Verraten und verkauft
Seit Monaten warten 30.000 kubanische Flüchtlinge auf eine Einreiseerlaubnis in die USA
Am 6. November versuchten etwa 100 der in Guantánamo internierten KubanerInnen die Flucht Richtung Heimat. Sie überwanden den doppelten Stacheldrahtverhau, von dem alle Camps umgeben sind, und sprangen von den nahen Klippen ins Meer. 39 gelang es, schwimmend kubanisches Hoheitsgebiet zu erreichen, die anderen wurden von den Wachposten wieder eingefangen. Ob sie anschließend abgestraft, in die berüchtigten “Gefängnisse im Gefängnis” gesteckt wurden, ist nicht bekannt. Bereits eine Woche zuvor waren 21 KubanerInnen aus der “Howard Base” in der Panamakanalzone entwichen, wo in vier Lagern ebenfalls Tausende Flüchtlinge interniert sind.
Nimmt man die wiederholten Hungerstreiks von “Balseros” hinzu, ergibt sich ein Bild, das die Nachrichtenagenturen mit “wachsende Unzufriedenheit mit der Lage in den Camps” beschreiben. Die Diagnose stimmt – und doch ist die Situation weit verwickelter. Schon die beiden äußerlich so ähnlichen Fluchtversuche lassen sich keineswegs miteinander vergleichen. Aber gehen wir etappenweise vor.
Handschellen für HaitianerInnen?
Verweilen wir zunächst noch bei den “längstgedienten” Lagerinsassen in Guantánamo: den haitianischen Boat People, von deren Schicksal die internationale Öffentlichkeit spätestens nach der Ankunft der kubanischen Flüchtlinge kaum noch Notiz nahm. Ihre Zahl, die zeitweilig über 20.000 lag und in der Woche vor der Rückkehr von Präsident Aristide nach Port-au-Prince noch 11.700 betrug, ist mittlerweile auf unter 6.000 gesunken. State Department und Lagerbehörden erklären übereinstimmend, die Rückführung der HaitianerInnen in die Heimat erfolge ausschließlich freiwillig.
Im scharfen Gegensatz dazu stehen Aussagen von Flüchtlingen selbst, denen zufolge die US-Militärs gedroht haben sollen, jedem Handschellen anzulegen, der nicht von sich aus an Bord der Rückkehrer-Schiffe gehen wollte. Auch wenn ich diese Berichte bei einem Besuch vor Ort nicht überprüfen konnte: Für mich besteht kein Zweifel daran, daß zumindest ein Teil der haitianischen Boat People lieber noch eine Zeitlang in Guantánamo bleiben würde, als sofort in die Heimat zurückzukehren, wo auf sie eine ungewisse Zukunft wartet.
Gleichbehandlung angestrebt
Von haitianischen Exilgruppen war in den letzten Monaten wiederholt der Verdacht geäußert worden, die Flüchtlinge aus Haiti müßten unter schlechteren materiellen Bedingungen leben als die KubanerInnen. Dafür konnte ich keinen Beleg finden, im Gegenteil: Die Zelte der HaitianerInnen stehen “privilegiert” auf dem Beton des McCalla-Flugfeldes, die der KubanerInnen auf (nicht weniger ödem) planiertem Boden, der von Steinen übersät ist. Dort schwebt aber ständig eine riesige rötliche Staubwolke über den Lagern, die die ohnehin prekären hygienischen Bedingungen zusätzlich verschlimmert und zu zahlreichen Erkrankungen der oberen Atemwege geführt hat, wie Ärzte unter den “Balseros” berichten.
Zumindest die oberen Chargen in der Militärhierarchie der Basis achten meinen Beobachtungen nach streng auf die Gleichbehandlung von HaitianerInnenn und KubanerInnenn. So ist die Verpflegung für beide Flüchtlingsgruppen gleich gut bzw. gleich schlecht (zumeist Fertignahrung aus Armeebeständen oder “Humanitärer Hilfe”, zumindest für die mehreren hundert Kleinkinder ungenießbar). Eintreffende Spenden werden proportional aufgeteilt. Davon profitieren wiederum eher die HaitianerInnen, da die (vermögende) kubanische Exilgemeinde in den USA größere Mittel für ihre internierten Landsleute aufbringen kann als die (ungleich ärmere) haitianische.
Und damit zu den KubanerInnenn in Guantánamo. (Da ich mich strikt auf das beschränken will, was ich selbst gesehen bzw. gehört habe, lasse ich Panama beiseite. Ich gehe allerdings davon aus, daß dort prinzipiell die gleichen Probleme herrschen dürften.)
Heimkehrwillige diskriminiert
Zunächst ist eine strikte Unterscheidung nötig zwischen dem Camp “November 2” einerseits und den übrigen 19 Lagern andererseits. In “November 2” waren Mitte Oktober 647 Flüchtlinge untergebracht, (647 von 26.471, um die Größenordnungen im Auge zu behalten) und zwar Männer, die explizit den Wunsch geäußert hatten, zu ihren Familien nach Kuba zurückzukehren. Ihre Diskriminierung durch die Behörden der Basis war nicht zu übersehen. Nur um ihr Lager marschierten die Wachposten mit der MPi auf dem Rücken (überall sonst praktisch unbewaffnet) und nur hier waren bis zum Zeitpunkt meines Besuchs weder feste Waschplätze noch Duschen noch Telefonapparate für R-Gespräche in die USA installiert worden.
Die Verantwortung dafür, daß den Insassen von “November 2” die Heimkehr verwehrt wird, liegt eindeutig nicht auf Seiten der kubanischen Regierung. Sie hat allen Flüchtlingen die Rückkehr in die Heimat und sogar ihren alten Arbeitsplatz angeboten. Mag man an letzterem auch seine Zweifel hegen: Schon allein der Sinn der Führung in Havanna für propagandistische Effekte scheint Bürgschaft genug, um jede Gefahr der Heimkehrer für Leib und Leben auszuschließen.
Die Chancen der Bewohner von “November 2” auf baldige Heimkehr erhielten jedoch mit einem Gerichtsurteil vom 31. Oktober einen Dämpfer. Bundesrichter Clyde Atkins aus Miami stellte sich hinter den Antrag einer Gruppe von Anwälten um Xavier Suarez, Ex-Oberbürgermeister von Miami, um jede Rückführung von “Balseros” nach Kuba zu verbieten. Begründung: Es könne nicht ausgeschlossen werden, daß die Flüchtlinge zu diesem Schritt genötigt würden, was den Menschenrechten widerspräche. (Verschiedene Indizien weisen darauf hin, daß der eingangs geschilderte Fluchtversuch von “November 2” ausging und eine Reaktion auf genau dieses Urteil darstellte.)
Schatten des Gipfels
Das Rückführungsverbot wurde wenig später wieder aufgehoben, ohne daß den Insassen von “November 2” eine Frist für die – wie ich bezeugen kann: von ihnen aus freien Stücken angestrebte – Heimkehr gesetzt wurde. Der Grund dafür, daß Washington sich querstellt, dürfte im bevorstehenden “Amerika-Gipfel” zu suchen sein, zu dem Kuba als einziges Land des Kontinents nicht eingeladen wurde. Vielmehr soll die Insel dort wegen ihrer Menschenrechtspolitik an den Pranger gestellt werden. Herausragendes Beweisstück der Anklage: die Massenflucht vom August/September. Was könnte da den USA ungelegener kommen als die Zeugenaussagen ehemaliger Bootsflüchtlinge, die sich über ihre Erlebnisse unter dem Sternenbanner beschweren und gar die Rückkehr ins “Gefängnis Kuba” den spärlichen Segnungen der “freien Welt” in Guantánamo vorziehen?
Völlig anders als in “November 2” ist die Stimmung in den übrigen Camps. Dort ist die Bereitschaft, nach Kuba zurückzukehren, gleich Null. Die Euphorische Hoffnung, vielleicht schon morgen zu den Verwandten nach Miami zu gelangen, wechselt mit tiefer Verzweiflung über die als Haft empfundene Internierung in diesem (Originalton) “Konzentrationslager”. Die “Balseros” weigern sich zu begreifen, daß sie plötzlich in den USA nicht mehr willkommen sein sollen, nachdem doch jahrzehntelang jeder Castro-Gegner mit offenen Armen aufgenommen wurde.
Kaum jemand ist bereit oder fähig, sich in die Logik der US-amerikanischen Migrationspolitik hineinzudenken. Die Flüchtlinge fühlen sich verraten und verkauft. Sie wollen nicht wahrhaben, daß sie nicht nur von der kubanischen Regierung, sondern selbstverständlich auch von den USA als Schachfiguren in einem größer angelegten Spiel mißbraucht werden.
Nur Einreise wäre eine Lösung
Clintons Angebot, die Flüchtlinge sollten von Havanna aus einen Antrag auf ein Einreisevisum für die USA stellen, stößt hier auf taube Ohren. Schon die Verlegung nach Panama, wo die Lebensbedingungen dem Vernehmen nach besser sein sollen als in Guantánamo, lehnen die meisten strikt ab. Nur die Einreise in die USA wird von den “Balseros” als Lösung akzeptiert. Auch ihre einhellige, durch wiederholte Hungerstreiks untermauerte Forderung, als politische und nicht etwa als Wirtschaftsflüchtlinge anerkannt zu werden, zielt in diese Richtung.
Überraschende Hilfe hat diese (gegenüber den Bewohnern von “November 2” unvergleichlich größere) Gruppe von Balseros vom bereits genannten Richter Atkins erhalten. Er stellte im erwähnten Urteil die Behauptung auf, Guantánamo sei souveränes Gebiet der USA, auf dem US-amerikanische Gesetze gälten. Nun ist diese These zwar völkerrechtlich unhaltbar und widerspricht auch Artikel 3 des von den USA erzwungenen “Pachtvertrages” für Guantánamo aus dem Jahre 1903. Doch ehe ein Gericht in nächster Instanz genau dies feststellt, hat sich auch Washington an das Urteil zu halten. Daraus aber ergeben sich unabsehbare Konsequenzen.
Wäre die Flottenbasis tatsächlich US-Gebiet, träten sofort verschiedene Gesetze zum Schutz der Persönlichkeitsrechte der Flüchtlinge in Kraft. Um beim primitivsten zu beginnen: Sie hätten dann Anspruch auf anwaltliche Betreuung, wodurch sie endlich stabilen Kontakt zur einflußreichen kubanischen Exilgemeinde und deren Organisationen erhielten und weit effektiver als “pressure group” eingesetzt werden könnten. Zweitens dürften sie nur eine begrenzte Zeit festgehalten werden und müßten danach freigelassen werden – in die USA, versteht sich.
Doch Anspruch auf Asyl?
Drittens könnten die “Balseros” politisches Asyl beantragen, wenn sie mit Guantánamo bereits US-Territorium erreicht hätten. Damit ließe sich ihre Einreise nur noch minimal verzögern, aber nicht mehr aufhalten. Und viertens träte der “Cuban Adjustment Act” von 1967 in Kraft. Dieses Gesetz aus dem Kalten Krieg stuft alle KubanerInnen, welche die USA erreichen, automatisch als politische Flüchtlinge ein und verschafft ihnen innerhalb kürzester Zeit Aufenthalts- und Arbeitsgenehmigungen, ja sogar die Staatsbürgerschaft.
Daß Atkins’ Entscheidung auch den rechtlichen Status der haitianischen Flüchtlinge grundlegend verbessern würde, sei hier nur am Rande bemerkt. Schon was die KubanerInnen betrifft, stellt jede der genannten Optionen für Washington ein Horrorszenarium dar. Die Regierung will aus innenpolitischen Zwängen heraus unbedingt vermeiden, der generalisierten Angst vor einer unkontrollierten Einwanderung neue Nahrung zu geben. (Das Anti-Einwanderungs-Referendum in Kalifornien am 6. November zeigt, welche Sprengkraft in dieser Frage steckt.) Und außenpolitisch hat sie kein Interesse daran, abermals Zehntausende unzufriedene KubanerInnen zur selbstmörderischen Flucht gen Norden zu ermutigen – Regimegegner, die sie viel lieber als politische Manövriermasse gegen Fidel Castro auf der Insel selbst einsetzen würde.
Wie also wird die US-Regierung auf die Herausforderung durch Richter Atkins regieren? Und viel dringlicher als dieser “sportliche” Wettstreit: Wann wird das menschliche Leiden der Internierten ein Ende haben? Das Schicksal der von (fast) allen Seiten (fast) beliebig zu instrumentalisierenden “Balseros” in Guantánamo ist eine Zeitbombe, die größere Aufmerksamkeit verdient – gerade im Vorfeld des Dezember-Gipfels in Miami.