Film | Nummer 464 - Februar 2013

Freundschaft durch Dick und Dünn

Im Film Twa Timoun („Drei Kinder“) versuchen drei Jungen sich nach dem Erdbeben 2010 in den Trümmern von Port-au-Prince ein neues Leben aufzubauen

Johanna Wollin

„35 Sekunden dauerte es, das ist, was alle sagen. […] 35 Sekunden, das ist sehr lang“, sagt Pierre schwermütig. Er, Vitaleme und Mickenson sind unzertrennlich und machen alles zusammen. Daran ändert auch das Erdbeben nichts. Die drei Freunde flüchten aus dem Internat und leben fortan auf der Straße. Durch Gaunereien und kleinere Diebstähle kommen sie über die Runden. Sie finden ein verlassenes Haus, oder eher das, was von einem Haus noch übrig ist, und erklären es zu ihrem Heim. Sogar eine neue Gottheit aus zusammengetragenem Schutt erschaffen sie sich. Solange die steht, kann ihnen nichts passieren. Obgleich die drei erst zwölf Jahre alt sind, haben sie längst schreckliche Erfahrungen machen müssen und so viele Erinnerungen angesammelt wie sonst nur Erwachsene. Mickenson verlor seine Schwester bereits vor dem Erdbeben. Pierres Mutter starb schon vor einigen Jahren, über den Verbleib des Vaters weiß er nichts zu sagen. Und man kann nur erahnen, was Vitaleme als Haussklave erleiden musste.
Im September 2010, also sieben Monate nach dem Erdbeben, reiste der junge belgische Regisseur Jonas d‘ Adesky nach Port-au-Prince, um einen Dokumentarfilm über eine Betreuungseinrichtung für Straßenkinder zu drehen. Hier lernte er die Darsteller seines künftigen Spielfilms kennen: Jules Vitaleme, Pierre Jean Mary und Sima Mickenson. Dadurch, dass die Kinder tatsächlich diesem Milieu entspringen, wirkt der Film unglaublich authentisch. Zudem baut d‘ Adesky Spannung auf, indem er den Handlungsablauf in mehrere Erzählstränge teilt und den Zuschauer_innen in Rückblenden das Leben auf der Straße zeigt, um im nächsten Moment in die Zukunft oder Gegenwart zu schalten. Erst im Laufe des Films fügen sich diese manchmal verwirrenden und unverständlichen Einzelteile zu einem Gesamtbild zusammen. Nur so wird das Publikum darüber aufgeklärt, wer die freundliche wohlwollende Frau ist, die Mickenson und Pierre interviewt und wie die beiden durch einen unglücklichen Unfall doch noch von Vitaleme getrennt werden. Der sucht seine Freunde in der ganzen Stadt. Einsam und verlassen wartet er auf sie, hütet ihre Schätze, unter anderem eine Zahnbürste, und kämpft gegen die Albträume seiner Vergangenheit.
D‘ Adesky verzichtet darauf, die kalte Brutalität des Elends zu zeigen. Die Geschichte der drei Freunde genügt fraglos, um dem_der Zuschauer_in die Lebensrealität eines traumatisierten Volkes nahezubringen. Eine Realität, die schon vor 2010 von Armut, Krankheit und Naturkatastrophen geprägt war und sich seitdem nur noch verschlimmert hat. Das Leben in einer Stadt, die in Schutt und Asche liegt, und ihren Einwohner_innen, die sich aus den trostlosen Trümmerhaufen irgendwie durch den Alltag deichseln, wird in bewegenden Bildern festgehalten. Gerade weil der Film aus der Sicht der Jungen gedreht wurde, wirkt er nicht düster oder deprimierend. Denn obwohl die drei Jungen Schreckliches erlebt haben, bewahren sie ihre Kindlichkeit in Glaube, Hoffnung und in Träumen:
„Wenn du in einem Flugzeug irgendwo hin könntest, wohin würdest du gehen?“ […]
– „Ich würde nach Deutschland gehen.“
„Warum?“
– „Weil ich es im Fernsehen gesehen hab. Es ist ein wunderschönes Land.“
Die fragmentierte Komposition spiegelt das Thema der verheerenden Folgen durch das Erdbeben wider. Zugleich bekräftigt die Hoffnung der Freunde, aus den Bruchstücken ihres zerrissenen Lebens etwas Neues zu bauen. Obwohl es teilweise schwer ist, sich die gesamte Vergangenheit der drei Jungen aus den zersplitterten Dialogen zu filtern, bezaubert Twa Timoun durch den Blickwinkel seiner ungekünstelten Protagonisten.

Twa Timoun („Drei Kinder“) // Jonas d‘ Adesky // 82 Minuten // Belgien 2012 // Sektion Generation// Kreolisch mt englischen Untertiteln


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