Migration | Nummer 251 - Mai 1995

“…Und tausend Abenteuer”

Auszüge aus Gesprächen mit Marianne Frenk-Westheim im August und September 1994

Interview: Barbara Beck

Im Niemandsland:
Die deutsche Exilkolonie in Mexiko
“Es gab hier eine deutsche Kolonie, wie eine Großfamilie, hauptsächlich reiche Händler. Als Hitler an die Macht kam, wurde der größte Teil von ihnen Nazis, mit Ausnahme von vielleicht zwanzig Personen – und das, wo sie doch nicht un­ter diesem schrecklichen Druck wie in Deutsch­land standen. Hier war es mehr eine Sache des Lu­xus. Aus diesem Grund hatten wir fast nur mit ei­ner deutschen Familie, die gegen die Nazis war, Kontakt, der Familie Bopp. Marianne Bopp hat das Institut für deutsche Literatur an der UNAM gegründet.
Als die ersten deutschen Flüchtlinge kamen, haben wir sie mit unbegrenztem Mitleid empfan­gen – mein Mann behandelte sie umsonst, und ich gab Spanischunterricht. Fast alle blieben in einem Niemandsland, in der Vergangenheit, einem Deutschland, das nicht mehr existierte. Sie inter­es­sierten sich kaum für Mexiko. Viele kamen aus Konzentrationslagern. Ich glaube, der Mensch kann nur ein gewisses Maß an Leid ertragen, da­nach erliegt er ihm.
Die politische und kulturelle Szene des deut­schen Exils in Mexiko war alles andere als ein Idyll. Es gab einen schrecklichen Kampf zwischen den Stalinisten und den Sozialdemokraten und So­zialisten. Wir selber waren verfemt, weil wir mit Otto und Alice Rühle befreundet waren, und es hieß schnell, die Frenks seien Trotzkisten. Das war absurd, denn wir waren überhaupt nicht poli­tisch aktiv. Die Feindseligkeiten waren so groß, daß wir mit einigen, zum Beispiel mit Egon Erwin Kisch, gar nicht mehr redeten. Er hatte mich ein­mal gefragt, warum ich nicht mitarbeite in der Zeitschrift Alemania libre, dort könnte ich mich selbst verwirklichen. Da habe ich einen solchen Lachanfall bekommen, daß er zutiefst gekränkt war. Er war ja persönlich ein sehr reizender Mensch, aber er war auch ein fanatischer Stalinist und Denunziant, der viele auf dem Gewissen hatte.
Nach dem Krieg sind die Parteipolitiker alle zu­rückgegangen, von den anderen sind einige in die Vereinigten Staaten gegangen, aber ich habe von Anfang an gesagt, diese Sache kommt wieder – da haben die Leute gesagt, du bist eine Kassandra, das wird nie wieder kommen. Heute sieht es in Deutschland ja geradezu entsetzlich aus. Ich habe mal gedacht, wenn man von hier wieder fliehen muß, nach Deutschland keinesfalls.

Kaputte Telefone:
Der mexikanische Alltag
“Ich rechne damit, daß nichts funktioniert: und dann, wenn es doch funktioniert, sage ich “que maravilla”. Was für eine herrliche Angelegenheit ist das, daß das kaputte Telefon nach zwei Tagen schon wieder geht. Und wenn man dafür bezahlen muß – natürlich ist das eine Unsitte und es ist un­moralisch, aber es ist nun mal so, und wenn ich es kann, tue ich es.
Aber zum Beispiel einen Polizisten zu beste­chen, würde ich noch immer nicht fertigbringen, obwohl ich vorher schon weiß, daß er die Hand so aufhält. Seien Sie also von vornherein darauf ge­faßt, daß die Dinge nicht funktionieren, und dann werden sie glücklich sein, wenn Sie mal einen Po­lizisten treffen, dem ihr Gesicht gefällt und der lä­chelt und sagt:”Schön, fahren sie weiter”.
Oder wenn ich zum Beispiel einen Anruf ma­chen muß, dann rechne ich damit, daß es minde­stens eine halbe Stunde dauert, wenn ich Glück habe. Gibt es mal das große Glück, daß er oder sie zu Hause oder in dem Amt ist, wo er oder sie sein müßte, dann fängt es so an: also das Telefon ist fünfmal besetzt, das sechste Mal verbindet es nicht, das siebte Mal macht es nur “öh”, wenn es “öh” macht, dann weiß ich, da ist Hoffnung, da kann man insistieren; das nächste Mal machte es schon “ööööh” und so geht es weiter und tatsäch­lich klingelt es schließlich und dann kommt das Mädchen und sagt: “la senora acaba de salir”- “die Senora ist gerade aus dem Haus gegangen”. Sowas muß man riskieren hier.

Charismatischer Kämpfer: Subcomandante Marcos
“Er ist offensichtlich ein sehr gebildeter Mensch, nicht nur mit aufgeschnappten Bil­dungsbrocken. Und natürlich wäre es interes­sant zu wissen, wie jemand dazu kommt, zehn Jahre in der Selva zu leben, in einer völlig anderen Welt, in einer Traumwelt. Im Laufe dieser Monate hat mich das nicht nur ein bißchen, sondern glü­hend interessiert. Ich bin zu fast nichts anderem mehr gekommen, als die Zeitungen zu lesen und die no­ticieros zu hören. Das war dauernd in mei­nem Be­wußtsein, während scheinbar große Teile der Be­völkerung vergessen, daß in diesem Mo­ment ein Teil von Mexiko im Krieg lebt und sie weiter auf dem Vulkan tanzen.
Ich weiß, daß es im ganzen Land bewaffnete Gruppen gibt. Wahrscheinlich sind sie nicht so gut bewaffnet wie die Zapatistas, wahrscheinlich auch nicht so gut organisiert, und vielleicht gibt es nicht überall einen Mann mit soviel Charisma wie Mar­cos. Aber es ist zu befürchten, daß Menschen, de­nen es wirklich elend gegangen ist, einfach nicht mehr können. Und was eine Revolution be­deutet, das wissen wir ja- wenn es eine Revolu­tion gibt, dann wird sie uns alle verschlingen.

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