Film | Nummer 368 - Februar 2005

Überlebende, irgendwie

Ein verstörender Dokumentarfilm über die Menschen in Nicaragua nach dem Krieg

Georg Neumann

Wie bebildert man Krieg und das durch ihn verursachte Leid? Bombeneinschläge? Zerstörte Straßen und Häuser? Schreiende Frauen? Diese Aufnahmen sind bekannt, aber das Leid geht viel tiefer und hinterlässt Narben, die nur schwer heilen.
Mercedes Moncada Rodríguez, der Vater aus Nicaragua und die Mutter Spanierin, porträtiert die Überlebenden einer Familie aus Waslala, einem Dorf im nicaraguanischen Bergland. Sie sucht nach Erklärungen für die Zeit von 1980 bis 1990, die sie selbst als Jugendliche in Managua verbrachte: „Diese Wiederbegegnung war keine Liebesgeschichte, sondern eine sehr unangenehme, mein Inneres und mein Bewusstsein aufwühlende Erfahrung. Ich habe mich zum ersten Mal dem Land genähert und dabei versucht, in den vielen Horrorgeschichten einen Sinn zu finden.“
Waslala lag während des Krieges zwischen den Contras und den regierungstreuen Compas, den Sandinisten, mitten im Kampfgebiet. Nur ein Dorf von vielen im nicaraguanischen Bergland. Auch die Familie ist nur eine von unzähligen in Nicaragua, die der Krieg zeitlebens verändert hat.
Die Überlebenden des Krieges sind die Mutter und vier ihrer fünf Kinder: Reina und ihre Tochter, die Zwillinge José Antonio und Juan Antonio und Maria. Der Vater und einer ihrer Söhne sterben im Krieg. Die Regisseurin nähert sich der Familie in kleinen Schritten und langen Gesprächen, die nach und nach die Wunden entblößen.

Der Morgen, der alles veränderte

3. April 1983, sechs Uhr morgens: Die Contras stürmen Waslala und verschleppen bis auf die Mutter und Juan Antonio die ganze Familie. Reina, damals 15 Jahre, lässt ihre Tochter bei der Mutter und geht mit, um auf ihre 12- und 13-jährigen Brüder aufzupassen. Sie weiß, worauf sie sich einlässt, in einem Krieg von Männern. Sie wird vergewaltigt, immer wieder, weitergereicht von Anführer zu Anführer und dann an die Soldaten. José Antonio wird ausgebildet. Als 12-Jähriger lernt er, ein Maschinengewehr auseinander und wieder zusammenzubauen. Er lernt, wie man sich von veraastem Fleisch ernährt. Die Kriegstaktiken werden ihm von den US-Amerikanern und Exil-Kubanern erklärt. Aus dem fröhlichen Jungen wird „eine Maschine, ein Roboter“, wie er über sich selber sagt. „Du wirst dafür trainiert, an der Front zu sterben. Den Gockeln geht es genauso: Sie werden trainiert, um für Geld zu kämpfen, damit Wetten gewonnen werden können.“ Sein Zwillingsbruder Juan Antonio, den die Mutter den Contras entrissen hatte, muss später zum Militärdienst bei den Sandinisten. Jetzt geht es für die Geschwister um Leben und Tod, denn der eigene Bruder trägt die Uniform des Feindes.
Nach dem Kampf geht Maria auf dem Schlachtfeld unter den Liegengebliebenen ihren Bruder suchen. Sie dreht die Toten um, um ihr Gesicht zu sehen, denn die Uniform ist bei allen gleich. Juan Antonio überlebt, aber der ältere Bruder Emilio stirbt und wird drei Jahre später von der Familie beerdigt, „schon zur Hälfte von der Erde gefressen.“

Opium fürs Volk

Nach dem Krieg ist nicht vor dem Krieg. Die um ihre Kindheit Betrogenen stehen sich wieder gegenüber, nun wieder als Geschwister, und sie müssen dem Leben einen Sinn geben, eine Zukunft. Sie sind die ideale Zielgruppe für die Evangelikalen. Maria wird von ihren Dämonen befreit und sie bemerkt, dass sie die Gabe besitzt, Hellzusehen und Menschen zu heilen.
Der Priester des Dorfes sammelt die Kollekte bevorzugt in 50- und 100- Córdoba-Scheinen, „um die Arbeit von Gott zu unterstützen“, denn nur wer spendet, kommt in den Himmel. Wo es keine Erklärungen mehr gibt für all die Toten, die Wunden und die Sünden, hilft Gott, der Allmächtige. Um das Unfassbare zu greifen, montiert Moncada ein starkes, hypnotisierendes Bilder-Delirium, mit der schreienden Sängerin Diamanda Galás unterlegt. Der Jesus, der seine Arme ausbreitet und sie alle aufnimmt. Das Kreuz, das sie alle zu tragen haben und das überall hängt, die Kreuze der Gefallenen, der Toten. Nur er kann vergeben. Aber kommt eine Prostituierte in den Himmel, eine, die ihren Mann betrogen hat? Ihr ist es „peinlich“, aber die Männer fühlen sich nicht schuldig, dass sie Frauen vergewaltigt haben, wenn sie durch die Dörfer gekommen sind.
Der Tochter Reinas, Lesbia Lisbeth, soll es einmal besser gehen. Sie möchte Lehrerin werden. Dafür wird sie von einer US-amerikanischen Familie in Miami adoptiert, auch sie Evangelikale. Bei ihnen wird sie anders heißen: Lisbeth de Jesús. Zwölf weitere Adoptionen aus dem Dorf sollen folgen. Der Mutter wurde versprochen, dass sie dort nicht vergewaltigt werden wird. „Alles was sie dir eintrichtern, glaubst du ihnen“, sagt José Antonio über das Militär. Bei der Religion ist es nicht anders.

Schüsse im Kopf

Zwischen den Gesprächen herrscht Leere. Der Dschungel und das nebelverhangene Bergland Nicaraguas – ein Kontrast zu dem Gehörten. Aber für romantische, friedliche Gedanken bleibt kein Platz. Unter den Baumkronen wurde gekämpft. Die Kamera führt den Zuschauer in das Bambus-Dickicht, hier lag ein Erschossener, dort saß ein Kind. Durch die Luft hallen Schüsse, immer wieder, während des Krieges, zehn Jahre lang. Mal weiter weg, mal näher. Die Schüsse lassen die Personen nicht los, sie ziehen sich durch den Film. Manchmal wirken die Naturaufnahmen zu konstruiert, zu symbolisch. Die wilde Kreuzorgie immer wieder und die krabbelnden Ameisen, der Unsterbliche, ein Lastwagen, der am Ende doch die Straße runterrutscht und liegen bleibt, nachdem er noch durch jeden Morast gekommen war. Der Film scheint nicht zu enden. Es kommt immer noch eine Einstellung, immer noch ein Satz. Für diese Familie kann die Geschichte nicht zu Ende gehen.

Bilder im Kopf

Mercedes Moncadas Porträt hinterlässt viele Fragen und gibt keine Antwort, außer dass es vielleicht keine Antwort auf die Fragen gibt. Die Menschen überleben. Irgendwie. Nicht nur diesen Krieg, sondern auch all die anderen, die tagtäglich geführt werden. Dank der sehr persönlichen Interviews und einer respektvollen Kamera kommt der Zuschauer sehr nah an die Menschen heran und es kann eine fast familiäre Beziehung entstehen. Die Bilder zum Krieg und zum Leiden entstehen im Kopf. Es sind keine schönen Bilder.

El Inmortal; Regie, Buch: Mercedes Moncada Rodríguez; Nicaragua/Mexiko/Spanien 2005; 35 mm; Farbe; 78 Minuten. Der Film wird im Forum der Berlinale (10. bis 20. Februar 2005) gezeigt.

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