The Latin American City
Die in ihrer Mehrzahl von Portugiesen und Spaniern im 16. und 17. Jahrhundert gegründeten lateinamerikanischen Städte haben ihren entscheidenden Wachstumsschub nach 1950 erlebt. Lateinamerika wandelte sich in rasendem Tempo von einem ruralen zu einem urbanen Kontinent. Erst in den achtziger Jahren verlangsamte sich dieser Prozeß aufgrund der ökonomischen Krise. Trotzdem können MigrantInnen in vielen Ländern bis heute vergleichsweise bessere Lebensbedingungen in den städtischen Ballungsräumen vorfinden als auf dem Land. In diesen Unterschieden ist das entscheidende Motiv für die Landflucht zu suchen. Vor allem für Frauen und junge Erwachsene, die eine Schulbildung und berufliche Fähigkeiten erworben haben, resultiert der Weg in die Städte aus einer rationalen Entscheidung. Dabei handelt es sich um eine rationale Entscheidung zwischen Alternativen, die mehrheitlich von jungen Erwachsenen und Frauen, die bessere Schulbildung und gewisse berufliche Fähigkeiten erlernt haben, getroffen wird.
Gilbert wendet sich gegen die Über-Städterungs-Thesen, nach denen die Zunahme der Bevölkerung als dem Beschäftigungswachstum im industriellen Sektor nicht angemessen kritisiert wurde. Während Städte in westlichen Industrienationen als industrielle Wachstumspole funktional gewesen seien, wurden “Dritt-Welt-Städte”, in denen es zu einer “Tertiarisierung”, einem aufgeblähten Dienstleistungssektor kam, als “parasitär” klassifiziert. Nach dieser, nach wie vor von vielen KommunalpolitikerInnen und StadtplanerInnen geteilten Betrachtungsweise gibt es einfach zu viele Menschen in der Stadt. Begründet wird der Mißstand gerne mit einem zu hohen Bevölkerungswachstum, als umgekehrt mit einer zu geringen Anzahl stabiler und qualifizierter Arbeitsplätze. Die Antwort auf die besonders in den achtziger Jahren steigenden Arbeitslosenraten, ist der heute für uns so typische und das Stadtbild der meisten lateinamerikanischen Metropolen prägende informelle Sektor. Zur Straßenszene gehören die Schuhputzer ebenso wie die ambulanten Händler. Informelle Beschäftigung geht jedoch darüber weit hinaus. Ihr kommt zudem im Hinblick auf den sogenannten modernen Sektor eine besondere Rolle zu, denn sie sorgt für niedrigere Lohn- und Reproduktionskosten. Besonders auf Export ausgerichtete Industrien profitieren davon, wie die Erfahrungen mit den Maquiladora-Industrien an der US-mexikanischen Grenze zeigen.
Duldung “wilder” Siedlungen
Ebenso wie der informelle Sektor die Arbeitswelt lateinamerikanischer Städte prägt, kennzeichnen favelas, poblaciones oder villas miserias ihre Siedlungsstruktur. Landbesetzungen und der Aufbau spärlicher Hütten wurden über lange Zeit geduldet und konnten in ökonomischen Wachstumsphasen Schritt für Schritt durch die städtische Infrastruktur erschlossen werden. Aus Wellblech- und Holzhütten wurden in Eigenarbeit oder kollektiver Anstrengung feste Häuser. Daß dabei oftmals den Bedürfnissen der BewohnerInnen entsprechende Wohnungen entstanden sind, als es bei professionell geplanter Bebauung der Fall gewesen wäre, überrascht eigentlich nicht. Nur durch politische Mobilisierung oder Zugeständnisse an lokale politische RepräsentantenInnen konnte sich die rasch wachsende städtische Bevölkerung ein Dach über dem Kopf erstreiten. Die Stadtverwaltung hatte dazu aufgrund fehlender Mittel für einen umfassenden sozialen Wohnungsbau keine Alternative. Stadtviertel wurden ans Elektrizitäts- und Wassernetz angeschlossen, Siedlungen legalisiert. Heute besitzt ein wesentlich höherer Prozentsatz von Familien ein – wenn auch bescheidenes – Eigenheim als noch zwanzig oder dreißig Jahre zuvor.
Betrachtet man das rasante städtische Wachstum ist es ein Wunder, daß die oft wegen ihrer schlechten Administration zurecht gescholtenen öffentlichen Einrichtungen nicht völlig zusammengebrochen sind. Sie scheinen, so Alan Gilbert, wohl doch besser als ihr Ruf. Prekär sind für viele die Versorgungsverhältnisse trotzdem geblieben. Neuere Siedlungen warten seit Jahren auf Wasser und Elektrizität. Neben der Bevölkerungszunahme hat auch das für Städte der sogenannten entwickelten Welt typische Auseinanderfallen von Arbeiten und Wohnen zu einem enormen Verkehrswachstum geführt. Öffentliche Verkehrssysteme sind völlig überlastet; ihr Ausbau, der lange von der Weltbank und der Interamerikanischen Entwicklungsbank finanziert wurde, scheint heute, wie so manches U-Bahn-Projekt zeigt, nicht mehr tragbar. In ökonomischen Krisenzeiten wird die Aufrechterhaltung öffentlicher Infrastruktur immer schwieriger. Die Tarife wurden in den letzten Jahren drastisch angehoben. Um so stärker trat die soziale Ungleichheit bei der Versorgung hervor. In Argentinien, Kolumbien und Mexiko versucht man verstärkt, durch Privatisierung die oft defizitären öffentlichen Unternehmen loszuwerden. Auf dem gesamten südlichen Kontinent ist jedoch außer Telefon- und Telekommunikationsunternehmen deren große Mehrzahl bisher nicht in private Hände übergegangen.
Leider behandelt Gilbert die ökologischen Probleme nur als Unterpunkt in seinem Kapitel zur städtischen Infrastruktur. Er greift mit seiner Kritik an der bisher implementierten Umweltpolitik auch deshalb zu kurz, weil er die gesundheitliche Problematik in den Vordergrund stellt. Flächen-, Energie- und Ressourcenverbrauch hätten hier stärker im Vordergrund stehen müssen.
Gilbert ist besonders daran gelegen, mit einem gerade in Europa gerne gepflegten Klischee über die politische Bedeutung städtischer sozialer Bewegungen aufzuräumen. Obwohl diesen sicher seine Sympathie gilt, stellt er klar, daß eher politischer Konservatismus vorherrscht. Linke Parteien oder gar radikale linke Gruppierungen erreichen in Lateinamerika seit jeher keine Massenbasis. Die Tendenz von barrio-Bewegungen, mit lokalen PolitikerInnen in Verhandlungen einzutreten oder sich gegen Zugeständnisse in Wahlzeiten kooptieren zu lassen, kann auch kaum geleugnet werden. Strukturelle Veränderungen des Systems stehen meist hinter lokal begrenzten Verbesserungen für die eigene barrio-Bewegung zurück. Schließlich darf aber nicht unterschätzt werden, daß es auf diesem Wege oft gelungen ist, die realen Lebensbedingungen zu verbessern. Ganz im Gegensatz jedoch zum allseits beliebten Bild der Sozialrevolte war selbst in Stadtvierteln, in denen sich eine rege Interessenvertretung gebildet hatte, die Beteiligung der Betroffenen oft sehr begrenzt geblieben. Verantwortlich dafür sind, so Gilbert, neben dem politischen Verständnis der Gemeinschaften selbst, Klientelismus, Kooptation, populistischer Führungsstil und Repression durch die politisch Herrschenden.
Enttäuschend und inkohärent bleiben die abschließenden Aussagen über die Zukunftsperspektiven der “Latin American City”. Das Urteil des Autors fällt überraschend positiv aus. Nach einer Fülle detaillierter Informationen und kritischer Reflexion bisheriger Veröffentlichungen über städtische Entwicklung muß den Leser / der Leserin erstaunen, wie konventionell dieser Ausblick ausfällt. Die Tendenz des sinkenden Bevölkerungszuwachses der Metropolen läßt Gilbert ebenso hoffen, wie der Erfolg diversifizierter Exportstrategien und positiver, entbürokratisierender Effekte neoliberaler Strukturanpassung. Wirtschaftswachstum wird schließlich zum Schlüssel der Probleme und damit, so macht es der Autor gerade an der Entwicklung neuer Wachstumspole an der US-Grenze Mexikos deutlich, ist in erster Linie industrielles Wachstum gemeint. Chile oder das NAFTA-Mitglied Mexico als Erfolgsmodelle auch für andere Länder? Hier fällt der Autor in eine Denkweise zurück, die er am Beispiel der Tertiarisierungsthese zuvor mit Recht kritisiert hatte. Voraussetzung für eine Zukunft der Stadt sei natürlich politische Stabilität, also die Fortsetzung der Demokratisierungsprozesse, aber auch eine gerechtere Verteilung der Einkommen und wachsende Aufwendungen für staatliche soziale Leistungen. Daß gerade Struktur-anpassungsprogramme soziale Verbesserungen für die Masse der Bevölkerung unmöglich gemacht haben und diese auch in den Erfolgsländern kaum am Wachstum partizipieren, ist jedoch eine bittere Lektion der achtziger und beginnenden neunziger Jahre. Wirtschaftswachstum an sich als entscheidende Voraussetzung für strukturelle Verbesserungen städtischer Infrastruktur und Umwelt anzusehen, spricht zudem den Erkenntnissen einer kritischen Umweltdiskussion Hohn.
Alan Gilbert – The Latin American City. Latin Amerika Bureau, London 1994. ISBN 0906156823. Zu beziehen bei: Lateinamerika Nachrichten Vertrieb, Gneisenaustr. 2, 10961 Berlin