Bolivien | Nummer 594 - Dezember 2023 | Wahlen

Tiefer Graben durch die MAS

Bolivien Regierungspartei ist in Unterstützer*innen von Staatschef Luis Arce und Expräsident Evo Morales gespalten

Zwei Jahre vor den Wahlen um Präsidentschaft und Parlament in Bolivien ist die Regierungspartei Bewegung zum Sozialismus (MAS) tief gespalten. Staatschef Luis Arce und der langjährige Staatschef Evo Morales streiten sich um die Präsidentschaftskandidatur 2025, ihre Anhänger*innen liefern sich Auseinandersetzungen um die Macht in der Partei und in den sozialen Organisationen an der Basis.

Von Steffen Heinzelmann, La Paz
Eigene Versammlung statt Parteitag Vizepräsident Choquehuanca (links) und Präsident Arce (Mitte) am 17. Oktober in El Alto (Foto: Jorge Mamani/ABI)

Der Parteitag der MAS am 3. und 4. Oktober hat die beiden Flügel um Präsident Arce und seinen Vorgänger Morales (2006–2019) endgültig entzweit. Die Delegierten des nationalen Kongresses bestätigten Morales als Parteivorsitzenden und erklärten ihn zum „einzigen Kandidaten“ für die Präsidentschaftswahl 2025. Arce und sein Vize David Choquehuanca dagegen wurden aus der MAS ausgeschlossen.

Mehrere soziale Bewegungen und der Dachverband der bolivianischen Gewerkschaften (COB) hatten den Parteikongress in Lauca Ñ im Departamento Cochabamba allerdings schon davor für „illegal und illegitim“ erklärt. Die drei Gründungsorganisationen der MAS, der Gewerkschaftsbund der Landarbeiter*innen (CSUTCB), der Gewerkschaftsbund der interkulturellen Gemeinschaften (CSCIB) und die Landfrauenorganisation Bartolina Sisa, hatten den Parteitag abgelehnt, da an diesem deutlich weniger Vertreter*innen von ihnen teilnehmen sollten als an vorherigen Kongressen.

Auch Arce und Choquehuanca hatten beschlossen, nicht am Parteitag teilzunehmen: „Wir können nicht in ein Haus gehen, in dem die wirklichen Eigentümer, die sozialen Organisationen, nicht anwesend sind“, hatte der Präsident dies begründet. Auf der Versammlung im tropischen Teil Cochabambas, der als politische Bastion von Morales gilt, schlossen die mehr als 1.000 Delegierten dann zügig Arce und Choquehuanca sowie 20 weitere Politiker*innen aus der Partei aus – angeblich eine autoexpulsión, also ein „Selbstausschluss“, da sie nicht an der Konferenz teilgenommen hatten. „Die MAS wird unsere Revolution zurückgewinnen, um das Vaterland erneut zu retten“, betonte Morales am Ende seiner Abschlussrede auf dem Kongress.

Die Anhänger*innen von Arce mobilisierten ihrerseits Unterstützer*innen an der Basis. Der „Einheitspakt“, den fünf einflussreiche politische Basisorganisationen in Bolivien bilden, organisierte am 17. Oktober in El Alto eine große Versammlung und einen Protestmarsch zur Unterstützung des Präsidenten und Vizepräsidenten.

Von weitaus größerer Bedeutung ist jedoch, dass das Oberste Wahlgericht (TSE) am 31. Oktober den MAS-Parteitag in Lauca Ñ und die dort gefällten Entscheidungen für ungültig erklärt und die Durchführung eines neuen Kongresses angeordnet hat. Grund dafür sei, dass Evo Morales nicht die notwendige Bescheinigung über seine Mitgliedschaft in der MAS seit 2002 vorgelegt habe. Außerdem erfüllten 14 der 16 Mitglieder im neu gewählten Parteidirektorium nicht die dafür vom MAS-Statut vorgeschriebenen mindestens zehn Jahre Mitgliedschaft. Während der Einheitspakt umgehend einen neuen Parteitag der MAS ankündigte, bezeichnete Morales das Urteil als „Schlag gegen die Demokratie, die indigene Bewegung und die demokratische Kulturrevolution“ und kündigte an, juristisch und politisch dagegen zu kämpfen.

Anfangs hatten manche in der Fehde zwischen Arce und Morales ein Schauspiel zur Verwirrung der rechten Opposition vermutet. Inzwischen ist aber klar: Ein tiefer Graben zieht sich durch die MAS und durch gesellschaftliche Organisationen wie den CSUTCB oder die Landfrauenorganisation Bartolina Sisa, die jahrelang als starke Basis den politischen Prozess der Umgestaltung in Bolivien durch die MAS unterstützten. Auf der einen Seite sind die Anhänger*innen von Präsident Luis Arce, die Arcistas; ihnen gegenüber stehen die Evistas, die Unterstützer*innen von Parteigründer Evo Morales.

Am 19. August beispielsweise eskalierte der Kongress des Gewerkschaftsbunds CSUTCB in der Stadt El Alto: Dort kam es zu erbitterten Schlägereien, mehr als 450 Teilnehmende wurden verletzt. Der CSUTCB ist jetzt gespalten, die einflussreiche Gewerkschaft besteht aus zwei Fraktionen mit je eigenem Vorsitz. Einer wird von der Regierung Arce anerkannt, der andere vom MAS-Parteivorsitzenden Morales.

Das hat weitreichende Folgen. „Ich glaube, dass sich die MAS in zwei Parteien aufspalten wird“, erwartet Fernando Molina, bolivianischer Journalist und Autor des kürzlich veröffentlichten Buches Die Krise der MAS. Zu tief sei die Spaltung zwischen Arce und Morales mittlerweile – dabei gibt es zwischen beiden keine großen ideologischen Unterschiede. Arce war viele Jahre lang Wirtschaftsminister in den Regierungen von Morales und galt als dessen Verbündeter.

Vor einem Jahr, im September 2022, hatte Morales erstmals einen „schwarzen Plan“ der Regierung Arce gegen ihn und sein Umfeld beklagt. Es begannen zahlreiche scharfe Auseinandersetzungen, die Wunden auf beiden Seiten hinterlassen haben: Im Juni 2023 warnte Morales zum Beispiel vor einem „Komplott“ der Regierung, um ihn zu „zerstören“. Der gegenseitige Vorwurf, korrupt und in den Drogenhandel verwickelt zu sein, gehört in dieser politischen Fehde fast schon zum Standard.

Arce und seine Regierung stehen vor akuten Problemen

Der Ursprung des Konflikts liegt dabei wahrscheinlich weiter zurück: Vor der Wahl 2020 hatte Evo Morales noch Luis Arce als MAS-Kandidaten durchgesetzt, um seinen politischen Rivalen und den eigentlichen Favoriten der Partei, David Choquehuanca, zu verhindern. Die MAS gewann die Abstimmung deutlich, Arce wurde Staatspräsident und Choquehuanca sein Vize. Angeblich hatte es damals die Vereinbarung gegeben, dass Morales 2025 als Kandidat zurückkehren werde, doch Arce und Choquehuanca etablierten sich selbstbewusst als Regierung der Erneuerung statt als Platzhalter.

In Teilen der Partei gab es bereits damals die Forderung, sich von der Identifikationsfigur Evo Morales und seinem Gefolge abzunabeln. In seiner Rede bei der Amtseinführung als Präsident im November 2020 erwähnte Arce Morales mit keinem Wort. Weder sprach er ihn an, noch dankte er ihm. Außerdem entfernte die Regierung nach und nach Vertraute von Morales aus der Regierung. Zuletzt wurde am 6. September Generalstaatsanwalt Wilfredo Chávez, einer der wenigen in hohen Ämtern verbliebenen Evistas, ausgetauscht.

Gleichzeitig stehen Arce und seine Regierung vor akuten Problemen: Boliviens Wirtschaftsmodell ist strukturell verletzlich, weil es stark von Marktpreisen für Rohstoffe abhängig ist. Ende August bestätigte der Präsident, was Fachleute seit Jahren vermuten: Die Gasreserven des Landes gehen zur Neige. Zudem spüren die Menschen die Klimakrise und die Folgen der Umweltzerstörung, die Bevölkerung großer Teile des Landes leidet unter extremer Trockenheit, das Wasser im Lago Titicaca sank auf einen historischen Tiefstand.

Auch als Bolivien am 31. Oktober erklärte, die diplomatischen Beziehungen zu Israel abzubrechen und als Grund dafür „die aggressive und unverhältnismäßige israelische Militäroffensive im Gazastreifen“ nannte, stand das durchaus in der Tradition der Politik der Regierungen von Morales: Bereits 2009 hatte Evo Morales den diplomatischen Austausch zu Israel ausgesetzt, als dessen Armee damals den Gazastreifen angriff. Erst die De-facto-Präsidentin Jeanine Añez nahm vor drei Jahren die Beziehungen zu Tel Aviv wieder auf. Trotzdem konnte sich Morales dieses Mal den Seitenhieb nicht verkneifen, die Entscheidung Arces komme erst nach drei Jahren im Amt und auf Druck der Bevölkerung. Zudem sei sie nicht ausreichend, stattdessen müsse Bolivien Israel zum „Terrorstaat“ erklären und vor dem Internationalen Strafgerichtshof verklagen.

Falls es innerhalb der MAS keine Einigung gibt oder sich eine der beiden Parteiströmungen durchsetzt und danach die volle Unterstützung erhält, könnte sich die politische Landschaft in Bolivien erstmals seit dem ersten Wahlsieg von Morales 2005 entscheidend verändern. Álvaro García Linera, der von 2006 bis 2019 Vize der Regierung Morales war und seit Monaten vor dem politischen Desaster einer Spaltung der MAS warnt, versicherte bereits, die Folge eines Bruchs würde eine Niederlage 2025 bedeuten. Morales ebenso wie Arce hätten daher die „moralische, historische und politische Verpflichtung zur Einheit“.

Eine Spaltung der MAS könnte den politischen Gegnern helfen

Eine Spaltung der MAS könnte darüber hinaus den politischen Gegnern helfen, die derzeit noch sehr schwach wirken: Sie verfügen nicht über eine Organisation an der Basis wie die MAS, prominente Oppositionspolitiker*innen wie der rechte ehemalige Präsidentschaftskandidat Luis Camacho oder die ehemalige De-facto-Präsidentin Jeanine Añez sitzen in Haft.

Nicht zu unterschätzen sind die Folgen des aktuellen Streits für die Basis. Die MAS konnte Bewegungen von Arbeiter*innen im Bergbau und in der Landwirtschaft sowie indigene Organisationen vereinen und aus dieser Einheit ihre Stärke ziehen. Die politische Vertretung des Landes befinde sich jetzt jedoch in der Krise und die sozialen Organisationen seien „zerbrochen“, warnt Jorge Richter, der Sprecher des Präsidenten, vor einem „Parallelismus“ in den sozialen Bewegungen.

Von einer „selbstmörderischen Einstellung“ der MAS spricht Journalist Molina, bevor er hinzufügt: „Das schlimmste Szenario für die bolivianische Linke ist, dass die MAS die Wahl 2025 verliert und aufgrund der Spaltung der sozialen Organisationen keine Kraft hat, sich der neuen Regierung entgegenzustellen.“ Dann könne der Neoliberalismus nach Bolivien zurückkehren, weil niemand in der Lage sei, die sozialen und politischen Errungenschaften der vergangenen Jahre zu verteidigen.

Wenn im zweiten Halbjahr 2025 tatsächlich Arce und Morales gegeneinander kandidieren sollten, wird auch die Frage, wer unter dem Akronym MAS antreten darf, bedeutend. Das Parteikürzel der Bewegung zum Sozialismus steht heute für den einschneidenden gesellschaftlichen Wandel, den Bolivien in den vergangenen beiden Jahrzehnten erlebt hat, sowie vier siegreiche Präsidentschaftswahlen seit 2005. Im Falle eines Streits um die Nutzung der Abkürzung würde die Entscheidung beim Obersten Wahlgericht liegen. „Für diesen Namen könnte Blut fließen, denn es ist ein sehr mächtiger Name in einer Wahl“, warnt Fernando Molina bereits.

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