Stabiles Zweiparteieneinerlei
Verfassungsreform ohne Plebiszit
Die Notwendigkeit einer Reform der geltenden Verfassung von 1853 ist in allen politischen Lagern unumstritten. Während ihrer Regierungszeit unternahm auch die heutige Oppositionspartei UCR Anstrengungen, eine Verfassungsänderung durchzusetzen, die damals Alfonsíns zweite Kandidatur ermöglichen sollte. Sie scheiterte jedoch kläglich. Zwei der wichtigsten Forderungen der UCR, damals wie heute, waren die Einführung des Postens eines Premierministers oder “Koordinierungsministers” sowie die Sicherung der Unabhängigkeit der Justiz. Gerade diese letzte Forderung ist umso bedeutender, da Präsident Menem 1990 den Obersten Gerichtshof kurzerhand von 5 auf 9 Richter erweiterte und gleichzeitig eine vorläufige “Nachrücksperre” verhängte. So sind die Mehrheitsverhältnisse heute eindeutig zugunsten Menems verschoben, da nur noch drei Richter aus der Zeit vor seinem Amtsantritt stammen.
Vor allem das linke Oppositionsbündnis Frente Grande aus peronistischen Dis-sidentInnen, KommunistInnen und anderen Gruppen hat aber viel weitergehende Forderungen erhoben. Allein schon die Art, wie die Verfassungsänderung ohne jeden partizipativen Diskussionsprozeß durchgepeitscht werden sollte, spiegelt ihrer Meinung nach das dahintersteckende autoritäre Gesellschaftsmodell wider. Ihre konkreten Forderungen beziehen sich zum Beispiel auf eine Neustrukturierung des Militärs und Diskussionen über die Rolle der Kirche. Auch die rassistischen Inhalte der Verfassung, wie die katholische Missionierung der Indígenas, bleiben von der menemistischen Reform unberührt. Ganz zu schweigen von der fast monarchistischen Machtfülle des Präsidenten.
Wiederwahl um jeden Preis
Denn mit seiner Reform zielte Carlos Menem ja ganz und gar nicht auf eine Beschränkung seiner Machtfülle. Stattdessen konzentrierte er sich ganz darauf, seine Wiederwahl bei den Präsidentschaftswahlen 1995 zu ermöglichen. Bisher gestattete die Verfassung nämlich keine zweite Kandidatur in direkter Folge.
Alle Diskussionen und Konflikte um die Reform drehten sich also um die Frage einer zweiten Präsidentschaft.
“Fast alles ist Verhandlungsmasse”
Durch den Kauf der notwendigen Stimmen hatten die MenemistInnen ein Votum des Senats für die Reform erhalten. Sie waren dafür auch bereit die Anzahl der Änderungsvorschläge von 88 auf 25 zu reduzieren.
Menem erhoffte sich ein eindeutiges “Ja” zur Reform beim Plebiszit, das auf Ende November angesetzt war. Das sollte die Zustimmung im Parlament ermöglichen. Gleichzeitig signalisierte er der UCR aber ständig, ihre Zustimmung sei auf dem Wege von Verhandlungen zu erreichen.
Denn die Position der Radikalen Partei war ein keineswegs eindeutiges “Jein”. Die Gouverneure der Provinzen Rio Negro und Chubut, Carlos Massaccesi und Carlos Maestro hatten schon ihre Zustimmung erklärt, Angelóz in Córdoba hatte auf Abstimmungsfreiheit plädiert. Die restlichen Funktionäre forderten entweder eine klare Kampagne für das “No” oder den Boykott des Plebiszits. Dem Nationalkommitee der UCR blieb deshalb nichts anderes übrig, als die Entscheidung den einzelnen ProvinzvertreterInnen zu überlassen. Ex-Präsident Alfonsín hatte während der ganzen Diskussion auf seiner Ablehnung der Reform plus Wiederwahl beharrt. Die Auseinandersetzung zwischen ihm und Menem wurde in höchst polemischer Weise geführt. “Alfonsín ist ein unfähiger Politiker, ich streite mich nicht mit Versagern”, war von Menems Seite zu hören. Alfonsín hielt kräftig dagegen: “Menem ist ein Verräter der Demokratie und Wegbereiter des Elends”.
Mehr oder weniger geheim fanden jedoch währenddessen Verhandlungen zwischen VertreterInnen von PJ und UCR statt. Der vorläufige Abschluß ist das Abkommen zwischen Menem und Alfonsín, das beide umarmt der Öffentlichkeit präsentierten. Die Zustimmung der UCR-Basis sollte allerdings noch auf dem Parteitag Anfang Dezember eingeholt werden.
Im Text des Abkommens ist kaum zu erkennen, wo die MenemistInnen Zugeständnisse an die Radikale Partei machen mußten. Einzig deren Forderung nach einem Premierminister taucht wieder auf. Alle anderen Reformvorschläge waren sowieso fast allgemeiner Konsens, und doch hat Alfonsín die Kröte der Wiederwahl Menems geschluckt.
Die Bedingung, die hinter den Kulissen dafür ausgehandelt wurde, war der Rücktritt des Präsidenten des Obersten Gerichtshofs Antonio Boggiano und zwei weiteren menemistischen Richtern. Prompt forderten kurz darauf Wirtschaftsminister Cavallo und Justizminister Maiorano die Richter zum “patriotischen Akt” des Rücktritts auf. Die Richter weigerten sich jedoch hartnäckig, ihr Amt niederzulegen. “Das Abkommen bewirkte ein erstes Wunder: es gibt endlich einen unabhängigen und eigenständigen Ge-richtshof”, bemerkte daraufhin der Kolumnist Joaquín Morales Sola in der Zeitschrift Noticias. Um dem Ultimatum der Radikalen gerecht zu werden, zeigte die Regierung dann aber zunehmende Bereitschaft, ein Korruptionsverfahren gegen das Oberste Gericht einzuleiten. Die einmal erreichte Absprache mit der UCR sollte um keinen Preis gefährdet werden.
Chancen für die Frente Grande?
Während hinter ihrem Rücken die Kompromiß-Verhandlungen liefen, versuchten andere VetreterInnen der UCR, die Möglichkeiten für eine gemeinsame “Nein”-Kampagne aller oppositionellen Gruppen herauszufinden.
Jetzt hat die Frente Grande die Chance, sich im Gegensatz zur wankelmütigen UCR zu profilieren, und ihr Bündnis landesweit bekannt und wählbar zu machen. Denn nach ihrem guten Wahlergebnis in Buenos Aires und dem Gewinn von drei Abgeordnetensitzen ist dies der nächste Schritt, den sich die national noch relativ unbedeutende Oppositionsbewegung vorgenommen hat. Mit dem bekannten Filmregisseur Fernando “Pino” Solanas scheint ihr Präsidentschaftskandidat für 1995 schon festzustehen. Und der mit knapp 14 Prozent in Buenos Aires wiedergewählte Abgeordnete Carlos “Chacho” Alvarez hat sogar gute Chancen, bei den ersten Bürgermeisterwahlen ganz vorne dabeizusein.
Die Radikalen haben einmal mehr bewiesen, daß “zweitstärkste Partei” nicht gleichbedeutend ist mit “Oppositionspartei”. Umso wichtiger erscheint also, ob es der Frente Grande gelingt, sich als linke Alternative zum Zweiparteieneinerlei zu etablieren.
Kasten:
Die im Abkommen zwischen PJ und UCR geplante Verfassungsreform
1. Reduzierung der Legislaturperioden von Präsident und Vizepräsident auf vier Jahre (früher sechs), Schaffung der Möglichkeit einer einmaligen Wiederwahl. Die Bedingung, der argentinische Präsident müsse katholisch sein, wird aufgehoben.
2. Direktwahl von Präsident und Vizepräsident in zwei Wahlgängen.
3. Schaffung des Postens eines “Kabinettchefs” oder “Koordinationsministers” als Verbindungsglied zwischen dem Präsidenten und dem Kongreß. Er wird vom Präsidenten ernannt.
4. Die Exekutive kann keine Dekrete mit legislativem Charakter mehr erlassen, die das Straf-, Steuer- und Wahlrecht betreffen. Nur in Ausnahmefällen kann das Dekret in Übereinkunft mit den Ministern beschlossen werden.
5. In der Debatte über einen Gesetzentwurf können die legislativen Kammern nur noch dreimal (bisher fünfmal) intervenieren.
6. Direktwahl von drei Senatoren für jede Provinz, zwei stellt die Mehrheitspartei, einen die Opposition, und Reduzierung ihrer Mandatsdauer. (Bisher wurden zwei Senatoren für jede Provinz für die Dauer von neun Jahren gewählt.)
7. Direktwahl des Bürgermeisters der Hauptstadt, der bisher vom Präsidenten ernannt wurde. Buenos Aires erhält eine verfassungsrechtlich garantierte Autonomie.