Berlinale | Lateinamerika | Nummer 597 - März 2024

Von Nonnen und Nilpferden

Berlinale-Preisträger*innen aus Lateinamerika schildern ihre künstlerischen und politischen Perspektiven

Es gab eine Menge zu besprechen und zu feiern auf der 74. Berlinale für die Filmemacher*innen aus Lateinamerika. In vielen Ländern befindet sich das Kino im Aufbruch. Eine neue Generation von Regisseur*innen und Schau­spieler*innen probiert innovative Formate, Bildsprache und Inhalte aus und verbindet sie mit politischen Inhalten wie Feminismus oder Postkolo­nialismus. Das wurde mit vielen Preisen für lateinamerikanische Filme auf dem Festival gewürdigt. LN hatte während der Berlinale die Möglichkeit, mit einigen von ihnen zu sprechen.

Von Dominik Zimmer
La piel en primavera (Monociclo Cine)

Raul Briones (Schauspieler, Mexiko, Hauptrolle in La Cocina) über toxische Männlichkeit:

Für mich als nicht-binäre Person ist das ein besonders wichtiges Thema. Ich habe meine Transition vor fünf Jahren begonnen. Das ist meine erste männliche Figur, die ich seitdem spiele. Seit einer Weile schon hinterfrage ich die Charaktere, die ich spiele. Ich wurde ja oft als Auftragskiller oder Bösewicht gecastet, wegen der Energie, die ich ausstrahle. Für La Cocina habe ich zum ersten Mal eine männliche Figur, Pedro, konstruiert, die scheitert. Sie rutscht in eine Katastrophe, weil sie sich ihre Trauer nicht eingestehen kann. Oft habe ich mich gefragt, ob für Männer unter diesen toxischen und gewaltvollen sozialen Umständen überhaupt ein anderes Schicksal als ein tragisches möglich ist. Denn sie zerstören sich selbst. Ich habe mir bei den Dreharbeiten einen Finger gebrochen. Und ich habe mich gefragt, warum ich diesen Schmerz ertragen muss. Warum Männer sich in dieser Weise verteidigen müssen. Ob dieser Schmerz wirklich die Konsequenz davon war, dass ich mich in Pedros Lage versetzt habe. In jemanden, der versucht, ein „echter Mann“ zu sein. Ich denke, es muss sich an der momentanen Konstruktion von Männlichkeit etwas ändern. Wir müssen diese Vorstellungen hinter uns lassen. Denn andernfalls werden wir selbst zu unseren schlimmsten Feinden werden.

Juliana Rojas (Regisseurin Cidade, Campo, Brasilien, Gewinnerin des Preises für die beste Regie in der Sektion Encounters) über die Inspiration für die Geschichten und die Figuren ihrer Filme:

Ich arbeite viel mit Beobachtung. Es gibt ein Universum von Themen, die mich interessieren. Einige sind auch in meinen anderen Filmen präsent. Zum Beispiel Arbeitsverhältnisse, Klassen­­ver­hältnisse, weibliche Figuren, Liebes­beziehungen. Außerdem beeinflusst mich norma­ler­weise die Realität stark, zum Beispiel Nach­richten oder Erzählungen. Die Figur der Joana in meinem Film basiert auf einer wirklichen Person, die ich in einem Shoppingcenter getroffen habe. Dort habe ich einige Reinigungskräfte bei der Arbeit gesehen. Eine Frau sprach darüber, dass sie das Leben auf dem Land, die Beziehung zur Natur, die Gemeinschaft und die Gespräche mit den anderen Menschen dort vermisst. Das hat mich sehr berührt und mich zur Figur im Film inspiriert. Genau wie die Berichte, die ich über die Katastrophen beim Bruch der Staudämme Brumadinho und Mariana in Minas Gerais gelesen habe, durch die Dörfer zerstört und die Umwelt verseucht wurden. Für diese Katastrophen waren multinationale Firmen aus verschiedenen Län­dern verantwortlich, unter anderem aus Deutsch­land. Die Berichte der Betroffenen haben mich sehr berührt. Nicht nur wegen der Tragödie und der Traumata, die sie erlebt haben. Sondern auch wegen der Schwierigkeit, nun vorüber­gehend an einem anderen Ort, in der Stadt, leben zu müssen. Ohne die Routinen, die sie auf dem Land hatten. Das Hauptthema des Films sollte aber nicht diese Tragödie sein. Da müsste man einen eigenen Film darüber drehen, um die Komplexität der Kata­strophe aus verschiedenen Perspektiven zu zeigen.

… über Migrationsprozesse innerhalb Brasiliens:

Der Bevölkerungsfluss vom Land in die Stadt ist in Brasilien viel stärker als umgekehrt. Denn es gibt im ländlichen Raum das Problem des Anbaus von Monokulturen. Hier werden Kleinbäuer*innen und Dorfgemeinschaften mit Gewalt vertrieben, damit die großen Agrarfirmen Land für die Pflanzung von Soja, Mais oder Zuckerrohr besetzen können. Es ist deshalb nicht so üblich, aus der Stadt aufs Land zu ziehen. Aber auch hier basiert die Geschichte im Film auf echten Erzählungen von Menschen, die diese gegenläufige Bewegung gemacht haben. Die eine andere Art von Leben, eine andere Lebensqualität auf dem Land gesucht haben. Und auf ihren Schwierigkeiten mit dem Kulturschock in einer Umgebung, die gegenüber bestimmten Personen­gruppen feindseliger eingestellt ist. Und der täglichen, harten Arbeit auf dem Bauernhof.

… über die Ausblendung der aggressiven Diskurse der Bolsonaro-Zeit in Cidade, Campo:

Die Idee zum Film ist schon vor der Amtszeit von Bolsonaro entstanden. Der Film ist aber nicht komplett konfliktfrei, es gibt nur nicht diese Polarisierung. Die zentralen Themen sind auch nicht Frauenfeindlichkeit, Homophobie oder Rassismus – Phänomene, die während der Regierungszeit Bolsonaros viele Spannungen verursacht haben und auch immer noch sehr präsent in der Gesellschaft sind. Dennoch werden komplexe Fragen angesprochen. Joana ist eine verletzliche Person. Es geht bei ihr um die Prekarisierung von Arbeitsverhältnissen, sie wird von diesem System unterdrückt. Und auch im zweiten Teil auf dem Land liegt von Anfang an Spannung in der Luft. Der Verwalter des Landguts bietet den beiden Frauen bei ihrer Ankunft eine Waffe an, damit sie sich verteidigen können. Und dann gibt es noch den Sojaanbau, der ihre Farm umzingelt.

Nelson De Los Santos Arias (Regisseur des Films Pepe, Dominikanische Republik, Gewinner des Silbernen Bären für die beste Regie) über postkoloniales Kino in Lateinamerika:

Als ich 24 Jahre alt war, habe ich begonnen, mich als Filmemacher mit postkolonialer Theorie zu beschäftigen. Ich habe gefühlt, dass ich Dinge kombinieren und vermischen musste, um Geschichten zu erzählen. Die lateinamerikanischen Länder sind stark US-amerikanisiert. Das ist durch die Produktion von Subjektivität, die Homoge­nisierung von Menschen passiert. Durch die Kämpfe um Pluralität und Diversität sehen wir aber, dass die Welt sehr heterogen ist. Und diese Heterogenität wird auch neue Formen und Bilder produzieren.

Das Nilpferd Pepe habe ich ausgewählt, weil es das erste Tier war, das außerhalb seines Heimatkontinents Afrika eine wilde Herde gegründet hat. Pablo Escobar hat viele Tiere auf seine Finca in Kolumbien gebracht. Leoparden oder Geparde zum Beispiel. Aber alle diese Tiere blieben in seinem Zoo und starben irgendwann einfach, weil sie menschliche Unterstützung brauchten. Aber die Flusspferde haben sich an ihre Umgebung angepasst. Und das war für mich der Anlass, es als Parabel für die historische Migration zwischen Afrika und den Amerikas zu benutzen.

… über ideologische Emanzipationsprozesse in Lateinamerika:

Ich nutze Pepe auch als Fabel, als Mittel zur Produktion von Vorstellungskraft. Ich mag das Spielerische, das Fantastische. Und ein Nilpferd erschien mir perfekt für die Personifizierung. Aber US-Produzenten haben dieses Universum für Kinder in Lateinamerika für sich in Beschlag genommen: Disney, Cartoon Network, die Feuersteins. Das hat für mich auch eine politische Bedeutung. Denn für mich besteht die gegenwärtige politische und philosophische Krise in einem Mangel an Vorstellungskraft. Dem Unvermögen, über den Eurozentrismus, den Kapitalismus oder auch sein Gegenstück, Sozialismus und Kommunismus, hinauszudenken. Stattdessen könnten wir uns auch indigene oder afro-indigene gemeinschaftliche Organisations­formen vorstellen.

…über den Einfluss von Netflix auf die lateinamerikanische Kinolandschaft:

Netflix zerstört mit seiner Arbeitsweise die nationalen Kinolandschaften. Ein Beispiel: Verglichen mit den USA zahlt es in manchen Ländern Lateinamerikas extrem wenig Lohn – aber nicht wenig für lateinamerikanische Verhältnisse. Das ist auch eine Form von Kolonialismus: Ein großes Unternehmen kommt in arme Länder auf der Suche nach billiger Arbeitskraft. Genau das macht Netflix. Und mit unserer Filmkommission kämpfen wir dagegen an. Denn die Regierungen in Lateinamerika bekommen eine Menge Geld von Netflix – für Filme wie Pepe bekommen sie dagegen kein Geld. Dann macht vielleicht der Botschafter hier auf dem Festival ein Foto mit mir. Aber das war’s dann. Netflix verdrängt die nationalen Filmindustrien. Zum Beispiel kommen sie in die Dominikanische Republik und machen eine Menge Fernsehshows. Und wir haben dann keine Leute mehr, die mit uns arbeiten wollen. Die sagen dann zu mir: „Hey Nelson, tut mir leid, dein Dreh dauert vier Wochen und die geben mir einen Vertrag für sieben Monate und ich habe Familie.“ Was soll ich da denn sagen?

Antonella Sudasassi (Regisseurin Memories of a Burning Body, Costa Rica, Gewinnerin des Panorama Publikumspreises) über das Brechen von Tabus in ihrem Film:

Das Filmprojekt hat beim letzten Gespräch mit meiner Großmutter mütterlicherseits begonnen. Bevor sie gestorben ist. Nach meinem letzten Film blieben mir viele Fragen darüber, wie ihre Generation von Frauen aufgewachsen ist: in einem viel repressiveren Umfeld als ich. Viele Sachen, die sie erzählte, kamen mir bekannt vor. Zugleich gab es nach wie vor eine Tabuisierung rund um diese Themen. Diese Tabuisierung wollte ich auflösen.

Im Film erzählen insgesamt acht ältere Frauen ihre Geschichten. Alle wollten anonym bleiben, das haben sie mir von Anfang an gesagt. Aber sie sagten auch: „Wenn mich niemand sieht, dann erzähle ich gerne.“ Am meisten Angst hatten sie davor, ihren Angehörigen zu schaden. Gar nicht einmal so sehr ihren Kindern, sondern vor allem ihren Enkeln. Es wäre ihnen peinlich gewesen, dass ihre Enkel diese Geschichten hören und schlecht von ihren Großmüttern denken könnten. Denn die Großmutter sehen wir immer noch als etwas Heiliges, als eine Art Jungfrau. Das ist zum Beispiel immer noch ein enormes Tabu. Eine ältere Frau zu zeigen, die ihre Sexualität voll und bewusst auslebt – niemals! Einige wussten bis spät in ihrem Leben nicht, was ein Orgasmus ist. Bis sie einen zweiten oder dritten Ehemann hatten. Mein Film gibt mir aber auch Hoffnung, dass sich etwas zum Guten verändert. Diese Frauen, die durch die Hölle gegangen sind, sind jetzt empowert. Mit 70 Jahren nehmen sie jetzt ihre Sexualität an und leben sie aus.

… über die weiblich dominierte Filmindustrie Costa Ricas:

Zum Glück gibt es in Costa Rica sehr viele Frauen, die Kino machen. Ich bin Mitglied in der Gewerkschaft der Regisseurinnen von Costa Rica. Wir sind über 27 Frauen, die alle schon mindestens einen Langfilm veröffentlicht haben. Für eine kleine Filmindustrie wie die in Costa Rica ist das eine ungeheure Leistung. Ich glaube, es hängt damit zusammen, dass es eine sehr neue Industrie ist. Sie wächst ohne die Laster einer älteren Industrie. Eine männlich dominierte Filmindustrie ist in Costa Rica nie entstanden. Sie wurde von uns Frauen erfunden. Weil wir so viele sind, die Kino machen, haben wir uns einen Raum erobert. Das Kino aus Costa Rica ist Kino, das von Frauen gemacht wird. Man sieht es auf den großen Festivals. Es repräsentiert das Land und erschafft sein Bild. Deswegen gibt es in der Filmindustrie in Costa Rica keinen Widerstand gegenüber Frauen. Im Gegenteil besteht eine große Offenheit für sie, wenn sie ihre eigenen Geschichten erzählen wollen.

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