Wahrheit und Gerechtigkeit – ?Dónde están?
Chiles Regierung beugt sich dem Druck des Militärs
Die “doctrina Aylwin”, die der neue Präsident bald nach Amtsantritt zur Grundlage der Menschenrechtsprozesse erklärte, stellte jedoch das Amnestiegesetz nicht in Frage. Sie schrieb Untersuchungen und Gerichtsverfahren bei darauffolgender Anwendung der Amnestie vor. Schon damals wurde deutlich, daß es keine Gerechtigkeit geben würde. “Wahrheit und Gerechtigkeit im Rahmen des Möglichen” heißt heute die Zauberformel, die einen Schlußstrich unter die Vergangenheit ermöglichen soll.
In einer Rede an die Nation stellte der Präsident am 3. August einen Gesetzesvorschlag zur Beschleunigung der 183 noch schwebenden Menschenrechtsverfahren vor. “Selbstverständlich wird die von mir vorgeschlagene Lösung nicht alle zufriedenstellen”, bekannte Aylwin. Den Zielen, die das Militär mit seinem “boinazo” vom Mai (vgl. LN 229/3O) anstrebte, kam die ursprüngliche Version der “Ley Aylwin” jedoch fast vollständig entgegen. Auf die Ablehnung der Vorlage durch das Parlament reagierte der Präsident, indem er seinen Entwurf zurückzog, ohne die Stellungnahme im Senat abzuwarten. Die von den Militärs erhoffte erneute Bestätigiung des Amnestiegesetzes von 1978 bleibt so vorerst noch aus.
“Klima der Hexenjagd”
Die Wochen, die der Rede Aylwins vorangingen, waren angefüllt mit Unterredungen zwischen dem Staatsoberhaupt und – zumindest nach der offiziellen Lesart – den wichtigsten an der Menschenrechtsfrage interessierten Gruppen. Besonders den Generälen schenkte der Präsident seine Aufmerksamkeit, während sich die Kommunistische Partei vergeblich um einen Gesprächstermin bemühte. Die Gespräche wurden unter strikter Geheimhaltung geführt, so daß die Gerüchteküche brodelte. Im sicheren Gefühl, mit dem “boinazo” für nachhaltige Verunsicherung gesorgt zu haben, forderte das Militär den “punto final”, die Einstellung aller noch schwebenden Menschenrechtsverfahren. Die einflußreiche rechte Tageszeitung “El Mercurio” meldete, die Regierung denke ernsthaft über einen “punto final” nach. Die Öffentlickeit war auf das Schlimmste vorbereitet, so daß die Aussage Aylwins, diesen niemals zuzulassen, als Standfestigkeit gegenüber den Militärs verkauft werden konnte. Dabei kam das Gesetzesprojekt des Präsidenten einem Zurückweichen auf der ganzen Linie gleich.
Bereits bei der Begründung seiner Initiative machte sich Aylwin die Argumente der Miltärs zu eigen und rechtfertigte damit den “boinazo”. Die schleppende juristische Behandlung der Menschenrechtsverletzungen lasse die nationale Versöhnung nicht zu. Die Vorverurteilung von Militärangehörigen durch die Massenmedien und die öffentliche Meinung habe ein Klima der “Hexenjagd” erzeugt und innerhalb der Streitkräfte zu großer Verunsicherung geführt, die sich schließlich im “boinazo” entladen habe.
Das Interesse der Angehörigen der Verhafteten und Verschwundenen reduzierte Aylwin darauf, den Fundort der Leichen zu ermitteln, um diese dann bestatten zu können. Daß nicht nur die Angehörigen jedoch auch ein Interesse an der öffentlichen Aufklärung der Verbrechen und an einer Bestrafung der Schuldigen haben, verschwieg er. “Gerechtigkeit im Rahmen des Möglichen” bedeutet Leichensuche, um dann endlich die Akten schließen zu können. Der Zynismus dieser Argumentationsweise offenbarte sich vollends darin, daß Aylwin sämtliche Betroffenen dazu aufforderte, sich im Interesse der nationalen Versöhnung in die Lage der Gegenseite zu versetzen. Eine Mutter, die seit fast zwanzig Jahren verzweifelt nach dem Verbleib ihrer Tochter forscht, soll sich also in die Lage eines folternden Militärs versetzen?
Der “punto final” als Alternative zum “punto final”
Zu den wichtigsten Maßnahmen des Gesetzesprojektes gehört die Berufung von SonderrichterInnen, die sich der schwebenden Verfahren annehmen sollen, um sie zu beschleunigen. Um Militärangehörige zur Aussage über den Fundort von Leichen zu bewegen, versprach Aylwin sowohl die Geheimhaltung der Namen als auch der Tatumstände. Nach Ansicht des juristischen Beraters des Präsidenten, Guzmán Vidal, besteht ein moralischer Anreiz für Militärs, an der Aufklärung mitzuarbeiten. Das Vertrauen der Bevölkerung in die Streitkräfte sei durch Verfehlungen Einzelner untergraben worden. Warum dieselben Militärangehörigen, die die Möglichkeit der anonymen Beichte gegenüber einem Geistlichen nicht wahrgenommen haben, heute ihr Schweigen brechen sollten, bleibt allerdings unklar. Die Geheimhaltung, die Gegenstand des Artikels 3 der “Ley Aylwin” ist, soll gewährleistet werden, indem der Zugang der AnwältInnen von Familienangehörigen zu Zeugenaussagen durch richterliche Entscheidung geregelt wird. Die öffentliche Bekanntgabe dieser Aussagen soll mit Gefängnisstrafe und Entzug der Anwaltslizenz geahndet werden. Dem Anspruch auf eine öffentliche Aufarbeitung der Menschenrechtsverletzungen der Diktatur, der von den Opfern und ihren Angehörigen eingefordert wird, wird diese Beschränkung der Pressefreiheit und die drohende Maßregelung von AnwältInnen jedenfalls nicht gerecht.
Aus Protest gegen die Politik der Regierung riefen Menschenrechtsorganisationen und Angehörige von Verschwundenen zu Protestkundgebungen und Hungerstreiks auf. Unter Berufung auf Gesetze, mit denen unter der Militärdiktatur das Recht auf Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit eingeschränkt wurde, löste die Polizei Kundgebungen vor dem Präsidentenpalast auf. Wasserwerfer stellten sich protestierenden RentnerInnen entgegen. Infolge des Knüppeleinsatzes wurden mehrere von ihnen verletzt und stundenlang auf Polizeiwachen festgehalten, ohne medizinisch versorgt zu werden. Die Hungerstreiks diffamierte Innenminister Enrique Krauss als “völlig unzulässigen Versuch, die Regierung unter Druck zu setzen”.
“Ley Aylwin” – ein schlampig ausgearbeitetes Projekt
In den Tagen nach der Rede Aylwins wurde vor allem eines klar: Die Gesetzesinitiative war so vage gehalten, daß alle Interessengruppen unterschiedliche Interpretationen anbieten konnten. Das Gesetz sollte eine Gültigkeit von zwei Jahren haben. Unklar blieb jedoch, ob sich diese Zeitspanne auf die Berufung von SonderrichterInnen bezog oder auf die Behandlung der Fälle. Gilt die Zusicherung der Geheimhaltung für alle Aussagen oder nur für verwertbare? Erstreckt sich der “Vertrauensschutz” nur auf ZeugInnen oder auch auf Beschuldigte? Nehmen sich die SonderrichterInnen nur der gegenwärtig 183 unter Zivilgerichtsbarkeit laufenden Fälle an, oder auch der bereits zu den Akten gelegten Altfälle sowie der Verfahren, die die Militärjustiz untersucht? Können Militärrichter Sonderrichter werden? Die Auseinandersetzung, ob die Kompetenz der Militärgerichtsbarkeit angetastet werden soll, hat insofern neue Brisanz erhalten, als Militärrichter Verfahren einstellten, während über das “Ley Aylwin” diskutiert wurde.
Die meisten der 21 Mitglieder des Obersten Gerichts, der “Corte Suprema”, wurde noch unter Pinochet ernannt und machen keinen Hehl aus ihrer Überzeugung, Chile habe sich in den Jahren nach 1973 im Kriegszustand befunden. Dies dient heute als Begründung dafür, daß Menschenrechtsverfahren zivilen Gerichten entzogen und an Militärtribunale weitergeleitet werden.
Spannungen in der “Concertación”
Unterschiedliche Interpretationen sowie die Tatsache, daß Aylwin dem Parlament seine Gesetzesvorlage mit Dringlichkeit präsentierte, führten zum offenen Konflikt innerhalb der Regierungskoalition, der “Concertación”. Die Sozialistische Partei (PS) und die “Partei für die Demokratie” (PPD) drängten vergeblich darauf, den Beratungszeitraum auszudehnen. Es erregte innerparteiliche Streitigkeiten, daß die VertreterInnen von PS und PPD in der Verfassungskommission des Parlaments gemeinsam mit den ChristdemokratInnen eine leicht modifizierte Gesetzesvorlage verabschiedet hatten. Die vorgenommenen Veränderungen bezogen sich vor allem auf den Geheimhaltungsparagraphen. Diese Modifikationen gingen den Abgeordneten von PS und PPD jedoch nicht weit genug. Als die Vorlage schließlich im Parlament zur Abstimmung gestellt wurde, verweigerten die Abgeordneten von PS und PPD ihre Stimmen. Im ersten Wahlgang, der sich auf das Gesetz als Ganzes bezog, brachte die Christdemokratische Partei (DC) mit den Stimmen der rechten Opposition eine Mehrheit hinter sich. Bei der Abstimmung über die einzelnen Paragraphen der Vorlage wurde hingegen der Artikel 3 über die Geheimhaltung mit den Stimmen von PS und PPD einerseits sowie der Rechten andererseits gekippt.
Abgeordnete der rechten Parteien UDI (Unabhängige Demokratische Union) und RN (Nationale Erneuerung) erklärten ihr widersprüchliches Abstimmungsverhalten damit, daß sie der Beschleunigung der Menschenrechtsverfahren zwar insgesamt positiv gegenüberständen, ein Aufweichen der Geheimhaltungsvorschriften aber als unzumutbar empfänden. Die unzureichende Gewährleistung der Geheimhaltung von Zeugenaussagen behindere die Anwendung des Amnestiegesetzes von 1978, gestand die UDI unverblümt ein. Außerdem sei die Kompetenz der Militärgerichtsbarkeit nur unzureichend abgesichert. Um den Abschluß der Prozesse auch tatsächlich zu beschleunigen, setzte sich die Rechte außerdem dafür ein, Fristen für die einzelnen Bearbeitungsschritte der Nachforschungen zu setzen.
Das politische Kalkül der Rechten, das ihrem Abstimmungsverhalten zugrunde lag, bestand offenbar darin, den Zusammenhalt der “Concertación” zu gefährden. Gemeinsam mit der Rechten die Gesetzesinitiative Aylwins zu Fall gebracht zu haben, trug der PS und der PPD den Vorwurf ein, ihre christdemokratischen RegierungspartnerInnen verraten zu haben.
Im Klima gegenseitiger Schuldzuweisungen kündigte Präsident Aylwin an, dem Senat die ursprüngliche Fassung seiner Gesetzesinitiative vorzulegen. Weite Teile der Rechten, die im Senat die Mehrheit stellt, signalisierten daraufhin ihre Unterstützung. Eine drohende Neuauflage der Allianz von DC und Rechten, die sich bereits 1973 gegen Salvador Allendes Regierung gestellt hatte, brachte sowohl die DC als auch den “sozialistischen” Flügel der “Concertación” in Bedrängnis. Gerade in der sensiblen Frage der Menschenrechte wollten die ChristdemokratInnen unter allen Umständen den Eindruck vermeiden, den offenen AnhängerInnen der Militärdiktatur nachgegeben zu haben. In dieser Angelegenheit waren PS und PPD jedoch keinesfalls bereit, von ihren Prinzipien abzurücken, zumal sie auch von der linken außerparlamentarischen Opposition unter starken moralischen Druck gesetzt wurden.
Bereits wenige Tage nach der Abstimmung im Parlament versuchten führende Mitglieder der Regierungskoalition, die Wogen zu glätten. Im Bewußtsein der wechselseitigen Abhängigkeit angesichts der im Dezember anstehenden Wahlen beschworen DC, PS und PPD den Zusammenhalt der “Concertación” und kündigten an, die Meinungsverschiedenheiten in koalitionsinternen Verhandlungen beizulegen. Obwohl die Sozialistische Partei auch offiziell von der Unantastbarkeit des Amnestiegesetzes von 1978 ausgeht, kam es zu keiner Einigung, denn die DC war nicht bereit, die im umstrittenen Artikel 3 enthaltenen Geheimhaltungsvorschriften entscheidend zu lockern. Nach einer Reihe von Gesprächen zwischen den Spitzen der Regierungsparteien und dem Präsidenten zog Patricio Aylwin seine Gesetzesinitiative auf unbestimmte Zeit zurück. Innerhalb seiner Amtszeit wird es keinen neuerlichen Versuch geben, den Streit um die Verfolgung von Menschenrechtsverletzungen beizulegen. Menschenrechtsgruppen zweifeln aber an der Bereitschaft und Sensibilität seines designierten Nachfolgers Eduardo Frei, sich des Themas anzunehmen. Trotzdem betrachten die hungerstreikenden Angehörigen der Verhafteten und Verschwundenen das Scheitern des “Ley Aylwin” als Erfolg. Für die Präsidentin des Zusammenschlusses der Angehörigen (AFDD), Sola Sierra, haben “die Prinzipien, die Ethik über den Pragmatismus gesiegt”. Gleichzeitig kündigte sie das Ende des Hungerstreikes an.
“Warum soll es ausgerechnet in Chile Gerechtigkeit geben?”
Nach dem Scheitern des “Ley Aylwin” hat sich zumindest in juristischer Hinsicht die Situation nicht verändert. Auf der politischen Ebene ist hingegen vieles deutlich geworden: Die Bereitschaft der Regierung, dem Militär die Stirn zu bieten, ist immer noch nicht vorhanden. Die Gesetzesinitiative des Präsidenten hat das Amnestiegesetz legitimiert und den “boinazo” vom vergangenen Mai gerechtfertigt. Entgegen früheren Zusagen hat die Regierung darauf verzichtet, alle ihre Möglichkeiten auszuschöpfen, um das Militär ziviler Kontrolle zu unterstellen. Seit Jahren fordert beispielsweise die Menschenrechtsorganisation CODEPU (Komitee für die Verteidigung der Rechte des Volkes) vergeblich von der Regierung, das umstrittene Amnestiegesetz vom Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte überprüfen zu lassen. Zumindest die politische Elite des Landes hat sich schon lange damit abgefunden, daß es in Bezug auf die Ahndung von Menschenrechtsverletzungen keine Gerechtigkeit geben wird. Der Generalsekretär der DC, Genaro Arriagada, gibt offen zu: “In keinem Land der Erde gibt es Gerechtigkeit. Warum soll das ausgerechnet in Chile anders sein?”
Im Interesse der Verbesserung der sogenannten militärisch-zivilen Beziehungen ist die Regierung Aylwin dazu bereit, jede öffentliche Diskussion über die Menschenrechtsverletzungen zu verhindern. Sie betreibt die Individualisierung der Schuldfrage und vermeidet es so, das Militär als Institution für die systematischen Menschenrechtsverletzungen unter der Diktatur verantwortlich zu machen.
Die Macht der Militärs ist im Zuge der Auseinandersetzungen um die “Ley Aylwin” gestärkt worden, denn die Regierung hat unmißverständlich klargemacht, unter allen Umständen einen Konsens mit den Generälen erreichen zu wollen.
Die für das Militär juristisch zufriedenstellende Lösung der Menschenrechtsfrage läßt hingegen weiterhin auf sich warten. Auf die Frage, wie die Regierung auf zukünftige Provokationen des Militärs reagieren werde, antwortet DC-Generalsekretär Arriagada: “Wenn das passiert, dann werden wir weitersehen.” Darüber, ob und wann das Militär die Regierung mit erneuten Machtdemonstrationen wie dem “boinazo” zum Handeln zwingen wird, kann vorerst nur spekuliert werden.