Literatur | Nummer 315/316 - Sept./Okt. 2000

Verwirrung angesichts des Nachthimmels

Streng subjektiv: Die argentinische Schriftstellerin Alicia Kozameh

Alicia Kozameh baut ihre Romane auf der Grundlage persönlicher Erlebnisse und Erfahrungen. Nicht in einem allgemeinen Sinn, in dem dies wohl auf alle AutorInnen zutrifft, sondern ganz konkret. Literatur heißt bei Kozameh nicht nur Imagination, sondern zugleich Bewältigung von eigenen Schmerzen – sei es die Haft während der Militärdiktatur in Schritte unter Wasser, sei es, in ihrem zweiten Roman Straußenbeine, die Kindheit mit einer körperlich und geistig behinderten Schwester.

Valentin Schönherr

Freiheit ist nicht die Abwesenheit von Haft. Als Sara, die Protagonistin von Alicia Kozamehs Roman Schritte unter Wasser, nach dreieinhalb Jahren Zelle das Gefängnistor der argentinischen Militärdiktatur hinter sich lässt, muss sie erkennen, dass es lange dauern wird, bis sie sich wirklich befreien kann. Sich frei machen von Entwürdigung, Angst und Gewalt, sich zurechtfinden mit den nächsten, liebsten Menschen, an denen die Repression ebenfalls tiefe Spuren hinterlassen hat. Kozameh legt ein beeindruckendes Zeugnis davon ab, wie groß und vielfältig die Last sein kann, die die Schergen der Diktatur ihren Opfern aufgebürdet haben.
Alicia Kozameh, geboren 1953 im argentinischen Rosario, hat selbst erlebt, wovon sie schreibt. Als Guerillakämpferin wurde sie 1975, ein halbes Jahr vor dem Militärputsch, verhaftet, 1978 kam sie aus dem Knast frei, wurde aber weiter überwacht und musste sich täglich bei der Polizei melden. 1980 schließlich erhielt sie ein Visum und ging ins Exil nach Mexiko und in die USA. An all diesen Orten spielt auch Schritte unter Wasser. In dessen zwölf Abschnitten werden vielstimmige, in diverse Textsorten (Erzählung, Brief, Tagebuch) gefasste Episoden zusammengebracht, ohne dass die Chronologie oder ein Erzählfaden weiter beachtet würden.
Das Buch setzt ein, als Sara das erste Mal nach der Haft wieder im Haus ihrer Eltern ist: Sie kann sich ungehindert bewegen, doch beherrscht sie das Gefühl, etwas Unerlaubtes zu tun, auf der Flucht zu sein, gestellt zu werden und wieder zurückzumüssen. Aus Los Angeles wechselt sie Briefe mit einer Freundin, die in Frankreich ihr Exil fand. Die Szene der Verhaftung und die ersten Stunden im Gefängnis werden geschildert, und es geht um die Jacke ihres – gleichfalls verhafteten – Lebensgefährten Hugo: Der Polizist, der nach Saras Haftentlassung alle ihre Schritte überwacht, hatte bei der Gefangennahme diese Jacke mitgenommen und trug sie nun stets. Ein Hohn und Horror für Sara, und einer der vielen Momente im Buch, an denen deutlich wird, wie gefangen sie noch ist.
Schritte unter Wasser hat mich über weite Strecken sehr bewegt; es wirkt authentisch gerade in den Details wie der Jacken-Episode. Kozameh schreibt extrem subjektiv, zugleich sehr genau, und sie macht betroffen dadurch, dass sie vermitteln kann, selbst betroffen (gewesen) zu sein. So ist das Buch ein Stück Testimonio-Literatur: Sie legt ein Zeugnis ab und rettet ihre Erinnerungen vor dem Vergessen.
Nun steht unter dem Titel jedoch „Roman“, und auch das hat seine Berechtigung. Die Autorin verfasst keinen nüchternen Bericht, sondern schreibt mit deutlich künstlerischer Ambition. Sie bedient sich aller möglicher Stilmittel, sie wechselt, wenn es um Sara geht, gelegentlich zwischen der ersten und der dritten Person und erzeugt so ein frappierendes Gefühlsgeflecht aus Nähe und Distanz. Diese romanhafte Verarbeitung ihrer eigenen Leidensgeschichte gelingt meist problemlos, aber nicht immer. In einem langen Abschnitt, der ein Viertel des Buches ausmacht und der übrigens in der spanischen Erstfassung von 1987 noch nicht enthalten war, sondern erst für die englische Übersetzung (1996) dazugefügt wurde, geht es um Saras Beziehungen nach der Haft. Hugo ist noch hinter Gittern, da verliebt sich Sara in den Freund ihrer besten Freundin. Die Gespräche, die sich darüber entspinnen, wirken durchaus authentisch – sie könnten aus jeder WG-Küche stammen –, aber hier konnte sich Kozameh nicht von überflüssigen Details trennen, war die Erinnerung wichtiger als die literarische Dynamik und verliert das Buch als Kunstwerk.
In ihrem zweiten Roman Straußenbeine (1989), der bereits 1997 auf Deutsch erschien, sind solche Pannen nicht mehr passiert. Das Prinzip hat Kozameh beibehalten: Sie hält sich eng an die eigene Lebensgeschichte, hier ihre Kindheit mit einer geistig und körperlich behinderten Schwester, und destilliert daraus einen Roman. Dass in Schritte unter Wasser das Destillat nicht ganz rein ist, ist schade, aber bei dem dramatischen Stoff kann man die Rückstände mitschlucken. Wenn Alicia Kozameh alias Sara beschreibt, wie sie nach dreieinhalb Jahren das erste Mal wieder den sternenklaren Nachthimmel sieht – verwirrt, sehnsüchtig, ängstlich –, lösen sich die Zweifel an ihren literarischen Fähigkeiten rück- und umstandslos auf.

Alicia Kozameh: Schritte unter Wasser. Aus dem argentinischen Spanisch übersetzt von Erna Pfeiffer, mit einem Nachwort von Saúl Sosnowski. Milena Verlag, Wien 1999, 178 S., 29,- DM (ca. 15 Euro).
Alicia Kozameh: Straußenbeine. Aus dem argentinischen Spanisch übersetzt von Erna Pfeiffer. Milena Verlag, Wien 1997, 240 S., 39,- DM (19 Euro).


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