Und täglich grüßt das Gürteltier
Der brasilianische Film O deserto feliz thematisiert Tierschmuggel, Kinderprostitution und die Schwierigkeiten, in der Fremde zu leben
FilmemacherInnen versuchen mit allen Mitteln, nicht in die Grauzone zwischen Kurz- und Langfilm zu rutschen. Denn für die Verkaufszahlen ist diese Zone ein schwarzes Loch. Es gibt keinen Markt für Filme, die zu lang für das Kurzfilmformat sind, aber zu kurz für das Spielfilmformat. Filmverleihe wissen dies. Deshalb sind solche „Mittelfilme“ auch so gut wie nie im Kino zu sehen. Und so werden die Filme, wenn notwendig, etwas aufgebläht, um zumindest mehr als 70 Minuten Laufzeit zusammen zu bekommen. Das ist eigentlich schade, denn viele Filme würden mit Sicherheit gewinnen, wenn sie einfach 20 Minuten kürzer wären.
Der brasilianische Film O deserto feliz (Die glückliche Wüste) ist dafür ein gutes Beispiel. Aus ästhetisch nichtigen, aber verkaufstechnisch unerlässlichen Gründen bringt es Paulo Caldas Film auf ganze 85 Minuten. Einige Einstellungen sind unsagbar langatmig. Und die Kameraführung ist gut, aber nicht so überragend, dass es dies rechtfertigen würde.
Dabei ist die Thematik durchaus interessant. Zu Beginn des Filmes sieht man den familiären Hintergrund einer minderjährigen Prostituierten. Die halbwüchsige Jéssica wohnt in einem kleinen Kaff im Sertão, der Trockenregion im Nordosten Brasiliens. Sie lebt bei ihrer Mutter Maria und deren Partner Biu. Der arbeitet auf einer Weinplantage und verdient sich etwas dazu, indem er wilde Tiere fängt und an wohlhabende AusländerInnen verkauft. Der Film fängt damit an, dass er mit einem Freund durch die nächtliche Caatinga (Buschlandschaft) jagt und ein Gürteltier fängt.
Doch wenn Biu alleine zu Hause ist, und seine Partnerin in einem Geschäft in der Stadt arbeitet, missbraucht er Jéssica. Die hält diese Situation schließlich nicht mehr aus, und haut ab nach Recife, der Hauptstadt des Bundesstaates Pernambuco ab. Dort angekommen arbeitet sie als Prostituierte, und bedient verfettete Sextouristen aus Europa.
In der Darstellung des verzweifelten Überlebenskampfes der jungen Mädchen hat der Film seine stärksten Momente. Ihre Abstumpfung wird ebenso dargestellt wie ihre Sehnsüchte. Glück ist für sie, irgendwann einen schönen Gringo-Prinzen zu treffen, der sie aus der Misere befreit, und ins Ausland mit nimmt. Immer wieder singt Jéssica das kitschige Pagode-Lied, in dem es um die große Liebe geht, die einen erlöst.
Irgendwann erscheint dann Markus auf der Fläche. Er ist mit einem Freund zum Ficken und Koksen von Deutschland nach Recife geflogen. Und mit Jéssica und ihrer Freundin Pamela gehen sie diesen Beschäftigungen dann auch ausgiebig nach. Zwischendurch unterhalten sie sich auch mal auf Deutsch miteinander, ob Jéssica wohl noch minderjährig sein könnte. Doch so richtig wollen sie dies gar nicht wissen.
Nach einigen durchzechten Nächten heißt es für Markus, wieder nach Deutschland zurückzukehren. Und schließlich scheint sich Jéssicas Traum doch zu erfüllen. Der Märchenprinz nimmt Jéssica (Warum eigentlich? Der Film erklärt es nicht) mit in seine schikke Dachgeschosswohnung in der Prenzlauer Allee in Berlin.
Schnell fangen die Probleme an. Markus ist genervt, dass Jéssica nichts unternimmt. Und die findet keinen Anschluss in Berlin. Hier rutscht der Film ins Unerträgliche ab. Ohne jeden Dialog folgen aufeinander Spaziergänge am winterlichen Lietzensee, im Regierungsviertel und in irgendwelchen Berliner Parks. Jéssicas einzige Beschäftigung scheint es zu sein, im Streichelzoo Ziegen zu füttern. (Weil sie sie an den Sertão erinnern? Man erfährt es nicht.) Nicht dass dies für die Handlung eine Bedeutung hätte, aber dafür sieht man sie gleich zweimal dort Karotten in den Käfig schieben.
So nimmt Jéssicas Drama in Berlin seinen Lauf. Nach ein paar Monaten ist das brasilianische Mädchen eben nicht mehr interessant genug. Dabei agiert Peter Ketnath sehr glaubhaft als der egoistische Markus. Der deutsche Schauspieler spielt übrigens auch eine Hauptrolle in der ebenfalls brasilianischen Produktion Cinema, Urubus e Aspirina, die für die diesjährigen Oskars nominiert ist.
Es ist überraschend, dass Paulo Caldas Film so enttäuscht. Schließlich hat der Regisseur aus Paraiba 1996 bereits mit Baile Perfumado einen schönen Film über den Sertão gedreht.
Darin hatte er die reizvolle Geschichte des libanesischstämmigen Filmemacher Benjamin Abraão verfilmt. Diese historische Person besuchte und filmte Ende der dreißiger Jahre den berühmten Banditen Lampião im Hinterland. Im Jahr 2000 drehte Calda die Dokumentation O Rap do pequeno Principe, das Portrait zweier Jugendlicher aus den armen Vorstädten von Recife. Der eine ist als verurteilter Mörder im Gefängnis, der andere betätigt sich als Schlagzeuger in der interessanten Musikszene der Stadt. Der Film ist ein kleines Meisterwerk.
O deserto feliz dagegen hat zu viele Längen. Wenn man Jéssica über eine Minute dabei zusieht, wie sie eine Straße überquert, sinkt die Bereitschaft der ZuschauerInnen, sich dies weiter anzusehen, fast auf den Nullpunkt.
Dabei merkt man auch bei O deserto feliz, dass Paulo Calda sein Handwerk durchaus versteht. Wenn etwa Biu von der Motorhaube seines Treckers mit einem Fischauge-Objektiv gefilmt wird, und die Szene mit Mangue-Beat Musik aus Recife unterlegt wird, ist dies ästhetisch durchaus reizvoll. Und wenn Markus völlig fertig am frühen Morgen in Pernambuco noch ein paar Lines zieht und von der schlafenden Jéssica Geschlechtsverkehr verlangt, wird sein verdrogter Zustand filmisch sehr gut dargestellt.
Selbst ohne die überflüssigen Längen wäre es fraglich, ob der Film, funktionieren würde. Er ist einfach überladen. Die Tierschmuggelei von Biu, Kinderprostitution und die Schwierigkeiten von MigrantInnen in Berlin – es sind einfach zu viele Themen, die der Film anschneidet. Am Ende behandelt er keines befriedigend. Der Sinn des Fimtitels O deserto feliz, die glückliche Wüste, eröffnet sich nicht aus dem Film selbst. Man muss schon im Internet recherchieren, um herauszufinden, dass so die Stadt heißt, in der Jéssica aufwächst.
Irgendwie ergeht es dem Film wie dem Gürteltier, das am Anfang gefangen wird. Es wird nicht von Biu verkauft, sondern wächst bei der Familie heran, und ist dort oft im Bild zu sehen. Schließlich sind Gürteltiere recht possierlich und ergeben schöne Bilder, wenn sie richtig in Szene gesetzt werden. Paulo Caldas hat dies dann auch ausgiebig und gekonnt gemacht. Man erwartet, dass nun irgendetwas mit ihm passiert, dass es eine Funktion in der Handlung erhält. Doch Fehlanzeige: Irgendwann endet das Tierchen einfach auf dem Esstisch, ohne dass es irgendeine Bedeutung erlangt hätte. Genau wie der ganze Film war das Tier für Caldas nur Vehikel, um ein paar schöne Aufnahmen zu machen. Eine richtige Geschichte entwickelt sich leider nicht, weder zum Gürteltier noch sonst in dem Film.
Der Film ist auf der Berlinale vom 8. bis 18. Februar im Panorama Programm zu sehen.