Stadt der Zukunft
Aktivist_innen aus ganz Mexiko vernetzen sich im kreativen Widerstand gegen Gewalt und Repression in Ciudad Juárez
Ein alter Kinderschuh, verdreckt, zerrissen – so fängt die Begegnung mit der Gewalt in der nordmexikanischen Stadt Ciudad Juárez an. Vor dem städtischen Museum in Querétaro, Hauptstadt des gleichnamigen zentralmexikanischen Bundesstaates, stehen etwa 70 Besucher_innen. Dunkel gekleidete, bleich geschminkte Personen reichen ihnen verschiedene Gegenstände: Kleidung, Spielzeug, alte Telefonrechnungen und Fotos, geborgen aus den über 100.000 verlassenen Häusern in Ciudad Juárez. Was die ehemaligen Eigentümer_innen der Gegenstände zum Verlassen der Stadt bewegte, wo sie sich inzwischen befinden, ob sie überhaupt noch leben – all diese Fragen bleiben der Vorstellungskraft jedes Einzelnen überlassen. Mit den Gegenständen in der Hand geht es in den dunkel ausgeleuchteten Museumssaal. Während der nächsten rund vier Stunden Programm bleiben sie in den Händen der Zuschauer_innen wie ein Beweis der Realität des Dargestellten.
In nüchternen Zahlen beinhaltet die Realität von Ciudad Juárez im Jahr 2010 über 3.000 Tote, darunter hunderte Frauenmorde. Bis heute hat sich daran nichts zum Besseren gewandt. Seitdem unter Präsident Calderón 2008 das Militär in die Stadt einmarschierte, um den „Krieg gegen die Drogen“ aufzunehmen, ist die Gewalt eskaliert, inzwischen gilt Ciudad Juárez als gefährlichste Stadt der Welt. Die größte Gefahr für die Bewohner_innen geht längst vom Militär selbst aus, das die Zustände in Ciudad Juárez oft zum eigenen Vorteil ausnutzt (siehe LN 454). Hinzu kommt die angespannte Situation an der Grenze zu den USA aufgrund der illegalen Immigration, bei der es immer wieder zu unaufgeklärten Todesfällen kommt. Der Zirko Nómada de Kombate (ZNK), auf Deutsch in etwa „Nomadenzirkus des Gefechts“, will seinen Zuschauer_innen diese Situation vermitteln und sie aufklären: „Wenn du nicht weißt, was in Ciudad Juárez passiert, wie willst du es dann in deiner Stadt verhindern?“ Unter diesem Motto entsteht eine Zusammenstellung unterschiedlichster Kunstformen, Eindrücke, die weiter gehen als bloße Statistiken. „Musik, Grafik, Video, Gerüche, Szenographie, Performance, Symbolismus, aussagekräftige Objekte – letztlich kann jede Person die Situation auf eigene Weise erfahren“, erläutert ein Aktivist im Gespräch den Vorteil der Vielfalt. Was er als „totale Kommunikation“ bezeichnet, gestaltet sich auf der Bühne derweil als Lesung von selbstverfasster Literatur über die Eindrücke eines Rückkehrers nach Ciudad Juárez. „Die Atmosphäre ist intensiv, verlassene Häuser, ausgebrannte Geschäfte, einsame Straßen, die Omnipräsenz der Polizei.“ Die Beschreibung widmet sich nun den Frauenmorden in Ciudad Juárez, deren Anzahl nur im Bundesstaat Estado de México höher ist. Zeitgleich erhebt sich aus Mülltüten schreiend eine zur Unkenntlichkeit mit Farbe beschmierte Frau. Die Situation wird durch die Rapperin Oveja Negra („Schwarzes Schaf“) der Batallones Femeninas aus Ciudad Juárez aufgelöst. „Cuántas más?“ – „Wie viele noch?“, schallt es durch den Raum. Entstanden ist die Idee des Programms über einen längeren Zeitraum. „Schon als Student erlebte ich 1996/97 kleinere Kriege der narcos (Drogenhändler) in Ciudad Juárez und wurde politisiert“, beschreibt ein Aktivist, der sich Alas Blisset nennt und mit seiner Erzählung Ciudad Futuro den Namen des Projektes prägte, den Prozess. „Im Jahr 2010 verbannte uns die Stadt, denn die Militarisierung bedrohte unsere eigene Sicherheit als Aktivisten. Also reiste ich durch das Land, erzählte den Menschen von den Geschehnissen in meiner Stadt. Mit der Zeit stellte ich fest, das überall, in Torreón, Monterrey, Cuernavaca, Tijuana die gleichen ersten Anzeichen der Gewalt vorhanden waren. Die nächsten Geschehnisse konnte ich praktisch voraussagen. Ciudad Juárez war die Stadt der Zukunft.“ Diese Warnung wird seitdem durch den ZNK in ganz Mexiko verbreitet, denn „viele Menschen glauben immer noch, nicht von den Problemen betroffen zu sein.“
Auf der Bühne spricht inzwischen ein Aktivist über die Opfer der Gewalt in Ciudad Juárez, zeigt Bilder von verschwundenen Familien, von Militärs, die Häuser von Protestierenden anzünden. Eine Theaterdarbietung verdeutlicht die Probleme am Grenzübergang zwischen Ciudad Juárez und dem US-amerikanischen El Paso. In bewegten Bildern erfahrbar wird die „Stadt der Zukunft“ für Besucher_innen durch die ersten Ausschnitte des Dokumentarfilms „Ciudad Futuro – sobreviviendo Juaritos“, den die Gruppe aktuell dreht, um für noch breitere Aufmerksamkeit zu sorgen. Szenen zeigen einen jungen Mann, der die Folgen der Gewalt in seiner Nachbarschaft beschreibt, Videoaufnahmen von Schüssen an der Grenze zu den USA. Die Aktivist_innen überlassen acht- bis zwölfjährigen Kindern die Kamera, als diese sie durch ihre Spielstätten in den verlassenen Häusern führen. Der Konflikt, die Militarisierung, die Gewalt scheint für sie Normalität geworden zu sein.
Im November soll der Dokumentarfilm fertig gefilmt werden – eine erneute Rückkehr nach Ciudad Juárez steht bevor. Davor tourt die Gruppe durch ganz Mexiko: Tijuana, Querétaro, Mexiko-Stadt, Puebla, Tepico, Nayarit sind nur einige Beispiele. Die kreative Ausrichtung des Projektes bietet dabei Künstler_innen aus den jeweiligen Städten eine Anlaufstelle. In jeder Stadt ändert sich so das Programm, immer wieder stoßen neue Aktivist_innen zu der Gruppe, vergrößern das Netzwerk und tragen ihren Teil auf der Bühne bei. „Wir funktionieren wie Lego“, erläutert Alas Blisset die Dynamik. „Wir alle haben etwas zu sagen und jeder Beitrag lässt sich wie ein neuer Stein auf das Programm setzen.“ Manche der Neuen reisen mit in die nächsten Städte. Einen weiteren wichtigen Punkt des Projektes bildet die Vernetzung zwischen stetig reisenden Aktivist_innen und denen mit festem Wohnsitz. „In Mexiko-Stadt helfen uns Menschen mit unserer Audiobearbeitung, der Produzent unseres Dokumentarfilms kommt aus Querétaro und hier befindet sich ebenfalls die Radiostation des ZNK, das rixomaradio. Diese Arbeiten können wir unterwegs kaum leisten. Als friedlichste Stadt Mexikos ist Querétaro zudem ein Rückzugsort und eine strategische Basis für uns, da beispielsweise unsere Radiostation in Ciudad Juárez permanent durch Polizei und Militär bedroht wäre.“ Ciudad Futuro fungiert somit nicht nur als landesweite Aufklärungskampagne, sondern trägt aktiv zur Vernetzung von Künstler_innen und Aktivist_innen bei und schafft feste Standpunkte einer kreativen Gegenbewegung zur staatlichen Repression in Mexiko.
Kunst als landesweiter Protest. Zur eigenen Beschreibung benutzt der ZNK inzwischen die Bezeichnung „artivistas“ statt „activistas“. „Als Aktivist schrie ich nur heraus, was mir nicht passte – immer in Solidarität mit irgendjemandem: den Zapatisten, gegen Frauenmorde, gegen Militarisierung. Doch plötzlich musste ich in Juárez mein eigenes Leben verteidigen. Dieses Gefühl kann ich nur durch Kunst ausdrücken.“ Doch für Blisset und den restlichen ZNK hat die Kunst neben dem Selbstausdruck und der erleichterten Beteiligungsmöglichkeit für neue Personen einen weiteren entscheidenden Vorteil. „Wir haben gemerkt, dass der einfache Protest, der Aktivismus, nicht reicht. 2010 füllten wir die Straßen mit Protesten gegen die Militarisierung und gegen Calderón als Präsidenten. Was passierte? Unsere compañera Susana Chávez, Dichterin und Autorin des Kampfrufes ‚Ni una más‘ gegen die Frauenmorde, wurde getötet und verstümmelt. Weitere mit uns verbundene Rapper und Protestierende wurden ebenso ermordet. Protest kann nur sagen, wogegen wir sind. Die Kunst kann tiefere Fragen stellen und mit verschiedenen Ausdrucksformen mehr Menschen erreichen. Die große Frage ist, wie wir mit einer Gesellschaft kommunizieren können, die solche Geschehnisse erlaubt – wir müssen den Menschen die Augen öffnen!“
Und das Konzept der Mischung von Kunst und Information geht auf. Das Interesse an den Vorstellungen ist groß, die Diskussionen unter Besucher_innen im Anschluss vielfältig, Erzählungen, Gedichte und Sticker werden gekauft. „Gerade jetzt mit dem als Repressor bekannten neuen Präsidenten Mexikos, Enrique Peña Nieto, interessiert das Thema noch mehr Menschen“, so ein Aktivist. Am Ende des Programms, nach knapp vier Stunden vielfältiger Eindrücke, ein letzter Rapsong, die Aufforderung aufzustehen und zu tanzen: „Zeigen wir, dass wir leben, dass wir noch nicht tot sind!“ Sich sichtbar machen, Menschen erreichen, warnen und vernetzen – der ZNK bildet eine wachsende Gemeinde kreativer Aktivist_innen, die der Gewalt trotzt und neue Wege der Aufklärung sucht, um ihre Ahnung der Stadt der Zukunft zu verhindern.