Berlinale

VON POETISCH BIS POLITISCH

Sieben Kurzfilme aus Lateinamerika wurden bei der Berlinale 2022 gezeigt – einer gewann einen Silbernen Bären

Von Dominik Zimmer

Einfach wurde es den Zuschauer*innen nicht gemacht, alle lateinamerikanischen Kurzfilme der 72. Berlinale zu sehen. Breit über verschiedene Sektionen und Programme verstreut konnten sie insgesamt auch das fast durchgehend hohe Niveau der Langfilme nicht ganz erreichen. Dennoch waren einige reizvolle Beiträge dabei, die das Festival bereichert haben. Hier das LN-Ranking aller Beiträge:

1. The Wake (Haiti, Ausstellung Closer to the Ground, Sektion Forum Expanded)

Eine poetisch-politische Reflexion über den Stand der Dinge im Karibikstaat. Wie weitermachen in einem Land, das, immer wieder von Naturkatastrophen geschüttelt, vom Ausland vernachlässigt oder gar beschimpft wird und von Korruption und Gewalt zerfressen ist? Mit Kunst, mit Protest, mit Aktivität, so die Antwort der Künstler*innengruppe The Living and Dead Ensemble, die die Kurzdoku The Wake produziert hat. Verschiedene künstlerische, politische oder persönlich-reflexive Testimonials verdichten sich zu einem ausdrucksstarken Panorama einer Generation, die versucht, Frust und Resignation in positive Energie umzuwandeln. Auch ästhetisch wurde das Projekt mit einer Präsentation als digitales Triptychon (auf drei großen vertikalen Bildschirmen) anspruchsvoll umgesetzt. Manchmal etwas herausfordernd, insgesamt aber ein ausdrucksstarkes Plädoyer für politischen und künstlerischen Aktivismus.

Bewertung: 4/5

2. Yarokamena (Kolumbien, Programm 8 Forum Expanded)

Die Kurzdoku erzählt die Geschichte von Yarokamena, dem Anführer einer bewaffneten Rebellion von Kautschukarbeiter*innen im Amazonasgebiet. Sie kämpften gegen die brutale Ausbeutung und Versklavung der indigenen Gemeinschaft der Uitoto durch die peruanische Firma Casa Arana zu Beginn des 20. Jahrhunderts. In der Nähe der Siedlung Atenas im heutigen Kolumbien gelang es Yarokamenas Kämpfer*innen einige Zeit lang, ihren erbitterten Widerstand aufrecht zu erhalten. Schließlich wurden sie von der herbeigerufenen peruanischen Armee besiegt. Lange Zeit war selbst die mündliche Weitergabe von Yarokamenas Geschichte bei Strafe verboten. Nun hat der Filmemacher Andrés Jurado sie mit den Mitteln des Kinos wiederbelebt. Er lässt sie Gerardo Sueche Cañube, ein heutiges Ratsmitglied der Uitoto, erzählen, wobei rotes Licht und ein knisternder Umhang aus Silberfolie die Illusion eines Lagerfeuers erzeugen. Ergänzt wird dies durch verwaschene Aufnahmen von Technikruinen im heutigen Amazonasgebiet. Der Film endet mit dem Einspielen des Stücks Yarokamena der kolumbianischen Metalband Jitoma Safiama. Einiges an Kontext müssen sich Zuseher*innen ohne Vorkenntnis zwar nach dem Film noch selbst erarbeiten. Dennoch bietet er eine relevante und anspruchsvoll inszenierte Geschichtsstunde, die gerne noch etwas länger hätte dauern dürfen.

Bewertung: 4/5

3. Manhã de Domingo (Brasilien, Programm Berlinale Shorts II)

Als einziger rein fiktionaler Kurzfilm aus Lateinamerika folgt Manhã de Domingo der Klavierspielerin Gabriela, die das gleiche Klavierstück in verschiedenen Situationen spielt: Für ihren Liebhaber, als Probe am Vorabend eines Konzerts, auf einem Keyboard alleine in ihrem Elternhaus. Dabei variiert sie das Stück je nach ihrem Gemütszustand. Während des Spielens und in den Sequenzen dazwischen erfährt man einiges über Gabrielas Verhältnis zu ihrer kürzlich verstorbenen Mutter und den Erwartungsdruck, dem sie sich als Schwarze Pianistin ausgesetzt sieht und selbst aussetzt. Der Film wird getragen von der wunderschönen Klaviermusik Gabrielas, belässt aber die Deutung einiger Situationen im Ungefähren. Die Jury der Sektion Berlinale Shorts konnte Regisseur Bruno Ribeiro damit überzeugen: Manhã de Domingo gewann den Silbernen Bären für den Preis der Jury im Bereich Kurzfilme.

Bewertung: 3/5

4. Moune Ô (Frankreich / Französisch-Guyana, Programm 1 Forum Expanded )

Regisseur Maxime Jean-Baptiste rechnet in Moune Ô mit dem Erbe des französischen Kolonialismus ab. Am Beispiel des französischen Films Jean Galmot, aventurier von 1990 und seiner Rezeption zeigt seine Kurzdokumentation die bis heute stereotypisierten Rollenbilder und die ökonomische Ausbeutung und Abhängigkeit des Überseedepartements Französisch-Guyana vom Mutterland auf. Diese manifestieren sich heute vor allem in der Verseuchung der Umwelt durch die größte Goldmine der Welt. Jean-Baptiste nutzt zu diesem Zweck einzig Bildmaterial und Off-Kommentar, was den Film zwar künstlerischer macht, aber das Verständnis des Kontextes erschwert.

Bewertung: 3/5

5. O dente do dragão (Brasilien, Programm 1 Forum Expanded )

Auch dieser Kurzfilm behandelt eine in Vergessenheit geratene historische Katastrophe. 1987 wurde im brasilianischen Goiânia ein Röntgengerät aus einem verlassenen Krankenhaus gestohlen. Die Diebe bauten das defekte Gerät auseinander, wodurch radioaktive Strahlung austrat. 253 Personen wurden verseucht, vier davon starben. Mehrere Häuser mussten mitsamt ihrer kompletten Einrichtung zerstört werden. Der Vorfall gilt bis heute als einer der schwerwiegendsten nuklearen Unglücksfälle weltweit.
Regisseur Rafael Castanheira Parrode hat seinen Film als fortschrittskritische Kurzdoku mit vielen Verfremdungseffekten in Bild und Ton inszeniert. O dente do dragão beginnt mit einem Ausschnitt des alten Nibelungen-Spielfilmes von F.W. Murnau, bei dem Siegfried den Drachen tötet und zeigt immer wieder Auswüchse technischer und militärischer Entwicklung. Die Message hat ihre Berechtigung, ist allerdings nicht ganz neu. Und die mit stroboskopischen Blitzen versehenen Aufnahmen erfüllen ebenfalls ihren ästhetischen Zweck, geraten aber auf die Dauer etwas anstrengend – und brachten dem Film eine Epilepsiewarnung ein.

Bewertung: 3/5

6. Heroínas (Peru, Programm Berlinale Shorts V)

Kolonialismus Teil 3 bei den lateinamerikanischen Kurzfilmen: Tomasa Tito Condemayta war eine indigene Adlige aus Peru, die sich im 18. Jahrhundert den spanischen Kolonialherren mit einer Brigade von Soldatinnen entgegenstellte. Heroínas, das Regiedebüt der Peruanerin Marina Herrera, erklärt aber weniger die historischen Gegebenheiten, sondern zeigt einen heutigen, fiktiven Kult um Tomasa, der einer katholischen Wallfahrt zu Orten von Marienerscheinungen ähnelt. Dabei kommen Laiendarstellerinnen in Interviews zu Wort, die sich von der vermeintlichen Heiligen verbesserte Lebensbedingungen oder gute Noten in der Schule erhoffen.
Auch wenn es zum Wesen von Mockumentarys gehört, dass die Grenze zwischen Realität und Fiktion verschwimmt, hat Herrera in diesem Fall das Spiel für nicht Eingeweihte etwas zu weit getrieben. Wer nicht schon vor dem Film gut über die geschichtlichen Fakten informiert ist, könnte denken, die Szenen im Film seien komplett echt – oder im Gegenteil alles, inklusive Tomasa, komplett erfunden. Die Verbindung zwischen realer historischer Figur und fiktivem Kult schafft es so nie, wirklich zu zünden. Vielleicht auch, weil ironische Distanz bei einer Widerstandskämpferin, die ein berechtigtes Anliegen hatte und dafür brutal ermordet wurde, einfach nicht das geeignete Mittel ist. Schade, denn Tomasa Condemayta und ihre Vorbildfunktion für indigene Frauen in Peru heute wären auch für eine normale Kurzdokumentation interessant genug gewesen.

Bewertung: 2/5

7. Se hace camino al andar (Brasilien, Ausstellung Closer to the Ground, Sektion Forum Expanded)

Ein Mann läuft eine halbe Stunde lang mit seinen Schuhen in der Hand an einem Maisfeld vorbei und durch ein Gemüsefeld. Die einzige Abwechslung: Einmal taucht eine riesige Landmaschine auf, untermalt von dramatischer Musik. Cineastisch zu vernachlässigen – und selbst der meditative Charakter als einzig nennenswerte Qualität wurde auf der Berlinale 2022 durch die Platzierung in einer größeren Ausstellungshalle mit akustischer und optischer Ablenkung zunichte gemacht.

Bewertung: 1/5

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