Schule nachholen für den sozialen Wandel
Wie die sozialen Bewegungen das staatliche Bildungssystem herausfordern
Bachillerato nennt sich der allgemeine argentinische Schulabschluss, der nach zwölf vollendeten Schuljahren vergeben wird. Anders als in Deutschland gibt es in Argentinien kein mehrgliedriges Schulsystem – die Entscheidung zwischen Hauptschule oder Gymnasium ist nicht nötig. Nach erfolgreicher Vollendung der Schullaufbahn haben alle den gleichen Abschluss in der Tasche, so dass im Kindesalter keine Selektion mit lebenslangen Konsequenzen stattfindet. Diese scheinbar gleichberechtigte Ausgangslage ist aber nur die Fassade der Bildungslandschaft. Die gesellschaftliche Realität offenbart ein anderes Bild. Neben der sich verschärfenden sozialen Schieflage durch die immer größer werdende Anzahl von Privatschulen existieren in den öffentlichen Schulen ernsthafte Schulabbruch-Probleme.
Das sozialpolitische Forschungsinstitut Barómetro de la Deuda Social hat kürzlich eine Studie veröffentlicht, die zeigt, dass insgesamt 35 Prozent der Jugendlichen zwischen 13 und 17 Jahren ein Bildungsdefizit haben. Das bedeutet, sie nehmen entweder nicht am Schulunterricht teil oder sie liegen weit hinter den ihrem Alter entsprechenden Schulklassen zurück. Die Quote der Schuldesertion, also des vorzeitigen Schulabbruchs, ist besonders in den letzten drei Jahren der Schullaufbahn alarmierend. Aktuell liegt sie in diesem Zeitraum bei 17 Prozent – das sind 900.000 Jugendliche. Deswegen wird nicht zu Unrecht im Hinblick auf die Bildung von einer „verlorenen Generation“ gesprochen.
Zurückzuführen sind die Abbrüche vor allen Dingen auf die ökonomische Ausgangslage der SchülerInnen – die Korrelation zwischen Armut und Schulabbruch ist sehr deutlich. Staatliche Stellen geben an, dass 6,5 Prozent oder 200.000 der Kinder zwischen fünf und 13 Jahren arbeiten. Ungefähr die Hälfte dieser Kinder besucht keine Schule. Bei den Jugendlichen zwischen 14 und 17 Jahren liegt die Zahl der Erwerbstätigen bereits bei 20 Prozent und in ländlichen Regionen ist der Anteil um weitere zehn Prozent höher. Angesichts dieser offiziellen Zahlen, deren Dunkelziffer mit Sicherheit weitaus höher liegt, scheint es nicht verwunderlich, dass Millionen von ArgentinierInnen niemals das bachillerato erlangen.
Neben den zugrunde liegenden individuellen Aspekten trägt der neoliberale Umbau des Schulsystems in den 1990er Jahren auf negative Weise seine Früchte. Im Zuge der marktwirtschaftlichen Umorientierung und Deregulierung des Bildungssystems wurden die Lehrpläne und -formen dahingehend verändert, dass sich die Ausbildung der Heranwachsenden stark am Erlernen von partiellen und praktischen Fähigkeiten einer fordistischen Arbeitswelt orientiert. „Lernen, um zu machen“ bezeichnet Roberto Elisalde, einer der Gründer des bachillerato popular in der selbstverwalteten Metallfabrik IMPA und Forscher im CEIP, einem Zusammenschluss von kritischen BildungsforscherInnen, die Formel der offiziellen Bildung. „Anstelle eines fundamentalen Rechts auf Bildung hat die veränderte Konzeption dem Wissen einen zunehmend marktorientierten Charakter im Sinne einer Dienstleistung verliehen“, analysiert Elisalde die Verschiebungen auf diesem Gebiet. Jener Schulform, die durch Exklusion geprägt ist, setzen die bachilleratos populares eine offene Konzeption des „Lernens zum Sein“ entgegen, betont der Lehrer. Er führt aus, dass es dabei vor allem darum geht, die Lernenden zum autodidaktischen Selbsterlernen zu befähigen und verweist auf die lange Tradition der educación popular, welche sich gegen die weit verbreitete Vorstellung der linearen und als hierarchischer Prozess verlaufenden Wissensübertragung stellt. Ziel dieser „befreienden“ Volksbildung ist es, durch eigenständige Erarbeitung von Problemen und Aneignung von Lösungsmöglichkeiten kritische Individuen zu schaffen. Diese Form der emanzipatorischen Bildung wird seit vielen Jahrzehnten auf verschiedene Weise von linken Organisationen, Stadtteilgruppen und Bildungskollektiven betrieben und bildet den Hintergrund für das Phänomen bachillerato popular.
In einem dieser Bildungskollektive ist Diana Hernández organisiert. Die 27-jährige Aktivistin engagiert sich zum einen in der Frente Popular Darío Santillán (FPDS), welche bundesweit neben Arbeitslosengruppen auch Stadtteilinitiativen und Organisationen von ArbeiterInnen sowie Studierenden vereint. Gleichzeitig unterrichtet die Literaturstudentin Kunst und Literatur im Bachillerato Popular Roca Negra, welches sich in Lanús, einem der einwohnerreichsten und gleichzeitig ärmsten Vororten von Buenos Aires, befindet. Dort teilt die Schule sich ein drei Wohnblocks umfassendes, zunächst besetztes und jetzt legalisiertes Grundstück mit vielen anderen Projekten der FPDS.
Hernández erzählt, wie seit der Gründung ihrer Organisation diverse wöchentliche Workshops auf verschiedenen Gebieten, darunter Kunst, Handwerk oder Kommunikation, durchgeführt wurden. „In diesem Rahmen tauschten sich die Leute aus der Nachbarschaft aus und eigneten sich gemeinsam Wissen an“, betont sie. „Vor diesem Hintergrund entstand die Idee, so etwas wie eine Schule für diejenigen Organisationsmitglieder aufzubauen, die keinen Schulabschluss gemacht haben. Für sie, für ihre Verwandten und ihre Nachbarn.“ Hernandez macht eine kurze Pause und fährt fort: „Eigentlich ist es wie so oft im Leben gewesen: Die Lust hat sich da mit der Notwendigkeit gepaart.“ Das „Bachi“, wie es von vielen liebevoll genannt wird, existiert seit dem Jahr 2007 und ist eines von vielen alternativen Erwachsenenbildungszentren, die in den letzten Jahren vor allem im Großstadtgebiet Buenos Aires entstanden sind. Gemeinsam ist ihnen trotz aller Unterschiede die Formalisierung der früheren Volksbildungsansätze. Aus unregelmäßigen Workshops und Gesprächskreisen ist somit eine verbindliche Schule entstanden. Das Ziel ist aber das gleiche geblieben, betont Hernández: „Wir versuchen einen anderen Bildungsvorschlag zu entwickeln, der auf ein Subjekt abzielt, das aus seiner Alltäglichkeit heraus widerständig ist und das sich aktiv, nicht passiv, den tagtäglichen Problemen stellt.“
Zurzeit gibt es in Argentinien über 30 solcher alternativer Schulen mit mehr als 3.000 SchülerInnen und 350 LehrerInnen – Tendenz steigend. Alle sind durch die Initiative sozialer Bewegungen entstanden und nutzen oft die Räumlichkeiten von selbstverwalteten Projekten. Der Unterricht findet zumeist an vier Wochentagen zwischen 18 und 22 Uhr statt. Die ehrenamtlichen LehrerInnen sind größtenteils Studierende oder Graduierte der lokalen Universitäten. Sie bilden immer Zweierteams, welche die Unterrichtseinheiten leiten. Die Arbeit im Team ist, ebenso wie der horizontale und gleichberechtigte Austausch aller Teilnehmenden, zentraler Bestandteil des Bildungskonzepts. Die SchülerInnen, die meistens schon mehrere Nachholversuche hinter sich haben, sind zwischen 16 und 75 Jahren alt und in der Mehrzahl Frauen, nicht selten Mütter. Im Fall von Roca Negra werden „Philosophie für Kinder“ und andere Themen zur Kinderbetreuung angeboten, wodurch der regelmäßige Schulbesuch für viele Schülerinnen erst möglich wird.
Die Unterrichtsfächer gleichen denen von herkömmlichen Schulen, es werden unter anderem Naturwissenschaften und Mathematik, Literatur, Sozialwissenschaften und Kunst unterrichtet. Da die meisten bachilleratos populares von Stadtteilaktiven gegründet wurden, fokussieren sie sich auf den berufsbildenden Schwerpunkt Gemeindeorganisation.
Ein wesentlicher Unterschied zu den staatlichen Schulen ist die Gestaltung des Lehrplans, welcher zwar durch die Lehrenden vorgeschlagen wird, aber letztlich von allen debattiert, verändert und ergänzt werden kann. Inhaltlich setzen die alternativen Bildungszentren vor allem bei den sogenannten weichen Wissenschaften eigene Akzente: Hier wird etwa Sarmientos Gaucho-Roman „Facundo“ oder ähnliche argentinische Gründungsliteratur durch die Erzählungen des zapatistischen Subcomandante Marcos ersetzt. In den Naturwissenschaften wird der Versuch unternommen, praktischere und stärker alltagsrelevante Fragen zu behandeln, wobei sich auf diesen Gebieten das Ausbrechen aus den traditionellen Bildungsinhalten in der Regel schwieriger gestaltet.
Aktuell werden lediglich die Titel von elf Schulen staatlich anerkannt und berechtigen wie die an formellen Schulen erworbenen Abschlüsse zum Universitätsstudium. Staatliche Subventionen existieren anders als in vielen Privatschulen nicht. Stattdessen müssen SchülerInnen und LehrerInnen gemeinsam für die laufenden Kosten aufkommen. Dies stellt ebenso wie die Bewältigung der Instandhaltungs- und Reinigungsaufgaben einen zusätzlichen Aufwand für die TeilnehmerInnen dar. Viele der Klassenräume befinden sich in einem prekären Zustand, besonders die kalten Wintermonate sind eine Herausforderung. Allen Beteiligten ist klar, dass weder die Zahlung der laufenden Kosten, noch die ehrenamtliche Arbeit, die neben der Lohnarbeit zu einer ermüdenden Doppelbelastung wird, eine langfristige Perspektive darstellen.
Um sich gemeinsam für ihre Ziele einzusetzen, sind die meisten der Schulen in der Koordination „Bachilleratos Populares im Kampf“ zusammengeschlossen. In unregelmäßigen Abständen veranstaltet das Bündnis Demonstrationen, an denen die „Bachis“ geschlossen teilnehmen, um den Verhandlungen mit dem Bildungsministerium Nachdruck zu verleihen. Den spektakulärsten Protest des Zusammenschlusses gab es im vergangenen Jahr bei der Eröffnung der Buchmesse in Buenos Aires, als SchülerInnen und LehrerInnen durch Rufe und mit Transparenten die Eröffnungsfeier störten. Ihre vier zentralen Forderungen waren die Anerkennung aller Schulen, die Finanzierung von Gehältern für die LehrerInnen, die Vergabe von Stipendien für SchülerInnen und die Bereitstellung und Instandhaltung der Infrastruktur sowie des täglichen Lehrmittelbedarfs. Ihre zentrale Bedingung ist dabei die Beibehaltung der Autonomie der Projekte durch vollkommene organisatorische, politische und pädagogische Unabhängigkeit vom Staat.
Das Eindringen des Bachilleratos in staatliches Terrain ist mit der Hoffnung verbunden, dem Gegenentwurf zur offiziellen Bildung Legitimität zu verleihen. Die Idee ist, somit in der Lage zu sein, als Bildungsalternative in Konkurrenz zu treten und „die traditionellen Praktiken der öffentlichen Schulen zu überschwemmen“ (aus einem Diskussionspapier der FPDS). Mit Hilfe der educación popular geht es darum, den Staat und dessen Monopolstellung herauszufordern, die schulische Bildung zu reglementieren und deren Formen und Inhalte zu bestimmen.
Dass der eingeschlagene Weg kein leichter ist, erscheint allen klar. Ein Blick in die jüngere Geschichte offenbart die Fallstricke herrschaftlicher Vereinnahmungsversuche und den daraus resultierenden Unabhängigkeitsverlust sozialpolitischer Organisationen. Warnendes Beispiel ist die Instrumentalisierung von einigen Arbeitslosenorganisationen durch die linksperonistische Regierung, der es durch politische Anerkennung und finanzielle Unterstützung dieser Vereinigungen gelingt Wahlklientel zu sichern. Dennoch bewegen sich die AktivistInnen bewusst mit der Forderung nach staatlicher Anerkennung und Subventionen in das komplexe Konfliktfeld zwischen Staat und sozialer Bewegung. Laut dem Grundsatzpapier des Bachillerato im IMPA haben sie dabei ein großes Ziel vor Augen: „Die Schaffung einer selbstverwalteten Gesellschaft, deren Institutionen, wie die Schule, die individuelle und kollektive Autonomie begünstigen und ermöglichen sollen.“