Literatur | Nummer 286 - April 1998

„… und auszusprechen, was ist“

Über das Engagement in der lateinamerikanischen Literatur

Zuweilen liegen Jubiläen so dicht beieinander, daß die Veranstaltungen, Specials, Ausstellungen und Kommentare fast eine selbständige, die Gegenwart prägende Grundstimmung erzeugen. Am 13. Dezember 97 Heine, am 13. Januar 98 Emile Zolas „J’accuse“, am 10. Februar Brecht – allesamt Schriftsteller, die sich akzentuiert zum politischen Geschehen äußerten. Dennoch steht in Europa die engagierte Literatur gleichberechtigt neben anderen Strömungen. Anders in Lateinamerika: Hier wurde das Engagement zum Markenzeichen der Literatur überhaupt. Was aber wiederum viel mit Europa zu tun hat.

Markus Müller

Klappentexte von Büchern haben in erster Linie animatorische Funktion, und man könnte sie auf den Imperativ „Kauf mich!“ reduzieren. Eigentlich ist das eine banale Feststellung. Interessant dabei ist jedoch zu beobachten, von welchen Aussagen sich die Verlage die höchsten Absatzchancen erhoffen. Bei lateinamerikanischen AutorInnen heißt es im Klappentext meist „ein lauter Aufschrei gegen Fremdbestimmung und Gewaltherrschaft“ oder „ein poetischer Ausflug in das undurchsichtige Reich der Mythen des Kontinents“ et cetera. Revolution und Magie: Lateinamerika hat genau das zu bieten, was uns fehlt. Also, her damit!
Zugegeben: obwohl ein solcher Blick ziemlich naiv anmutet, so daneben ist er trotz seiner politischen Inkorrektness – wider Revolutionsromantik und Exotismus – gar nicht. Tatsächlich bilden beide Begriffe das Rückgrat der lateinamerikanischen Literaturgeschichte. Wenn es auch keine Literatur gibt, die nicht politisch wäre, wie Enzensberger bereits vor längerem festgestellt hat, so spielte Engagement, und zwar für ein konkretes politisches Projekt, in der lateinamerikanischen Literatur immer eine besondere Rolle. Sozialkritik, wie wir sie heute gewohnt sind, ist vor allem im postrevolutionären Frankreich entstanden.
„Nichts ist revolutionärer, als zu erkennen und auszusprechen, was ist“, hat Rosa Luxemburg einst gesagt. Genau dieses Motto scheinen sich die Literaten Frankreichs bereits 100 Jahre früher zu Herzen genommen zu haben. Also schrieben sie, was ist. Realismus nennt man das heute. Victor Hugo beschrieb „Die Elenden“, die Ausgestoßenen und Geschundenen, und machte so die Widersprüche der bürgerlichen Gesellschaft sichtbar. An der Sozialen Frage zeigte sich auf bittere Weise, daß die Ideale der Französischen Revolution, Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, in keinster Weise eingelöst waren. Ebenso Gustave Flaubert. Dessen Figuren, wie zum Beispiel Madame Bovary, sind zwar alle bourgeois, dafür aber ziemlich eklig, falsch und dumm. In seinem Werk wird besonders deutlich, daß die revolutionäre Dynamik der Bürgerlichen in steifen Formen erstarrt ist und sich ein gehöriges Maß an Selbstgefälligkeit breit gemacht hat.

Unabhängigkeit und Literatur

In Lateinamerika stellte sich die Frage freilich auf gänzlich andere Weise. Hier waren es nicht die inneren Widersprüche der Gesellschaft, die das Engagement der Schriftsteller hervorbrachten, sondern in erster Linie der Kampf für die Emanzipation von der spanischen Kolonialherrschaft. Die criollos, Lateinamerikaner spanischer Abstammung, hatten es Ende des 18. Jahrhunderts zu einer beträchtlichen wirtschaftlichen Macht und damit auch zu einem erstarkten Selbstbewußtsein gebracht. Die Literaten, die häufig auch politische Ämter innehatten, begannen die indianischen Wurzeln wieder auszugraben, und der Indio, eben noch als unsittlicher Rohling verpönt, wurde plötzlich zum Sinnbild des Guten und Schönen stilisiert.
Übrigens nicht ganz ohne literarische Vorbilder. Bereits in Alonso de Ercillas dreiteiligem Epos La Araucana (1569, 1578-1589) wird die Schönheit und Heldenhaftigkeit der Indianer einerseits und die überzogene Grausamkeit der Spanier bei der Eroberung Chiles andererseits nachgezeichnet. Die Grenzziehung zwischen Gut und Böse, die hier in der Literatur mit einer Wiederauflage der „Schwarzen Legende“ und der Stilisierung des Indio in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vorgenommen wird, hatte, im Gegensatz zum Indigenismus im zwanzigsten Jahrhundert, wohl kaum die Emanzipation der indigenen Bevölkerung zum Ziel. Sie wurde hier vielmehr als Speerspitze gegen Spanien benutzt. Dennoch bilden die um die Figur des Indio gestrickten Bemühungen um die Suche nach einer (latein-)amerikanischen Identität seit damals einen Grundkonsens in der Literatur des Subkontinents: Identität, die Kenntnis des Selbst, wird zur ideellen Grundlage und Voraussetzung für einen Kampf um Selbst-Behauptung.
Nach der Konsolidierung der Republiken wurde der Kontinent von Bürgerkriegen zwischen Liberalen und Konservativen überzogen, und die Literaten begannen, sich für die eine oder andere Seite zu engagieren. Die bekannteste Figur aus dieser Zeit ist der Argentinier Domingo Faustino Sarmiento. Als während der Diktatur Rosas’ die Zeiten für liberale Literaten schwerer wurden, schrieb er, später selbst Präsident des Landes, im chilenischen Exil seinen in jeglicher Hinsicht vielbeachteten Facundo (1845). Sarmiento wollte sein Werk als einen „gegen das Haupt des Tyrannen Rosas geschleuderten Felsbrocken“ verstanden wissen, denn dieser verkörperte für ihn die Barbarei der argentinischen Pampa, der er die europäische, städtische Tradition gegenüberstellt.
Erst als in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts die Bürgerkriege abflauen, geht auch das konkrete politische Engagement der Literaten zurück, und man beginnt den Blick auf die Gesellschaft zu richten: Realismus und in seinem Gefolge Naturalismus halten Einzug.
Bezeichnenderweise sind die meisten Werke aus dieser Epoche ohne große Bedeutung geblieben und werden in der Literaturwissenschaft meist in die Rubrik “Abklatsch der französischen Meister Balzac, Flaubert und Zola” eingeordnet.

Unser Amerika

Neue Dynamik bekam die Literatur um die Jahrhundertwende. Einerseits begann sie sich mit dem Modernismus des Nicaraguaners Ruben Darío von der Politik zu emanzipieren. Andererseits entstanden im Gefolge des Modernismus die ersten kulturkritischen und ästhetischen Manifeste. José Martís Essay Nuestra América (Unser Amerika, 1891) ist der leidenschaftliche Versuch einer geistigen Unabhängigkeitserklärung und ein Appell gegen die unkritische Übernahme europäischer Vorbilder, sowohl auf dem Gebiet der Ästhetik als auch dem der Politik. Außerdem warnte Martí eindringlich vor den USA, die begonnen hatten, sich in ihrem Hinterhof mit dem Big Stick einzurichten. So wurde das Feindbild Spanien von den USA abgelöst.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts stellten die Mexikanische und die Russische Revolution in der Konsequenz den Indio und dessen soziale Rolle in ein neues Licht. Im letzten Jahrhundert noch guter Wilder, wurde er jetzt Teil der verarmten Landmassen und damit möglicher Protagonist für eine Revolution.
Der Einfluß des sozialistischen Realismus wird unübersehbar. Wenn diese Werke auch politisch gut gemeint waren, von der Literaturkritik werden sie heute, auch von ausgewiesenen Linken, eher kritisch betrachtet. So schreibt der Chilene Fernando Alegría über das bekannteste Werk dieser Art, Huasipungo von Jorge Icaza (1934): „Die Übertreibung in seinen Beschreibungen stößt ab, das Mitgefühl weicht der Irritation und dem Unbehagen… man ahnt Simplifizierung und Propaganda. Der Leser wird mißtrauisch.“
Es wäre jedoch völlig falsch, allen sozialkritischen oder indigenistischen Romanen das Anti-Prädikat “Sozialistischer Realismus” zu verpassen. Die Werke des Mexikaners José Revueltas, die meist Klassenkonflikte zum Thema haben, gehören heute zu den innovativsten Leistungen in Mexiko. Auf dem Gebiet des Indigenismus erhielt vor allem der Peruaner José María Arguedas auch von der Literaturkritik gute Noten. In seinen Romanen, von denen Los ríos profundos (Die tiefen Flüsse, 1958) die größte Bekanntheit erlangt hat, gelingt es ihm, tatsächlich in die indigene Welt einzudringen und sie aus deren Sicht zu deuten.

Der Spanische Bürgerkrieg

Die Aufgabe, ästhetische Erneuerung und politisches Engagement miteinander zu verbinden, fiel im spanischsprachigen Amerika vor allem der Poesie zu. Während die europäischen Avantgardebewegungen wie Dadaismus und Surrealismus mit ihrem durchaus politisch gemeinten Anspruch, die Institution ‘Kunst’ zu zerstören und sie der Lebenspraxis zuzuführen, in Lateinamerika politisch wirkungslos blieben, war es vor allem ein politisches Ereignis, das den entscheidenden Impetus gab: der Spanische Bürgerkrieg.
Alle diejenigen, die das Herz auf dem rechten Fleck hatten, sich aber dem Diktat des sozialistischen Realismus nicht unterwerfen wollten, jetzt konnten sie nicht mehr anders. Pablo Neruda, der bis dazumal vor allem Liebesgedichte und Naturbeschreibungen verfaßt hatte, packte von nun an, möglicherweise ausgelöst durch den Mord an seinem Freund Federico García Lorca, all seine Wut und Entrüstung in seine Gedichte. Es entstand seine Sammlung España en el corazón (Spanien im Herzen, 1937), die ich persönlich für eine seiner besten halte. Das Gedicht Explico algunas cosas (Ich werde einige Dinge erklären) thematisiert explizit diese Wandlung:
Ihr werdet fragen: Und wo sind die Flieder
Und die mohnbedeckte Metaphysik
Die Erklärung ist denkbar einfach und könnte dennoch überzeugender nicht sein:
Kommt und seht das Blut in den Straßen!
Ähnlich wie Neruda bringt auch dessen Mitstreiter im „Iberoamerikanischen Komitee für die Verteidigung der Spanischen Republik“, der Peruaner César Vallejo, in seinem Gedichtband España, aparta de mi este cáliz (1938) seine Abscheu über die Ereignisse in Spanien zum Ausdruck. Im Gegensatz zu Nerudas majestätischer Sprache verfließen bei Vallejo die Grenzen zwischen dem Vulgären und dem Schönen. Für ihn war die Poesie nicht zum ästhetischen Genuß bestimmt, sondern sie hatte die Aufgabe, die Gesamtheit des Lebens zu offenbaren. Insofern ist Vallejos Poetik vor allem der Avantgarde verpflichtet.
Der Spanische Bürgerkrieg hatte die Intellektuellen in aller Welt erschüttert und brachte eine unüberschaubare Fülle an engagierter Literatur hervor. Ob Orwell, Malraux oder Brecht, alle haben sie ihr Spanienbuch geschrieben. Überhaupt hat die Erfahrung des Faschismus das Kunstverständnis in der westlichen Welt verändert. Die vorbehaltlose Verteidigung des l’art pour l’art-Konzeptes mutete angesichts der Verbrechen von Auschwitz geradezu zynisch an, aber auch das antimoderne Kunstverständnis der Sowjetobersten, die die Avantgardebewegung als bürgerlich-dekadent ablehnten und bekämpften, verunsicherte die Künstler und rief Grabenkämpfe hervor.
In dieser Zeit veröffentlichte Jean-Paul Sartre das wichtigste Manifest des Engagements Qu’est-ce que la littérature? (Was ist Literatur?, 1947), in dem er versucht, aus dem Wesen der Literatur die Notwendigkeit zum Engagement für die Freiheit abzuleiten. Erstaunlich ist jedoch, daß gerade die Poesie, die Sartre vor der Verpflichtung zum Engagement zu retten versucht, in Lateinamerika eben dasjenige Genre war, das Sartres Plädoyer, mit Neruda und Vallejo an der Spitze, am fruchtbarsten verarbeitet hat.

Revolution und Boom

Der Roman zog erst später nach, dann allerdings auf eine Art und Weise, die einen nie dagewesenen Boom auslöste und die Stellung Lateinamerikas innerhalb der literarischen Moderne radikal veränderte. Die Grundlage war wieder einmal ein politisches Großereignis: die Kubanische Revolution von 1959. Wie nie zuvor waren die Augen der Welt jetzt auf Lateinamerika gerichtet, und man war auch in Europa und Nordamerika gespannt, was von dort neben Revolutionären und Fußballweltmeistern noch kommen könnte.
Dann ging alles Schlag auf Schlag. La muerte de Artemio Cruz (Nichts als das Leben, 1962) von Carlos Fuentes, Rayuela (1963) von Julio Cortázar, Mario Vargas Llosas La ciudad y los perros (Die Stadt und die Hunde, 1963) und schließlich García Márquez’ Cien años de soledad (Hundert Jahre Einsamkeit, 1967). Die internationale Literaturkritik war entzückt, und es klingelte in den Kassen der Verleger.
Ästhetisch waren die Romane alle der Moderne verpflichtet; endlich schien die Revolutionierung der Erzähltechniken durch Autoren wie Joyce und Faulkner auch in Lateinamerika Schule gemacht zu haben. Ein politisches Engagement ließ sich jedoch nicht auf den ersten Blick erkennen. Zwar hatten die vier genannten Autoren die Kubanische Revolution mit Begeisterung aufgenommen und ihre Solidarität erklärt, jedoch dachte so jemand wie Cortázar nicht im Traum daran, sein literarisches Schaffen unmittelbaren politischen Notwendigkeiten unterzuordnen. Cortázar antwortete seinen Kritikern aus der realsozialistischen Ecke überzeugend: „Jedwede Verarmung des Wirklichkeitsbegriffes im Namen einer auf das Unmittelbare verkürzten Thematik und einer größeren Rezeptionsfähigkeit einfach gestrickter Leser ist nichts als ein konterrevolutionärer Akt… Im Gegensatz hierzu scheint mir nichts revolutionärer zu sein, als die Bereicherung der Wirklichkeit mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln.“ Er plädiert zwar nach wie vor dafür, daß die Schriftsteller über ihre ganz individuellen Erfahrungen schreiben, aber im Gegensatz zu Europa handele es sich bei diesen gleichzeitig auch um kollektive Erfahrungen. Politische Bedeutsamkeit erhält Cortázars Anliegen dadurch, daß er es, ganz traditionell sozusagen, zu einer Form des Kampfes für die kulturelle Identität Lateinamerikas und dessen Befreiung vom US-Imperialismus erhebt.
Gabriel García Márquez äußerte sich ähnlich. In Hundert Jahre Einsamkeit beschreibt er anhand von Aufstieg und Fall des mythischen Ortes Macondo die Geschichte Lateinamerikas als eine Geschichte von Fremdbestimmung und Abhängigkeit. Sein Buch wollte er deshalb vor allem als einen Appell an die Solidarität der lateinamerikanischen Völker untereinander verstanden wissen. Dies macht bereits das Titelbild seines Buches deutlich. Das umgedrehte E im Wort SOLEDAD (Einsamkeit), das allerdings in späteren Ausgaben verschütt gegangen ist, sollte dem Leser die Erkenntnis nahebringen, daß nur das Gegenteil von Einsamkeit, nämlich Solidarität, Macondos Untergang hätte verhindern können.

Literatur als ideologische Praxis

Das Engagement des Schriftstellers besteht also darin, einen Beitrag zur Identitätsfindung Lateinamerikas zu leisten, um damit dem Imperialismus, egal ob politischer, wirtschaftlicher oder kultureller Natur, etwas entgegenzusetzen. Deswegen also der Rückgriff auf populäre Mythen und Bräuche, und deswegen auch der Versuch einer Neuschreibung der Geschichte „von unten“. Diese beiden Elemente bilden die Grundpfeiler des Engagements in der modernen lateinamerikanischen Literatur, und die Liste der Werke, die eines oder beide Elemente verarbeiten, ist unendlich lang.
Ihr theoretisches Fundament finden sie, wenn auch nicht explizit, in den Ideen des italienischen Marxisten Antonio Gramsci. Dieser hatte bereits in der ersten Hälfte des Jahrhunderts von einer kulturellen Fremdbestimmung Italiens gesprochen, die durch die Abwesenheit einer nationalen Populärkultur ermöglicht würde. Innerhalb dieses Kontextes erfüllt jede kulturelle Äußerung, die aus den unterdrückten Klassen selbst kommt, eine oppositionelle, weil kontra-hegemoniale Funktion.
Das Engagement in der Literatur ist hier also nicht als politische Praxis im Sinne einer leninistischen Partei-Literatur (obwohl es die natürlich auch gab, wie wir gleich sehen werden) zu verstehen, sondern vielmehr als ideologische Praxis im Kampf um kulturelle Hegemonie. Ist diese erst erlangt, ist alles andere nur noch ein Kinderspiel.
In den sechziger Jahren schienen die Zeichen gut zu stehen. Nicht nur an der Peripherie, sondern im Zentrum selbst begann es zu brodeln. Gegen den Imperialismus gingen nicht nur die Studenten aus Mexiko, São Paulo und Buenos Aires, sondern auch die aus Berlin, Paris und San Francisco auf die Straße. Die Rhetorik wurde militanter, und in der kubanischen Kulturzeitschrift Casa de las Américas diskutierte man über den bewaffneten Kampf als politische Alternative.
So auch die Poeten. Zum Beispiel ging der Salvadorianer Roque Dalton aus dem Exil klandestin in sein Heimatland zurück und schloß sich einer bewaffneten Bewegungen an. Seine poetische Stimme mischte sich mit offen marxistisch-leninistischer Rhetorik und Kriegslärm. Literatur hatte der Revolution zu dienen, ästhetische Kriterien wurden von moralischen abgelöst. Statt gut oder schlecht hieß das Unterscheidungsmerkmal für die Bewertung von Literatur fortan richtig oder falsch. Obwohl politisch einem hoffnungslosen Dogmatismus verfallen, gelang es Dalton, dem sozialistisch-realistischen Selbstmord zu entgehen und statt dessen die Poetik in seinem Land zu revolutionieren, und das in einer Form, die mittlerweile auch von politisch rechts stehenden Intellektuellen anerkannt wird.
In der Folge entstand in Zentralamerika bis Anfang der 90er Jahre eine Fülle sogenannter Guerillaliteratur, meist in Form von Gedichten oder testimonios (Zeugnisberichten) über die aktuellen Geschehnisse. Viel ist darüber geschrieben worden, ob diese Werke überhaupt zur Literatur zu zählen sind, zumal sie in erster Linie politische Anliegen vertreten, und tatsächlich sind einige auch einfach schlecht geschrieben. Andere von ihnen sind jedoch mittlerweile zu Klassikern geworden und verschaffen uns Einblick in eine Zeit, wie es kein Geschichtsbuch besser könnte.
Mit dem Chile-Putsch 1973, dem Höhepunkt der US-amerikanischen Aggression gegenüber Lateinamerika, begannen auch einige Boom-Schriftsteller, ihr politisches Engagement in der Literatur zu stärken, und so schwor Gabriel García Márquez der Schriftstellerei gänzlich ab, um sich ganz dem politischen Journalismus zu widmen. Glücklicherweise hat er sein Wort nicht gehalten… Auch Julio Cortázars Texte wurden politisch konkreter. Höhepunkt bildet hier sicherlich sein 1984 erschienenes Nicaragua-Buch. Vargas Llosa hat Cortázars politisches Werk in seinem Vorwort zur Gesamtausgabe der Erzählungen des Argentiniers als kreativen Abstieg kritisiert. Mag sich der Leser sein Urteil selbst bilden.

Abkehr vom Engagement?

Mittlerweile sind die Zeiten für politische Literatur schwieriger geworden. Vor allem die Steckenpferde „Antiimperialismus“ und „Identität“ sind in Mißkredit geraten, und tatsächlich hat sich die politische Konstellation seit 1989 radikal verändert.
Zum einen hat die ideologische Entpolarisierung (nicht Entideologisierung, wohlgemerkt) der Literatur die Möglichkeit eröffnet, sich von politischen Zwängen zu befreien und sich wieder mit sich selbst zu beschäftigen, ohne gleich reaktionär zu sein. Zum anderen bedeutet dies jedoch trotz aller Unkenrufe nicht, daß das Engagement aus der Literatur verschwunden sei. Es hat sich lediglich verändert – sowohl in seinem universellen Geltungsanspruch, den kaum mehr einer einzuklagen wagt, als auch in den politischen Zielen der jeweiligen literarischen Texte.
Abgesehen davon, daß sich mit dem Neoliberalismus ein neues Sujet bietet, an dem sich außer Subcomandante Marcos noch viele Literaten werden abarbeiten können, gibt es nach wie vor jede Menge AutorInnen, die in ihrer Literatur für konkrete politische Projekte Stellung beziehen. Diese heißen eben heute Feminismus, Umwelt oder Vergangenheitsbewältigung, um nur einige von ihnen zu nennen. Solange sich Leser von engagierten Texten durch deren inhaltliche und künstlerische Qualität überzeugen lassen, ist am literarischen Engagement nichts auszusetzen. Che-Biograph Paco Ignacio Taibo II meint, die Revolution in Lateinamerika bleibe absolut notwendig. Wenn die Literatur auch nicht zu ihrem Sieg beitragen muß, dürfen wird sie es ja wohl noch.

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