Mexiko | Nummer 285 - März 1998

Sie versuchen es an gefährlicheren Stellen

Interview mit Arturo Solís, Präsident des Centro de Estudios Fronterizos y de Promoción de los Derechos Humanos AC., einer Menschenrechtsorganisation, im mexikanischen Bundesstaat Tamaulipas an der Ostküste.

Boris Kanzleiter

Herr Solís, Sie arbeiten in einem Menschenrechtsprojekt in Reynosa, einer Grenzstadt zu den USA. Mit welchen Problemen sind Sie hauptsächlich konfrontiert?

Die Hauptprobleme an der Grenze haben mit Menschenrechten zu tun. Ein Problem ist die Migration. Besonders die Grenze im Bundesstaat Tamaulipas ist eine Region großer Migration von Zentralamerikanern und Mexikanern nach den USA. Über Belize kommen auch Menschen aus Ländern wie Pakistan oder Indien. Sie zahlen Tausende Dollar, damit sie in die USA gelangen. Dies zieht Gewalt an der Grenze nach sich. In den letzten sieben Jahren sind auf einem Grenzabschnitt von nur 300 km 852 Menschen beim Versuch, die Grenze über den Fluß Rio Grande zu überqueren, umgekommen.
Dann gibt es den Drogenhandel. Er provoziert innerhalb der Polizeikräfte Korruption und begünstigt Straflosigkeit. Die Drogenhändler, die der Öffentlichkeit allgemein bekannt sind, werden durch die staatlichen Autoritäten in keiner Weise belangt. Dies hat eine große Anzahl von Verbrechen zur Folge, die vom Drogenhandel ausgehen, bei denen die Verantwortlichen aber nie verhaftet werden.
Ein weiteres Problem stellt der illegale Waffenhandel von den USA nach Mexiko dar. Dieser bedingt ebenfalls Repressionen auf mexikanischer Seite gegen die Bevölkerung im allgemeinen, da Straßenkontrollposten des Militärs aufgebaut werden und das Militär in den Grenzstädten in der Funktion der zivilen Polizei Kontrollen durchführt.
Auch die Verschmutzung der Umwelt ist ein Problem, mit dem wir konfrontiert sind. Die Nordgrenze ist ursprünglich keine industrialisierte Region. Als die Maquiladoras in den 60er Jahren entstanden sind, war ihre Funktion – laut damaligen Angaben – Mexikanern vorübergehend Arbeit zu verschaffen, die aus den USA ausgewiesen wurden, als das Bracero-Programm auslief. Allerdings wurden die Maquiladoras gebaut, um zu bleiben. Sie haben Probleme verursacht, die es vorher nicht gab, wie beispielsweise die Verschmutzung des Wassers. Sie haben außerdem das rasante Wachstum der Grenzstädte verursacht, weil viele Migranten an die Grenze kommen, um in die USA einzureisen. Aber nachdem ihre Versuche, die Grenze zu überqueren, gescheitert sind, beginnen viele von ihnen in den Maquiladoras zu arbeiten. Sie erhalten einen Lohn, der drei Dollar täglich nicht überschreitet. Diese Menschen bilden die Bewohner der Elendsviertel an der Grenze, in denen es an allen fundamentalen Versorgungsleistungen wie Trinkwasser, Abwasserkanäle, Schulen, Transportmittel, befestigte Straßen und Gesundheitsversorgung fehlt.

Um wieviele Menschen handelt es sich, die jedes Jahr die Grenze überqueren wollen?

Wir beobachten besonders einen Grenzabschnitt von etwa 200 km bei Matamoros in Tamaulipas. Dort gibt die US-Grenzpolizei an, daß sie letztes Jahr 201.000 Mexikaner deportiert hat. Nur auf diesem kurzen Abschnitt wohlgemerkt. Viele von ihnen kommen aus dem Süden oder dem Zentrum Mexikos. Dazu kommen etwa 5000 Zentralamerikaner, die meisten aus El Salvador, aber auch Menschen aus Honduras, Guatemala und Nicaragua.

Was sind die Hauptgründe der Migration?

Das hängt mit der schlechten sozialen Lage in Mexiko zusammen. Die wirtschaftliche Liberalisierung und die Integration Mexikos in den nordamerikanischen Markt haben dazu geführt, daß eine größere Menge ausländischer Produkte nach Mexiko importiert werden. Viele mexikanische Unternehmen machen Pleite, weil sie dem Konkurrenzdruck nicht standhalten können. Das erzeugt Arbeitslosigkeit. Andererseits sind die Löhne geschrumpft und völlig unzureichend, um die grundlegenden Bedürfnisse einer Familie zu befriedigen.
Aber außerdem ist die Migration von Mexikanern nach den USA auch ein historischer Prozeß, der bis in die Zeit zurückreicht, als Mexiko die Territorien verloren hat, die heute den Südwesten der USA bilden. Migration hat seither existiert und ist nichts Neues. Oftmals handelt es sich lediglich um eine zeitlich begrenzte Migration, und die Leute kehren nach einigen Monaten oder Jahren wieder zurück.

Wie werden die Migranten aus den USA vertrieben?

1993 verfügte die US-Grenzpolizei am Grenzabschnitt zu Tamaulipas etwas über 3200 Beamte, jetzt sind es 6300. Das zeigt, wie die MigrantInnen kriminalisert werden. Die MigrantInnen werden als Kriminelle behandelt, was sie zu 99 Prozent nicht sind.
Seit April 1997 ist ein neues Gesetz in Kraft, das die Migration nach den USA weiter erschwert. Menschen ohne Dokumente werden stärker verfolgt. In Matamoros hat die Grenzpolizei im August 1997 die Operation Rio Grande begonnen. Sie verwenden jetzt Methoden wie in Tijuana. Sie mußten lediglich keine Mauer bauen, weil es hier den Fluß gibt.
Aber auf der US-Seite stehen jetzt alle hundert Meter Patrouillen der Grenzpolizei. 120 neue Polizeikräfte werden auf einer Strecke von 10–20 km eingesetzt. Sie durchkämmen die Grenzstadt und der Grenzstreifen wird mit Flutlicht ausgeleuchtet, damit MigrantInnen erkannt werden können. Diese Maßnahmen haben zu einer Abnahme der illegalen Grenzübertritte auf dieser Strecke geführt, aber auf lange Sicht werden sie dazu führen, daß mehr Menschen beim Grenzübertritt umkommen, weil sie ihn an immer gefährlicheren Stellen versuchen.

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