Nummer 228 - Juni 1993 | Ökonomie

Versteckte Erfolge gescheiterter Wirtschaftspolitik

In nahezu allen Staaten Lateinamerikas hat der Neoliberalismus triumphiert. Nicht nur die immensen sozialen und ökologischen Kosten der orthodoxen Schockprogramme nähren ernste Zweifel an der allein selig machenden Macht des Kapitalismus. Immer mehr KritikerInnen beziehen sich auf die wirtschaftlichen und politischen Risiken, die sich hinter den oberflächlich konsolidierten gesamtwirtschaftlichen Daten verschanzen, die lateinamerikanische TechnokratInnen nicht müde werden zu präsentieren. Im folgenden Beitrag, den wir in gekürzter Form der Februarausgabe des US-amerikanischen Monatsmagazins NACLA entnommen haben, stellt David Ruccio eine neue “alte” Perspektive zur Diskussion. Ruccio, der Mitherausgeber der Zeitschrift “Rethinking Marxism” ist und an der Universität von Notre Dame Wirtschaft lehrt, vertritt die marxistisch begründete These, daß die bislang in Lateinamerika gängigen Entwicklungsstrategien bei allen Fehlern einen “Erfolg” für sich beanspruchen können: Im Rahmen der Klassenauseinandersetzungen hat sich das Gewicht zugunsten der KapitaleignerInnen verlagert.

David Ruccio, Übersetzung: Joachim Göske

Lateinamerika ist der Schauplatz gescheiterter Wirtschaftspolitiken – so scheint es zumindest. Von staatlich kontrollierten Entwicklungsprogrammen über autoritäre Marktstrategien bis hin zu heterodoxen Ansätzen zur Bekämpfung von Hyperinflation bei gleichzeitigem Verzicht auf neoliberale Privatisierungsprogramme ist jede Form der Wirtschaftspolitik innerhalb der letzten zwanzig Jahre einmal ausprobiert und für gescheitert erklärt worden.
Alle Mißerfolge haben bisher nicht dazu geführt, die gängigen Wirtschaftspolitiken oder die ihnen zugrunde liegenden Theorien zu verwerfen. Stattdessen bewegt sich die aktuelle Debatte um Stabilisierung und Anpassung noch immer im engen Rahmen traditioneller, neoliberaler und strukturalistischer Ansätze. Dabei leiden die lateinamerikanischen Volkswirtschaften unvermindert an Massenarbeitslosigkeit, Inflation und Zahlungsbilanzschwierigkeiten.
Woher kommt dieses ungebrochene Vertrauen zu gescheiterten Theorien und Strategien in Lateinamerika? Für gewöhnlich wird das mit dem Hinweis erklärt, diese Theorien und Strategien seien andernorts erfolgreich gewesen, und in Lateinamerika sei nur die richtige Umsetzung versäumt worden. Eine andere mögliche Erklärung besteht darin, daß ein nach Kriterien wie Arbeitslosigkeit, Inflation und Zahlungsbilanzungleichgewichten gemessener Mißerfolg gleichwohl als Erfolg gewertet werden kann, sofern einmal aus einer anderen Perspektiven geschaut wird. Obwohl neoklassische und strukturalistische Ansätze nicht zu makroökonomischen Gleichgewichten führten, haben sie doch auf ihre Art gesteigerte Ausbeutung sowie die Stärkung der dafür notwendigen wirtschaftlichen und sozialen Voraussetzungen mit sich gebracht. Die klassischen Ansätze waren also genau in jener Dimension erfolgreich, die bislang keine Beachtung in der Standard-Debatte fand: dem Verhältnis der Klassen.

Die Herausforderung für die Linke

Die von der augenblicklichen theoretischen und politischen Debatte vorgegebenen Maßstäbe zu akzeptieren, wäre gleichbedeutend damit, die Kriterien von Erfolg und Scheitern gleich mit zu übernehmen. Die Herausforderung, der sich die Linke gegenübersieht, besteht darin, über die traditionelle Kritik an marktfixierter neoliberaler Politik hinauszugehen, sich deutlich vom strukturalistischen Pol der Debatte abzusetzen, um die Beschränkungen beider Seiten zu offenbaren. Den Gesichtspunkt der Auseinandersetzung zwischen Klassen in den Vordergrund zu rücken, stellt eine Möglichkeit dar, die Begrenztheit der augenblicklich stattfindenden Diskussion zu überwinden.
Die Mehrheit der mainstream-ÖkonomInnen denkt, makroökonomische Stabilisierungs- und Anpassungspolitik habe nichts mit der Klassenfrage zu tun. Sie übersehen dabei die Wechselwirkung zwischen Formen kapitalistischer (und anderer) Ausbeutung auf der einen Seite sowie Stabilisierung und Anpassung auf der anderen Seite. Stattdessen gehen sie davon aus, daß die Probleme von Stabilisierungs- und Anpassungspolitiken “naturgegeben” seien, weil es innerhalb der Wirtschaft einen steuernden Mechanismus gebe, der nicht mit der Auseinandersetzung zwischen Klassen in Verbindung gebracht werden könne. Auch über die Maßstäbe für erfolgreiche Wirtschaftspolitik besteht Einigkeit: Vollbeschäftigung, Preisstabilität und eine ausgeglichene Zahlungsbilanz.
Worin sich neoklassische und strukturalistische ÖkonomInnen unterscheiden – und was die größte öffentliche Aufmerksamkeit erfährt -, sind die angebotenen Rezepte für wirtschaftlichen Erfolg und selbstverständlich die Begründungen für fehlgeschlagene Strategien. Die Neoklassik wird meist mit den Vorstellungen des Internationalen Währungsfonds (IWF) und anderen kreditgebenden Institutionen in Verbindung gebracht: strikte Geldpolitik, Abbau staatlicher Defizite, Liberalisierung des Binnen- und Außenhandels sowie des Kapitalmarkts. Der Strukturalismus kritisiert diese orthodoxen Politikempfehlungen und setzt sich im Gegenzug für eine heterodoxe Politik ein, die Lohn- und Preiskontrollen ebenso einschließt wie andere Interventionen des Staates in das Marktgeschehen.
Dieser Gegensatz läßt sich größtenteils aus den unterschiedlichen theoretischen Ansätzen herleiten. In der neoklassischen Theorie ist es das menschliche Individuum, das in letzter Konsequenz wirtschaftliche Prozesse steuert. Stabilisierung und Anpassung werden als die natürliche Folge einer Politik angesehen, die es den Individuen gestattet, rationale Entscheidungen auf freien Märkten durchzusetzen. Der Staat braucht nur einzugreifen, um Marktverzerrungen zu beseitigen, die die Wahlfreiheit der MarktteilnehmerInnen einschränken.

Heilt der Markt sich selbst?

Nach neoklassischen Vorstellungen kann es zu zeitweisen Ungleichgewichten kommen, wenn ein unerwartetes Ereignis wie das plötzliche Steigen der Ölpreise eintritt, ohne daß die Individuen genug Zeit hatten, sich den neuen Gegebenheiten anzupassen. Das Ungleichgewicht kann fortbestehen, wenn Marktverzerrungen wie starre Löhne oder staatliche Kontrollen der Devisenmärkte die MarktteilnehmerInnen davon abhalten, die notwendigen Anpassungsmaßnahmen zu ergreifen. Sobald diese Hindernisse jedoch überwunden und den Individuen gestattet wird, ungehindert ihre Entscheidungen auf freien Märkten zu treffen, wird die Wirtschaft wieder einen Gleichgewichtszustand erreichen. Nach der neoklassischen Lehre stehen PolitikerInnen vor der Alternative, entweder nichts zu tun und auf die individuelle Entscheidungskompetenz der MarktteilnehmerInnen zu vertrauen, oder aber im Falle von Marktverzerrungen beziehungsweise staatlichem Mißmanagement Marktbeschränkungen aufzuheben und den Staat auf seine eigentliche Funktion zu verweisen: die Sicherung freier Märkte und privaten Eigentums.
StrukturalistInnen haben immer wieder die neoklassische Sichtweise eines möglichst passiven Staates kritisiert. Sie argumentieren, daß Märkte nicht aus eigener Kraft zu Gleichgewichtszuständen zurückfinden, sondern staatlicher Leitung bedürfen. Auch die Annahme, Makroökonomie ließe sich durch individuelles Verhalten erklären, wird zurückgewiesen. Die Probleme um Stabilisierung und Anpassung ergeben sich vielmehr aus Machtbeziehungen und anderen wirtschaftlich-sozialen Verhältnissen. Preise etwa seien nicht durch das freie Wechselspiel von Angebot und Nachfrage bestimmt, sondern würden in gewissen Grenzen von mächtigen Großunternehmen vorgegeben. Der Strukturalismus geht weiterhin von Voraussetzungen aus, die von der Neoklassik geleugnet werden: begrenzte Kapitalmärkte, Unsicherheit wichtiger MarktteilnehmerInnen, geringe Risikoinvestitionen, Engpässe bei der Produktion von Nahrungsmitteln. Nicht Einzelentscheidungen spielen die zentrale Rolle; es sind eben diese unausweichlichen Defizite von Märkten, die die wirtschaftliche Entwicklung bestimmen. Darum sprechen sich StrukturalistInnen auch im Gegensatz zu NeoklassikerInnen für gesteigerte Marktkontrollen aus. Die Regulierung von Löhnen und Preisen, Industriepolitik, staatlich kontrollierter Devisenhandel und eine aktive Ausgabenpolitik des Staates bilden die Bestandteile strukturalistischer heterodoxer Politik.

Existenz von Klassen und Ausbeutungsverhältnissen

Das grundlegende Problem innerhalb dieser Debatte besteht darin, daß das Verhältnis zwischen den unterschiedlichen Klassen einer Gesellschaft ausgeblendet wird. Sowohl die Neoklassik als auch der Strukturalismus richten ihre Aufmerksamkeit auf nahezu “naturgegebene” Gesetzmäßigkeiten des Marktgeschehens, die weder etwas mit der Existenz von Klassen noch mit Ausbeutungsverhältnissen zu tun haben. Es ist die Aufgabe von MarxistInnen und anderen Linken, den Zusammenhang zwischen Anpassungspolitik und Klassenauseinandersetzung aufzuzeigen. In der marxistischen Theorie wird davon ausgegangen, daß die Aneignung der Mehrarbeit der direkten ProduzentInnen, also der ArbeiterInnen, in der kapitalistischen Form des Mehrwerts oder in anderen nichtkapitalistischen Formen erfolgt. Erst einmal angeeignet, wird die Mehrarbeit an Handelshäuser, Banken oder den Staat verteilt – in und außerhalb Lateinamerikas.
Sollte “Klasse” als Begriff in der herkömmlichen Betrachtungsweise – etwa im Strukturalismus – doch einmal eine Rolle spielen, werden darunter dann nur Gruppen von MarktteilnehmerInnen verstanden, die Einkommensströme für sich in Anspruch nehmen und unterschiedliche Konsum-, Spar- und Investitionsneigungen haben. In diesem Sinn beziehen sich StrukturalistInnen anders als ihre neoklassischen KontrahentInnen häufig auf Machtverhältnisse und Gesellschaftsstrukturen, übersehen aber dennoch die Existenz von Ausbeutungsverhältnissen samt ihrer wichtigen sozialen Effekte.

Argentinien, Brasilien, Peru: Versuchsfelder für mainstream-ÖkonomInnen

Die Auswirkungen der neoklassisch-strukturalistischen Debatte lassen sich anhand der jüngsten Entwicklungen in Argentinien, Brasilien und Peru aufzeigen. Diese Länder haben in den vergangenen 20 Jahren als eine Art Versuchsfelder für WissenschaftlerInnen beider Richtungen gedient. Orthodoxe und heterodoxe ebenso wie kombinierte Politiken sind angewendet worden, um gesamtwirtschaftliche Ungleichgewichte zu korrigieren, die auf hausgemachte Fehler und weltwirtschaftliche Turbulenzen zurückgeführt wurden. In allen drei Beispielen wurden die Strategien von NeoklassikerInnen und StrukturalistInnen in die Tat umgesetzt und letztendlich als gescheitert erklärt. Die Reihenfolge der angewandten Strategien variierte von Land zu Land. Argentinien startete Mitte der siebziger Jahre mit einem überaus orthodoxen Programm. Unter der Herrschaft der diversen Militärregierungen schloß es sich dem Trend in Chile und Uruguay an und galt als eines der Beispiele für die Auswirkungen neokonservativer Wirtschaftspolitik in Lateinamerika. Unter der zivilen Regierung Alfonsín wurde in Argentinien anschließend eine Mischform praktiziert, ehe mit dem heterodoxen plan austral eine Strategie gewählt wurde, die eindeutig der strukturalistischen Position zuzuordnen war. Auf der anderen Seite wurde in Brasilien mit einem Mittelweg begonnen, der erst später in ein orthodoxes Programm mündete. Nachdem das Scheitern beider Wege offenbar geworden war, experimentierte die brasilianische Regierung unter Sarney zwischen den Jahren 1986 und 1987 mit dem heterodoxen Cruzado-Plan. Die folgenden Wahlen brachten die “modernistische” Collor-Regierung an die Macht, die jene orthodoxe Wirtschaftspolitik verfolgte, für die sich die Neoklassik einsetzt. Ebenso wie Argentinien begann Peru Mitte der siebziger Jahre mit orthodoxer Wirtschaftspolitik unter der Kontrolle des Militärs. Der Übergang zu einer zivilen Regierungsform fand hingegen unter Beibehaltung neoklassisch inspirierter Wirtschaftspolitik statt. Erst als der Populist Alan García 1985 gewählt wurde, war mit dem heterodoxen Inti-Plan ein Wandel zu beobachten. Auch dieses Programm versagte jedoch, so daß sich seit 1990 wieder marktorthodoxe Rezepte durchgesetzt haben.

Erfolge der StrukturalistInnen nur von kurzer Dauer

Der Ausgangspunkt aller drei heterodoxen Strategien – Austral, Cruzado und Inti – bestand in der Auffassung, daß die früheren Stabilisierungs- und Anpassungsprogramme an den strukturellen Problemen lateinamerikanischer Volkswirtschaften vorbeigegangen seien. Staatliche Kontrollen wurden als notwendig angesehen, um zur Wiederherstellung eines gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts zu gelangen. Diese strukturalistischen Strategien, die nach den neueingeführten Währungen in den jeweiligen Staaten benannt wurden, wiesen verschiedene Gemeinsamkeiten auf, die einer neoklassischen Liberalisierungspolitik von Grund auf widersprachen: Renten und Spareinlagen wurden nicht länger an die Inflation angepaßt, Löhne und Preise staatlicher Kontrolle unterworfen und gezielt Subventionen und Kredite vergeben. In allen drei Fällen traten sehr schnell dramatische Veränderungen ein: Produktion und Beschäftigung stiegen, die Inflation wurde eingedämmt, und die externe Zahlungssituation verbesserte sich. Diese Erfolge heterodoxer Politik waren jedoch nicht mehr als ein Strohfeuer. Obwohl in allen drei Staaten immer neue Pläne und Programme aufgelegt wurden, kehrten Rezession und Hyperinflation zurück, mußten Schuldenzahlungen an ausländische GläubigerInnen eingestellt werden. Die heterodoxe Wirtschaftspolitik wurde überall als die Ursache für die Krise angesehen. Mit der Wahl neuer Regierungen – Menem in Argentinien, Collor in Brasilien und Fujimori in Peru – schlug das Pendel nun wieder zugunsten orthodoxer neoliberaler Politik aus.

Kritik nach der neoliberalen Wende

Heute sieht sich die Freihandelspolitik wieder wachsender Kritik gegenüber. Selbst in Argentinien, das von NeoklassikerInnen so hoch gelobt wird, kann über das Versagen des Austeritätsprogramms unter Wirtschaftsminister Domingo Cavallo nicht hinweggesehen werden: Das Außenhandelsdefizit wächst, und als Konsequenz aus den Massenentlassungen von Staatsbediensteten und steigender Erwerbslosigkeit sinken die Reallöhne. Um das Haushaltsdefizit des Staates unter Kontrolle zu bekommen, sind auch die Altersrenten dramatisch gesunken. Früher oder später wird in Argentinien, Brasilien, Peru und in ganz Lateinamerika die neoklassische Orthodoxie wieder an Boden verlieren.
Selbstverständlich unterscheiden sich Neoklassik und Strukturalismus in der Bewertung der Ursachen für diese Fehlentwicklungen. NeoklassikerInnen machen vor allem fortgesetzte staatliche Interventionen für das Scheitern ihrer Strategie verantwortlich – noch immer wird den Regierungen vorgeworfen, sie würden protektionistische Maßnahmen und andere irrationale Marktkontrollen aufrechterhalten. StrukturalistInnen verteidigen sich mit dem Hinweis, ihre Programme seien mit orthodoxen Maßnahmen gekoppelt worden, so daß sich die Turbulenzen übertrieben freier Märkte ausgewirkt hätten.
Wenn wir jedoch die Klassenfrage in die Diskussion um Stabilisierung und Anpassung integrieren, wird deutlich, wie irreführend die Erklärungsansätze beider Richtungen sind. Ein Anstieg der Erwerbslosigkeit wird für gewöhnlich als Versagen orthodoxer Stabilisierungs- und Anpassungspolitik angesehen. Versuche, den Kräften des “freien” Marktes zum Durchbruch zu verhelfen, indem die Staatsausgaben eingedämmt, Realzinsen zur Anregung der Spartätigkeit erhöht sowie Außenhandelszölle gesenkt werden, führen häufig zu Erwerbslosigkeit und unterbeschäftigten LohnempfängerInnen. Steigende Erwerbslosigkeit ist im allgemeinen mit sinkenden Reallöhnen verbunden – eine Tendenz, die wiederum die Klassendimension von Kapitalismus deutlicher werden läßt. Zum einen sind die ArbeitgeberInnen nun in der Lage, Arbeitskräfte zu einem Lohn anzustellen, der unterhalb der durchschnittlichen Lebenshaltungskosten der ArbeiterInnen liegt. Mit den Worten marxistischer Wert-Theorie ausgedrückt, ist der Marktpreis für Arbeit unter ihren Wert gefallen. So erhalten die KapitalistInnen ein Einkommen, das über den der Arbeit entzogenen Mehrwert hinausgeht. Dieser Vorteil steigert die Profitrate des Kapitals – ein unmittelbarer Klassenerfolg als Konsequenz aus dem Sinken der Reallöhne.
Sollte diese Situation über einen gewissen Zeitraum Bestand haben, dann wird das durchschnittliche Lebensniveau der LohnempfängerInnen voraussichtlich sinken. Mit anderen Worten wird der Wert der Arbeitskraft auf ihren niedrigeren Marktpreis fallen. Die Summe des Mehrwerts innerhalb kapitalistisch wirtschaftender Unternehmen und damit der Grad an Ausbeutung werden steigen – beides ein Beleg für kapitalistischen Erfolg.

Staatsausgaben zum Vorteil des Kapitals

Ein zweiter grundlegender Mangel, der insbesondere heterodoxen Programmen vorgehalten wird, besteht in wachsenden Haushaltsdefiziten des Staates. Wiederum führt die Klassenanalyse staatlicher Defizite zu ganz anderen Erkenntnissen. Es ist sehr hilfreich, die beiden unterschiedlichen Dimensionen typischer Staatsaktivitäten zu unterscheiden, die für gewöhnlich mit Haushaltsdefiziten in Verbindung gebracht werden: staatseigene Betriebe und laufende Staatsausgaben. Aus der Perspektive von Klassengegensätzen heraus sind öffentliche Betriebe, die über Märkte gehandelte Waren in klassischen Unternehmer-Arbeiter-Beziehungen produzieren, kapitalistische Unternehmen. Die Einkünfte dieser Betriebe auf einem bestimmten Niveau zu halten oder aber auszudehnen, heißt nichts anderes, als immer größere Teile der Bevölkerung in kapitalistisch bestimmte soziale Verhältnisse zu drängen und den Mehrwert aus der Beschäftigung von StaatsarbeiterInnen zu erhöhen. Die kapitalistische Tendenz der Mehrwertaneignung findet demnach also auch innerhalb des Staates statt.
Staatsausgaben können zudem dazu beitragen, den Kapitalismus auch außerhalb des Staatsapparates zu stärken. Mit Hilfe steigender Ausgaben für Programme in verschiedenen Bereichen können viele der wirtschaftlichen, kulturellen und politischen Voraussetzungen hergestellt werden, die es privaten KapitaleignerInnen ermöglichen, die Mehrwertaneignung fortzusetzen. Lateinamerikanische Staaten haben häufig direkt zugunsten kapitalistischer Interessen in- und außerhalb des Staatsapparates gehandelt. Die Klassenerfolge während der Nachkriegsperiode sind eine Erklärung dafür, warum die EntwicklungsökonomInnen und PolitikerInnen noch immer nicht die Begrenzungen der herrschenden Debatte überwunden haben. Indem der Aspekt der Klassenauseinandersetzung systematisch ausgeblendet wird, gelingt es sowohl NeoklassikerInnen als auch StrukturalistInnen, die klassenbezogenen Konsequenzen ihrer Politik zu verdrängen.

Die Zukunft des Sozialismus überdenken

Um es deutlich zu machen: Ich behaupte nicht, daß eine bestimmte Gruppe – etwa “die herrschende Klasse” – in ihrem Handeln von einem festen Klassenbegriff geleitet wird. Ebensowenig unterstelle ich die Existenz einer versteckten Logik, die zwangsläufig dazu führt, daß klassenunabhängige Politikfehler in Erfolge innerhalb der Klassenauseinandersetzung umgemünzt werden. Keine dieser beiden traditionellen Erklärungsversuche ist hilfreich, sondern irreführend und politisch schädlich. Der erste Erklärungsversuch würde eine Verschwörung unterstellen, der zweite stützt sich auf den Begriff eines geheimen telos oder eines inneren Gesetzes, das die Gesellschaft steuert. Vielmehr sind die kapitalistischen Erfolge in den Klassenauseinandersetzungen, die in Argentinien, Brasilien, Peru und überall in Lateinamerika zu beobachten waren, das Ergebnis einer sich ständig wandelnden Kombination von Umständen. Wirtschaftliche und politische Kämpfe schlagen sich genauso nieder wie staatliche Stabilisierungs- und Anpassungsstrategien.
Es ist vor allem die Klassenanalyse, die die widersprüchlichen Folgen der Stabilisierungs- und Anpassungsprogramme deutlich macht. Diese Sichtweise eröffnet einen Ausweg aus dem Hin und Her zwischen bereits gescheiterten Strategien und leistet einen wichtigen Beitrag zur Neubestimmung von Entwicklungszielen und Wegen, diese umzusetzen. Außerdem ist es aus dieser Perspektive leichter, die Zukunft des Sozialismus zu überdenken. Sie ermöglicht es, sich die Abschaffung jedweder Form der Ausbeutung und somit den Übergang zu kollektiven Organisationsformen von Gesellschaft vorzustellen.

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