Identität | Nummer 315/316 - Sept./Okt. 2000

Symbolische Kämpfe

Die Maya in Guatemala kämpfen für das Recht auf Ungleichheit als Weg zur Gleichberechtigung.

Als 1996 das Friedensabkommen zwischen guatemaltekischer Regierung und der Guerilla unterzeichnet wurde, war der Weg zum sozialen Frieden im Land noch weit. Während wirtschaftliche Veränderungen größtenteils noch auf sich warten lassen, hat sich auf dem Feld der Wertzuschreibungen – vor allem, was Indígenas anbelangt – einiges getan. Obwohl das Thema Rassismus in Guatemala vor kurzem noch ein Tabu war, wird heute öffentlich darüber debattiert.

Frank Garbers

Guatemala ist seit der Eroberung ein zutiefst gespaltenes Land. Die Unabhängigkeit von Spanien, nach der sich langsam die guatemaltekische Nation herausbildete, änderte dabei den Ort, an dem sich die wichtigste und deutlichste Trennlinie befand: Während sich in der Kolonialzeit soziale Vorherrschaft über den Gegensatz zwischen Spaniern und Nicht-Spaniern (Indígenas sowie Ladinos, wie in Guatemala die Mestizen bezeichnet werden) ausdrückte, wurde in der liberalen Herrschaftsperiode die Differenz zwischen Nicht-Indígenas (Ladinos) und Indígenas zum tragenden ideologischen Grundpfeiler der guatemaltekischen Nation.

Ethnische Grenzen

Das zweite Konstruktionsmerkmal des nationalen Projektes lag in seiner Verankerung in den europäischen Traditionen des „Fortschritts“ und der „Zivilisation“. Diese Identitätspolitik der liberalen Machteliten begründete einen auch heute noch weitgehend ungelösten Grundwiderspruch in der Konstitution der nationalen guatemaltekischen Identität: Quasi per Definition stand die indigene Bevölkerung außerhalb. Die liberale Modernisierungsstrategie sollte ihnen nun die Vorzüge von „Fortschritt“ und „Zivilisation“ vermitteln und sie (um den Preis ihrer Ladinisierung) in die guatemaltekische Nation integrieren. Gleichzeitig schafften es die liberalen Eliten nicht, den Begriff „Ladino“ zu einem wirklichen nationalen Integrationsbegriff zu machen, denn die Betonung lag auf der Abgrenzung gegenüber der indigenen Bevölkerung. Wenn sie ihrer eigenen Lebensweise treu bleibt, kann sie nicht die gleichen Rechte und Privilegien genießen wie ihre ladinischen Mitbürgerinnen und Mitbürger. Dieser „doppelte Diskurs“ des ladinischen Herrschaftsstaates verlangte gleichzeitig die Assimilation und die Ausgrenzung der indigenen Bevölkerung, ein Widerspruch, der sich praktisch durch das gesamte 20. Jahrhundert verfolgen lässt.
Kompliziert wird diese noch einigermaßen überschaubare Situation dadurch, dass sich in der praktischen Politik den Indígenas gegenüber beide Argumentationsmuster vermengen: Offiziell wird seit langem die Integrationsstrategie verfolgt und die Position vertreten, dass die Indígenas gleichberechtigte BürgerInnen seien, „die man dabei unterstützen wolle, aus ihrer Unterentwicklung, Rückschrittlichkeit und Benachteiligung herauszukommen“. Dafür werden viele Entwicklungsprogramme initiiert. De facto jedoch beruht die guatemaltekische Gesellschaftsordnung und vor allem das Wirtschaftssystem darauf, dass die indigene Bevölkerung eben keine gleichberechtigte Position in der Gesellschaft erlangt, denn dann wäre das existierende Privilegiensystem nicht aufrecht zu erhalten und wären strukturelle Veränderungen erforderlich, zum Beispiel eine Reform der Landbesitzverhältnisse, des politischen Systems, der inhaltlichen Grundlagen des Bildungssystems und vieles mehr.
Beiden Positionen gemeinsam ist die rassistische Ideologie von der Überlegenheit des westlich-ladinischen Systems über die indigenen Lebensformen, die die Indígenas auf ihre marginalisierte Position festschreiben soll und die Ausbeutung und Diskriminierung mit dem Argument ethnischer Differenz legitimiert. Hier wird Verschiedenheit in Minderwertigkeit umgedeutet – ein klassisches Muster rassistischer Herrschaftsdiskurse.

Von der Fremdzuschreibung zur Selbstidentifikation

Gegen diese doppelzüngige Strategie der offiziellen Gleichberechtigung bei gleichzeitiger Ausgrenzung wendet sich heute die Politik der Indígena-Organisationen gegenüber dem Nationalstaat: Sie machen sich unübersehbar präsent und stellen Forderungen an den Staat, der sie immer ignoriert hat. Eine wichtige Rolle spielt in diesem Zusammenhang die seit einigen Jahren bestärkte kollektive Identifikation als Maya.
Der Begriff „Maya“ wurde ursprünglich im wissenschaftlichen Kontext der Mesoamerika-Forschung eingeführt. Archäologen, Linguisten und Ethnographen begannen in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts damit, zur Beschreibung einer Gruppe von Sprachen in Mesoamerika, die sie als „verwandt“ klassifizierten, den Begriff „Maya-Quiché“ zu verwenden. Als Selbstbezeichnung ist der Name Maya lediglich bei einer indigenen Gruppe bekannt, die auf der Halbinsel Yucatán in Mexiko lebt. Vor 15 bis 20 Jahren war es in Guatemala nicht üblich, den Begriff zur Bezeichnung derjenigen zu verwenden, die sich heute selber als Maya identifizieren. In Guatemala wurden als Maya nur die historischen Völker bezeichnet, die bereits vor der Ankunft der spanischen Eroberer auf guatemaltekischem (und mexikanischem) Territorium lebten. Die Maya wurden als eine Kultur betrachtet, die bereits vor der Ankunft der Spanier „untergegangen“ und damit „ausgestorben“ war. Ihre Nachfahren wurden allgemein indios oder naturales, später Indígenas genannt. Sie selber identifizierten sich nicht als eine gemeinsame Gruppe, sondern regional, zum Beispiel als Sacapultecos, San Pedranos, Ixtahuatecos und so weiter oder auch auf Basis von Eigenbezeichnungen wie rahal ch´och (Kinder der Erde) oder hach winik (wahre Menschen).
Etwa ab den 1980er Jahren begann sich in diesem Szenario eine neue Dynamik zu entwickeln. Verschiedene Gruppen und Organisationen der guatemaltekischen Indígenas griffen die Bezeichnung „Maya“ neu als gemeinsame und positive Selbstzuschreibung auf und vertraten sie offensiv. Innerhalb von sozialen Prozessen und Kämpfen um die politische Partizipation entstand der Ausdruck einer neuen kollektiven ethnischen Identität: die Maya-Ethnizität.
So eröffneten sie ein neues Feld politischer Debatten. Mit der offensiven Präsenz einer starken, selbstbewussten Maya-Identität wird die rassistische Ideologie des bestehenden Nationalstaates in Frage gestellt. Eine der zentralen Forderungen besteht heute in der Anerkennung des „Rechtes auf kulturelle Differenz“. Damit werden die Ladinos mit der Notwendigkeit konfrontiert, ihr bestehendes Selbstbild zu hinterfragen.

Um das Symbol kämpfen

Eine Stärke der Maya-Organisationen liegt derzeit in den »symbolischen Kämpfen«. Mit der beschriebenen Strategie gehen sie in die Auseinandersetzung um die ideologische Definitionsmacht. Der Sozialwissenschaftler Stuart Hall hat sich mit solchen ideologischen Kämpfen in anderen gesellschaftlichen Zusammenhängen befasst. Er misst der „Entkolonialisierung der Köpfe“ eine hohe Bedeutung zu: Indem Gruppen von Marginalisierten gemeinsam „Ketten von Bedeutungen neu knüpfen“, dem eigenen Blick auf ihre Geschichte formulieren und ihre Rolle in der Gesellschaft neu formulieren, stellen sie den common sense und die gesellschaftliche Normalität in Frage. Das allein bringt keinen Umsturz der Machtverhältnisse, schafft aber Grundlagen für das Umdenken.
Vor allem das 1995 unterzeichnete „Abkommen über Identität und Rechte der indigenen Bevölkerung“ (kurz: Indígena-Abkommen) ist ein wichtiger Schritt im Kampf der Indígenas um die Anerkennung ihrer Rechte. Hierbei geht es sowohl um die prinzipielle Anerkennung der Existenz der indigenen Bevölkerung in Guatemala als auch um den Kampf, in ihren Rechten auf Partikularität anerkannt zu werden, das heißt um den Kampf um die gesellschaftliche Anerkennung des “Anders-Seins”, der kulturellen Differenz.
Die konkreten Beispiele für symbolische Kämpfe wirken auf den ersten Blick eher unspektakulär und finden ihren Ausdruck häufiger im Bereich der alltäglichen Praxis als auf dem „großen Parkett der Politik“. So sind die weltweit oft mit dem Entstehen ethnischer Bewegungen verbundenen Forderungen nach Autonomierechten in Guatemala fast nirgendwo zu finden. Ein Grund dafür ist, dass die Erfahrung des Bürgerkrieges erst sehr kurz zurückliegt. Es wird vermieden, den Kreisen Argumente zu liefern, die neue Konflikte schüren wollen.
Ihren konkretesten Ausdruck finden symbolische Kämpfe im Bereich der Bildung und der Debatten um Bildungsreformen. Bildungserfolge werden auch häufig als Wege benannt, um rassistisch motivierter Diskriminierung entgegen zu treten: „zeigen, was wir können, und dass wir nicht minderwertig sind“. So besteht eine Strategie darin, dass junge Leute über Aneignung von „kulturellem Kapital“ in Form von Bildungsabschlüssen und daran anschließenden Tätigkeiten in Schlüsselstellen in Politik, Verwaltung und Wirtschaft sozusagen „das System unterwandern“ und über die Mitgestaltung von innen her verändern sollen – „die Präsenz unserer Leute in den wichtigen Bereichen der Gesellschaft verbessern und beweisen, wozu wir in der Lage sind“, ist dabei die Devise. Gleichzeitig gibt es an verschiedenen Stellen, vor allem im Bereich der Lehreraus- und -weiterbildung, die von nicht-staatlichen Trägern unterstützt wird, spannende Initiativen, die bestehenden Regeln und Machtstrukturen des Bildungssystems zu hinterfragen und eigene Inhalte und Methoden entwickeln und erproben – indem sie zum Beispiel Arbeitsgruppen bilden, die offizielle Geschichte kritisch durchleuchten und beginnen, die eigene Geschichte zu erforschen und zum Thema des Unterrichts zu machen.

Recht auf kulturelle Differenz

Als eine zentrale Konfliktlinie in den Kämpfen um gesellschaftliche Veränderungen zeichnet sich in Guatemala heute diese Auseinandersetzung um universelle und partikulare Rechte sowie um das Verhältnis von Einheit und Vielfalt, Gleichheit und Differenz ab. In dieser Frage ist die multiethnische Gesellschaft unter dem Motto diversidad en la unidad (Vielfalt in der Einheit) zu einer von allen Seiten propagierten Perspektive geworden, die jedoch bei genauer Betrachtung keinen wirklichen Beitrag zur Verständigung zwischen den Positionen leistet.
Während die Mehrheit der ladinischen Bevölkerung – sofern sie es überhaupt als notwendig erachtet, sich mit der Frage gesellschaftlicher Veränderungen zu befassen – die interculturalidad propagiert und damit meint, dass unter Anerkennung von Vielfalt und durch besseres gegenseitiges Kennenlernen ein friedliches Zusammenleben der Menschen verschiedener kultureller Kontexte möglich werde, wehren sich viele Maya gegen eine solche Lösung. Aufgrund der historischen Erfahrungen und der bestehenden Machtverhältnisse sehen sie die erste Bedingung dafür, dass die diversidad en la unidad umgesetzt werden kann, darin, die Diskriminierung zu überwinden und das Recht auf Differenz anzuerkennen. Ihre Strategie liegt also gerade darin, das ideologische Konstrukt des „Anders-Seins“ zu einem zentralen Bezugspunkt für ihren Widerstand und zu einer gemeinsamen Formel für ihre politischen Forderungen zu machen. Die kulturelle Differenz soll jetzt zu einem Grundbestandteil der guatemaltekischen Gesellschaft und Nation werden.

Mehr Fragen als Antworten

Welche Aussichten dieser Prozess hat, ist derzeit schwer zu sagen. Statt dessen stellen sich Fragen, die in die Überlegungen einbezogen werden sollten.
Zum einen: Welche gesellschaftlichen Entwürfe für eine Zukunft der multiethnischen Nation Guatemala gibt es überhaupt? In diesem Zusammenhang wäre es besonders interessant, auch die Reaktionen von Ladinos auf die Aktivitäten und Forderungen der Maya einzubeziehen, zum Beispiel auf die erstarkte kollektive Identität als Maya und deren Herausforderung, die Vielfalt und Differenz als Bestandteil einer nationalen Identität Guatemalas anzuerkennen. Das Spektrum ladinischer Reaktionen reicht bislang von strikter Abwehr über die Nicht-Beachtung bis hin zum aktiven Interesse, sich auf diese Prozesse einzulassen.
Zum zweiten: Welche Wege gehen die Maya politisch, um ihre Interessen zu vertreten? Versuchen sie, innerhalb oder außerhalb staatlicher Strukturen zu agieren? Die Wege erscheinen als vielfältig und komplex, ohne dass sich eine einheitliche Stoßrichtung ausmachen ließe. Viele begründen ihre Teilnahme an der politischen Arbeit innerhalb der diversen Strukturen damit, dass sie kennenlernen wollen, wie es funktioniert, um dann später in neu zu schaffenden Zusammenhängen ihre Interessen verfolgen zu können.
Zum dritten schließlich: Welche konkret erkennbaren Veränderungen wurden erreicht? Die Debatten über den Rassismus in Guatemala sind von großer Bedeutung für den sozialen Frieden, der sich ohnehin sicherlich nur langfristig erreichen lässt. Der Bereich, in dem Veränderungen am konkretesten angegangen werden, scheint der Bildungsbereich zu sein, wo mit Demetrio Cojtí seit Januar 2000 einer der profiliertesten Vertreter der Maya-Bewegung als Vizeminister tätig ist.

Zum Weiterlesen:
Meike Heckt: Guatemala. Interkulturelle Bildung in einer ethnisch gespaltenen Gesellschaft. Waxmann Verlag, Münster 2000
Frank Garbers / Meike Heckt: Die soziale Konstruktion der Maya: Comunidad, Ethnizität und neue politische Akteure im Guatemala des 20. Jahrhunderts. Lateinamerika – Analysen und Dokumentation. Institut für Iberoamerika-Kunde, Hamburg 2000 (in Druck)

Ähnliche Themen

Newsletter abonnieren