ auch in Mérida eine Mehrheit. Im Staat Carabobo und dem Großraum Caracas gewann jedoch das „Ja“, obwohl die Opposition bei den Wahlen im November dort jeweils die Nase vorn hatte. Zum Sieg des Regierungslagers hat wohl auch die Versöhnung zwischen Chávez und den kleineren Bündnisparteien der Vereinten Sozialistischen Partei Venezuelas (PSUV) beigetragen. Vor den Regionalwahlen hatte er PPT (Heimatland für Alle) und die PCV (Kommunistische Partei) noch scharf angegriffen und als konterrevolutionär beschimpft, weil sie in manchen Staaten eigene KandidatInnen aufgestellt hatten. Im Januar entschuldigte sich der Präsident für seine verbalen Ausfälle. Zudem war die Wiederwahlmöglichkeit auf Drängen von PPT und PCV auf alle AmtsträgerInnen ausgeweitet worden. Ursprünglich sollte sie wie in der gescheiterten, umfassenden Verfassungsreform 2007 nur für das Präsidentenamt gelten.
Das Oppositionsbündnis erkannte das Ergebnis an und wertete es als Indiz für einen Rückgang von Chávez‘ Popularität. Zuvor hatte es Spekulationen darüber gegeben, ob die Opposition das Ergebnis im Falle eine Niederlage überhaupt akzeptieren würde. Während Chávez und zahlreiche ihm nahestehende PolitikerInnen wiederholt betonten, dass sie sich dem Wählervotum unter allen Umständen beugen wollten, hüllten sich VertreterInnen der Opposition bis zuletzt in Schweigen. Der ehemalige Chávez-Unterstützer Ismael García von der Partei Podemos hob hervor, dass es der Opposition erstmals gelungen sei, mehr als fünf Millionen Stimmen zu bekommen. Er bat Chávez, sorgsam mit dem Erfolg umzugehen. David Smolansky kritisierte als Sprecher der oppositionellen Studierenden den „Machtmissbrauch der Regierung“ und die „Kriminalisierung der Studierendenbewegung“. Leopoldo López, der Ex-Bürgermeister von Chacao, beklagte, die Regierung sei medial stärker vertreten als die Opposition „Dies war eine Kampagne, in der David gegen Goliath angetreten ist und Goliath gewonnen hat“, sagte er. Die Regierung konterte mit dem Hinweis, die oppositionellen Medien hätten massiv für das „Nein“ mobilisiert. Tatsächlich standen der intensiven Wahlkampagne der Regierung die immer noch mächtigen privaten Medien gegenüber. Laut einer von der Nichtregierungsorganisation Observatorio de Medios veröffentlichen Studie, wiesen in den Wochen vor dem Referendum etwa drei Viertel der Medienbeiträge über das Referendum eine klare Tendenz zum „Nein“ auf.
Aus den Reihen der Opposition waren in den Tagen nach der Abstimmung aber auch ungewohnt selbstkritische Töne zu vernehmen. „Wir haben uns wie schlecht erzogene Kinder darauf beschränkt ‚Nein heißt Nein‘ zu sagen“, bemängelte der oppositionelle Bürgermeister des Hauptstadtdistriktes, Antonio Ledezma. Der Vorsitzende der sozialdemokratischen Traditionspartei Demokratische Aktion (AD), Henry Ramos Allup, forderte die Opposition dazu auf, Alternativen zu entwickeln, anstatt die Vorteile der Regierung für die Niederlagen verantwortlich zu machen.
In dem ungewöhnlich kurzen Wahlkampf hatte zuvor keine ernsthafte Debatte über die Vor- oder Nachteile der Verfassungsänderung stattgefunden. Die Regierung stellte die Verfassungsänderung als „Ausweitung der politischen Rechte“ dar, weil eine gute Amtsführung dann nicht mehr durch das Verbot einer erneuten Kandidatur nach zwei Amtszeiten beendet werden müsse. Die Opposition hingegen beschränkte sich darauf, das Referendum als Abstimmung für oder gegen eine „Präsidentschaft auf Lebenszeit“ darzustellen. In dieser eigenwilligen Interpretation des Rechtes auf unbegrenzt häufige Kandidatur klingt eines mit: Die Opposition weiß genau, dass sie aus heutiger Sicht nur dann eine Chance hat, wieder an die Macht zu kommen, wenn Chávez nicht noch einmal antreten darf. Dennoch feierten zahlreiche Oppositionsvertreter das Ergebnis als gute Ausgangsposition für die kommenden Wahlen und legten damit die zuvor verfolgte Wahlkampfstrategie sofort ad acta. Es spricht tatsächlich einiges dafür, dass die Opposition gestärkt aus der jüngsten Niederlage hervorgehen wird. Denn auch wenn am rechten Flügel der chavistas vielleicht einige heimlich das „Nein“ bevorzugt haben, können über fünf Millionen Stimmen durchaus als Erfolg für die Opposition verbucht werden. Ob daraus tatsächlich ein leichter Verfall von Chávez‘ Popularität abgeleitet werden kann, ist jedoch fragwürdig. Bei den Regionalwahlen im vergangenen November und dem gescheiterten Verfassungsreferendum von 2007 hatte sich der Präsident ähnlich stark ins Zeug gelegt und versucht, seine Popularität gezielt einzusetzen, ohne an den fulminanten Sieg bei den Präsidentschaftswahlen 2006 anknüpfen zu können. Damals hatte Chávez 7,3 Millionen Stimmen bekommen. Beim Verfassungsreferendum 2007 waren es hingegen nur 4,3 Millionen, bei den Regionalwahlen 2008 immerhin fast 5,5 Millionen. Verglichen mit den beiden letzten Wahlergebnissen konnte das chavistische Lager somit wieder zulegen. Doch ist eine Zunahme der Bedeutung der Opposition in den nächsten Jahren unausweichlich. Dadurch, dass sie nun in immerhin fünf Staaten regiert, kann sie versuchen, sich den WählerInnen nicht nur als planlose Frontalopponentin ohne eigenes Projekt, sondern als politische Gestalterin zu präsentieren. Bei den Parlamentswahlen 2010 wird sie in jedem Fall einen bedeutenden Teil der Sitze in der Nationalversammlung gewinnen. Sollte sich der Ölpreis bis dahin nicht wieder erholt haben oder die Regierung bei den drängendsten Problemen des Landes keine Fortschritte erzielen, könnte die Opposition gar von der Parlamentsmehrheit träumen. Denn das Hauptproblem der chavistas dürfte wieder in der Mobilisierung der eigenen Leute liegen. Da sich die meisten VertreterInnen der Opposition mittlerweile von gewaltsamen Umsturzfantasien abgewendet haben und die Teilnahme an Wahlen und Referenden als primäre politische Option akzeptieren, werden sie sich in den nächsten Jahren als politische Kraft im Land festigen können.
Und so waren nach dem Referendum am 15. Februar auf beiden Seiten des politischen Spektrums auch Stimmen zu vernehmen, die einen politischen Dialog als Ausweg aus der sich weiter verfestigenden Polarisierung vorschlugen. „Wir müssen begreifen, dass die Opposition im politischen Panorama vorhanden ist“, sagte PPT-Generalsekretär José Albornoz. Der Vizepräsident der PSUV, Alberto Müller Rojas, schlug einen Dialog vor und bezeichnete die kommenden Parlamentswahlen als „wichtigen Meilenstein“, weil der geeignete Raum für politische Debatten das Parlament sei. Jorge Rodríguez, der chavistische Bürgermeister des Municipio Libertador in Caracas, sagte, es läge alleine an der Opposition, ob es Gespräche gebe oder nicht: „Die Brücke ist bereits gelegt, wir werden sehen, ob die Opposition sie überquert oder in die Luft sprengt“. Julio Borges von der rechten Oppositionspartei Primero Justicia (Zuerst Gerechtigkeit) zeigte sich prinzipiell zum Dialog bereit, knüpfte diesen jedoch an die Bedingungen, dass Chávez mit oppositionellen GouverneurInnen und BürgermeisterInnen kooperiere und das Problem der Kriminalität von allen Sektoren des Landes gemeinsam gelöst werde.
Chávez selbst zeigte sich zunächst skeptisch über die Vorschläge zum Dialog, obwohl er in seiner Siegesrede zumindest Andeutungen in diese Richtung gemacht hatte. Es werde „keinen Pakt mit der Oligarchie“ geben. Er forderte von der Opposition, die Bevölkerung zu respektieren und damit aufzuhören, erfolgreiche Regierungspolitiken wie die Sozialprogramme zu attackieren. Der ehemalige Vizepräsident José Vicente Rangel sprach sich anschließend hingegen für einen Dialog aus und betonte, dass die politischen Spannungen auf Dauer den Transformationsprozess im Land gefährden könnten. „Es ist möglich, in einem Land mit weniger Konflikten zu leben, ohne dass dies bedeutet, die Veränderungen zurücknehmen zu müssen oder Pläne und Projekte über Bord zu werfen“, sagte der allseits respektierte TV-Journalist.
Unabhängig von einer möglichen zukünftigen Stärkung der Opposition stehen dem bolivarianischen Prozess große Herausforderungen bevor. Bei sich verschlechternden Einnahmen aufgrund des fallenden Ölpreises muss die Regierungspolitik effizienter und die Wirtschaftsstruktur umgebaut werden. Durch das für die chavistas positive Ergebnis beim Referendum bleibt ihnen jetzt zwar eine vielleicht aufreibende Nachfolgediskussion erspart. Hugo Chávez gilt den meisten immer noch als einziger Garant für den Zusammenhalt des heterogenen bolivarianischen Lagers. Gleichzeitig zeigt das Ergebnis aber auch mehr denn je, dass unbedingt politische Strukturen gefestigt werden müssen, mit denen der Prozess auch nach der Ära Chávez vertieft werden kann. Sollte Chávez die Präsidentschaftswahlen 2012 gewinnen, bleiben den chavistas sechs weitere Jahre Zeit, um robuste Weichen für die Zeit nach ihm zu stellen. Die Grundfrage wird dabei nach wie vor sein, ob hierarchische Tendenzen von oben oder basisdemokratische Prinzipien von unten gestärkt werden.
// Tobias Lambert