Brasilien | Nummer 499 - Januar 2016

THE KIDS ARE ALRIGHT

In São Paulo widersetzten sich Schüler*innen erfolgreich der Schließung ihrer Schulen

„Occupy Wall Street“ war gestern. Nun waren es die 14- bis 17-jährigen Schüler*innen São Paulos, die zu Hunderttausenden Ende November 200 Schulgebäude besetzten, um die vom Gouverneur Alckmin für Januar angeordnete Schließung der Einrichtungen zu verhindern. Die Polizei setzte massenhaft Tränengas gegen Minderjährige ein. Am Ende musste der Gouverneur nachgeben; der Druck der Schüler*innen war zu groß – denn sogar die großen Fußballfanclubs hatten sich solidarisiert.

Tainã Mansani, Übersetzung: Christian Russau

Es war eine schwere Schlappe für Gouverneur Geraldo Alckmin. Grund für die Katerstimmung bei dem Politiker der rechten PSDB waren wieder einmal die Schulen in seinem Bundesstaat São Paulo. Diesmal waren es allerdings nicht die Lehrer*innen, die wie so oft in den vergangenen Jahren gegen miserable Gehälter und Arbeitsbedingungen protestiert hatten und die Alckmin kurzerhand von der seiner Kontrolle unterstehenden Militärpolizei mit Prügel und Pfefferspray zur Raison bringen ließ. Es waren die minderjährigen Schüler*innen der Millionenmetropole, die sich seinem Willen entgegenstellten.
Völlig unerwartet hatten Schüler*innen zwischen 14 und 17 Jahren in der ganzen Stadt ihre Schulen besetzt, um gegen die von Alckmin im Alleingang entschiedene Schulreform zu protestieren. Diese sah vor, die Schuljahrgänge in Zukunft wieder nach Basis-, Grund- und Mittelstufe zu trennen. Die in den 1970er Jahren eingeführte Zusammenlegung der Schulen sollte die soziale Integration fördern. Die jüngste Reform Alckmins sah vor, 93 staatliche Schulen mit rund 311.000 Schüler*innen ab Januar zu schließen, da diese „überflüssig“ seien. Die Lehrer*innen hingegen weisen stets auf die Überfüllung der Schulen hin, deren Überlastung einen angemessenen Unterricht nicht zuließen. Auch Schüler*innen und deren Eltern waren nicht nach ihrer Meinung gefragt worden.
In kurzer Zeit schlossen sich hunderttausende Schüler*innen dem Protest an, besetzten ihre Schulgebäude, campierten auf den Schulhöfen oder in den Klassenzimmern, hielten selbstverwalteten Unterricht ab, putzten die Toiletten und strichen die Klassenwände neu an, da der abfallende Putz aufgrund der staatlich verwalteten Verwahrlosung Überhand zu nehmen drohte. „Meine Hoffnung ist es“, so der Journalist Leonardo Sakamoto von der alternativen Mediengruppe Repórter Brasil, „dass diese jungen Leute möglichst bald an die Macht kommen. Mit dieser Generation, die die Schulen besetzt, wird die Politik radikal verändert, alle vier Jahre zu wählen wird nicht mehr genügen, diese jungen Leute wollen in Echtzeit an Politik teilhaben“, so Sakamoto.
Die Schüler*innen erreichten, was ihre Lehrer*innen nie geschafft hatten: Der Gouverneur zog am 4. Dezember sein Schulreformprojekt zurück. Die Besetzer*innen feierten diesen „Sieg“. Mit von der Partie: Die Gaviões da Fiel und die Gruppe Independente, die einflussreichen Fanclubs der beiden größten Fußballvereine der Stadt, Corinthians und São Paulo FC. Zuvor waren die Anhänger*innen der beiden Traditionsvereine zusammen mit den Schüler*innen auf die Straße gegangen.
Noch wenige Tage vorher hatte der Kabinettschef Alckmins von der Notwendigkeit eines „Krieges“ gesprochen, während draußen die Polizei mit Tritten und Tränengas gegen die Minderjährigen vorging. Das Vorgehen der Polizeikräfte rief sogar eine scharfe Kritik von Amnesty International hervor.
Doch Alckmin wäre nicht Alckmin wenn er nicht die Lage noch rechtzeitig erkannt hätte, bevor es zu spät gewesen wäre. Er hat mittlerweile zum vierten Mal den Gouverneursposten inne und strebt eine Präsidentschaftskandidatur im Jahr 2018 an. Am Morgen des 4. Dezember veröffentlichte das Meinungsforschungsinstitut Datafolha eine Umfrage, die zeigte, dass sich 61 Prozent der Wähler*innen gegen Alckmins Schulreform aussprachen. Sogar die internationale Presse berichtete mittlerweile über die Besetzungen der Schüler*innen. Um Massenproteste wie im Juni 2013 zu verhindern und seine Chancen auf den Präsidentenposten nicht zu gefährden, nahm Alckmin flugs seine Pläne kleinlaut zurück.
Doch die Rücknahme der Schließungen stellt höchstens einen Etappensieg dar. Die Politik Alckmins ist Teil einer neoliberale Agenda, die das öffentliche Schulsystem zugunsten der Privatschulen weiter auszuhöhlen versucht. So kürzt die Landesregierung São Paulos seit Jahren die Haushaltsmittel, an den Schulen kulminiert der Sanierungsstau und die Lehrer*innen werden mit einem Durchschnittsstundenlohn von umgerechnet vier Euro sechzig so schlecht bezahlt, dass Brasilien im Vergleich von 30 OECD-Staaten nur noch vor Ungarn und Indonesien liegt. Das Resultat: Wer die öffentliche Schullaufbahn und nicht die einer Privatschule durchläuft, hat deutlich schlechtere Chancen, den Zugangstest zur Universität zu bestehen. Privatschulen wie die bekannte deutsch-brasilianische Schule Porto Seguro im Süden der Millionstadt São Paulo kosten umgerechnet rund 500 Euro pro Monat. Dafür bieten sie den Schüler*innen umfangreiche Vorbereitungskurse für den Hochschulzugangstest an. Dieses System spiegelt sich auch an den Universitäten wieder: So ist zwar der Anteil der Student*innen aus der Bevölkerungsschicht des wohlhabendsten oberen Fünftels zwischen 2004 und 2014 von 54 auf 36 Prozent zurückgegangen, aber dem brasilianischen Statistikinstitut IBGE zufolge gibt es immer noch fünf Mal mehr Student*innen aus dem reichsten Fünftel der Gesellschaft als aus dem ärmsten Fünftel.
Auch deswegen haben die Schüler*innen ihre Schulen besetzt. Es sollte damit auf die schwerwiegenden sozialen Probleme in Brasilien hingewiesen und aufgezeigt werden, dass die einzige klare Antwort auf die Ungerechtigkeiten im Schulsystem, die die Politik versteht, nur die Besetzung der Schulen sein kann. Der massive Widerstand der Schüler*innen, vereint mit sozialen Bewegungen, Künstler*innen und sogar den ansonsten relativ unpolitischen Fußballfanclubs, führte letztlich zu der Rücknahme der Schulreform. Bei seiner öffentlichen Erklärung zitierte der geschlagene Gouverneur Papst Franziskus und sprach von der Bedeutung des „Dialogs“ – und ließ die, auf die Möglichkeit zur Nachfrage wartenden Journalist*innen im Pressesaal wortlos stehen.

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