Kultur | Nummer 343 - Januar 2003

Schutzengel auf Tournee

Interview mit Pichon Baldinu, dem Mitbegründer von De La Guarda

Agneszkia Szmidt / Jürgen Vogt

Ende des Jahres 2001 trat De La Guarda in Buenos Aires auf. In dieser Zeit, musste Präsident De la Rúa sein Amt niederlegen. Wie haben die Leute damals auf die Show reagiert?

Die Leute waren wie verrückt, sie haben geschrien, sind herumgetobt und haben mitgespielt. In Argentinien ist das Publikum wild und mutig. Die Leute erlebten damals, wie der Staat den Bach hinunter ging. Sie kamen zu unserer Show, um sie zu genießen, sich innerlich aufzubauen und zu reinigen. Aber auch um ihre negative Energie und Wut loszuwerden und die positive Energie der Aufführungen aufzunehmen. Die Schauspieler können an der Choreographie etwas ändern, aber das Wesentliche ist das Publikum. Die Show selbst bleibt gleich, aber durch die Menschen wirkt sie in Amsterdam oder in Berlin anders als in Argentinien.

Wo liegen die Wurzeln von De La Guarda?

Die Militärdiktatur hatte in Argentinien ein „kulturelles Vakuum“ hinterlassen. Wir begannen unser artistisches Leben und Schaffen also als eine Art Waisenkinder, da uns die kulturellen Vorbilder fehlten. Unsere einzige Möglichkeit war, uns eigene Ausdrucksformen auszudenken und ein Publikum dafür zu suchen. Mitte der 80er Jahre begannen wir mit der Organisación Negra, die bis 1990 bestand. De La Guarda entstand 1993. Wir haben damals neu angefangen. Einige Leute von Organisacíon Negra blieben, wie beispielweise der Musiker Gary Kerpel, andere kamen dazu. In dieser Zeit entwickelte sich der Underground sehr stark. Das war unsere Schule. Wir fingen an, an unseren Ideen zu arbeiten, wir haben in Rockclubs gespielt und zeigten etwas wie Performance. Keiner kannte den Namen De La Guarda. Wir hatten kein Geld und keine andere Arbeit. Meistens haben wir uns von Eltern und Freunden etwas geliehen. Wir dachten uns „na, vielleicht eines Tages…“

Und wie seid ihr aus dieser Situation herausgekommen?

1995 konnten wir dann ein Zelt im Kulturzentrum Recoleta in Buenos Aires finanzieren. Danach gingen wir auf Tournee und traten bei Festivals auf. Ein US-amerikanischer Produzent sah uns und wollte die Show in den USA zeigen. Damit konnten wir schon das Spektrum der Festivals verlassen, denn auf Festivals kannst du nur einmal auftreten. In New York funktionierte die Show als kommerzielles Spektakel. Und so ist es bis heute.

In Argentinien lief die Show unter dem Titel Villa Villa. Mit villa wird dort ein Elendsviertel bezeichnet. Was bedeutete die Doppelung?

Das ist ein Ausdruck, den wir für uns erfunden hatten, als wir anfingen und kein Geld hatten. Wir sagten: OK, machen wir Villa Villa. Das hieß, wir gingen los und suchten uns Material. Hier irgendwelchen Papierkram, dort ein Stück Draht. Daraus haben wir dann etwas gemacht, und geschaut, ob es uns gefällt. Das Spektakel heute ist kein Villa Villa. Villa Villa war der Prozess, bei dem wir uns weiterentwickelt, unsere Ideen umgesetzt haben, und der schließlich De La Guarda hervorbrachte.

Wie seid ihr auf den Namen De La Guarda gekommen?

Weil es uns so erschien, dass wir durch die Gefühle und die Energie, die wir einerseits haben und die auf der anderen Seite die Show zusammen mit dem Publikum bewirkt, wie ángeles de la guarda, wie Schutzengel, sein können. Wir können die Emotionen des Publikums behüten und die Seele der Zuschauer schützen. Wir erspüren was das Publikum will und geben ihnen alles.
Interview: Agneszkia Szmidt / Jürgen Vogt

Kasten:
Angeles de la guarda
Sie gehen die Wände hoch, sie fliegen über den Köpfen des Publikums, sie singen, schreien und trommeln. Seit Dezember gastiert De La Guarda aus Argentinien in Deutschland. Zuerst Berlin, dann Hamburg, Köln, Frankfurt und abschließend in München.
De La Guarda ging aus der 1984 gegründeten kleinen und unbekannten Theatergruppe Organisación Negra hervor. Die Mitbegründer dieses langjährigen Underground-Theaterprojektes waren die Schauspieler und Dramaturgen Pinchon Baldinu und Diqui James und der Komponist Gaby Kerpel. Ab 1993 entwickelte sich die Gruppe zu einem anspruchsvollen Theaterspektakel, das mittlerweile das Publikum in New York und London eroberte. Der Name De La Guarda ist die Abkürzung vom spanischen Ángel de la guarda – Schutzengel.
De La Guarda ist eine faszinierende 70-minütige Show voller Phantasie und Energie, Poesie und treibenden Rythmen. Sie wird von 15 SchauspielerInnen und PerformerInnen mit den verschiedensten Elementen, wie zum Beispiel Bergsteigen und Akrobatik, Tänze und Freeclimbing, gestaltet. Diese schweben abwechselnd zwischen Wasserströmen, Licht und Musik im Raum. De La Guarda wird heute von einem der Großen in der Musicalbranche vermarktet. Es möge sich also niemand über den professionell durchkommerzialisierten Eventcharakter wundern.
www.delaguarda.de

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