Arbeit in Lateinamerika | Nummer 377 - November 2005

Was heißt schon Arbeit?

Eine Einführung in den Schwerpunkt Arbeit in Lateinamerika

Wie verdienen Menschen in Lateinamerika ihren Lebensunterhalt? Und was haben Arbeitsbedingungen mit globalem Kapitalismus zu tun? Mit einem Schwerpunkt wollen die Lateinamerika Nachrichten Arbeitsverhältnisse in Lateinamerika beleuchten.

Axel Berger, Thilo F. Papacek

Um das Jahr 2000 herum war folgende Nachricht den meisten Medien kaum mehr als eine Notiz wert: Die Internationale Arbeitsorganisation zählte erstmals weltweit mehr Lohnarbeitsverhältnisse als bäuerliche Existenzen. Mit anderen Worten: Erst hundert Jahre nach dem weltweiten qualitativen Siegeszug des warenproduzierenden Kapitalismus über die verschiedenen agrarischen Produktionsformen dominiert nun also auch quantitativ das Lohnarbeitsverhältnis die Reproduktion der meisten Menschen. Dies ist umso erstaunlicher als dies in eine Zeit fällt, in der zumindest in den alten Industrienationen permanent vom Ende der Arbeitsgesellschaft die Rede ist. Erinnert sei hier nur an die sicherlich extremsten Auswüchse in der kurzen Blüte des New-Economy-Börsenbooms, in der Millionen von AnlegerInnen bereit waren, an eine völlig virtuelle Akkumulation zu glauben. Bei diesen Oberflächenphänomen bleibt aber außer acht, dass in vielen – insbesondere postkolonialen – Regionen noch in praktisch vorkapitalistischen Verhältnissen gearbeitet wird. Beispielsweise hat sich an den Arbeitstechniken peruanischer Kleinstbergwerke seit hunderten von Jahren kaum etwas geändert (siehe Artikel und Interview in diesem Schwerpunkt).
Wenn aber von einem quantitativen Rückgang der geleisteten (Lohn-)Arbeit nicht ausgegangen werden kann, so hat sich an den konkreten Arbeitsverhältnissen und staatlich organisierten Arbeitsregimes insbesondere in den zurückliegenden fünfzehn Jahren doch offenkundig so einiges verändert, was gepaart mit der Erfahrung strukturell vorhandener Arbeitslosigkeit bei vielen den Gedanken geweckt hat, „die Arbeit gehe aus“. Dieser Eindruck entsteht daraus, dass feste Arbeitsplätze zumindest individuell immer schwerer erreichbar sind. In Lateinamerika wäre es jedoch verfehlt, über das Ende des fordistischen Normalarbeitsverhältnisses klagen. Lohnarbeit in einem formalen Vertragsverhältnis war hier schon immer eher die Ausnahme als die Regel.
Nur was ist dran, an dieser Behauptung und welche Ursachen hat es? Handelt es sich tatsächlich um qualitativ verschiedene Arten der Arbeit und wie wird sie sich zukünftig gestalten?

Globaler Konkurrenzdruck
Wenn von Erwerbsarbeit die Rede ist beherrschen Schlagwörter wie Prekarisierung, Flexibilisierung, Outsourcing und Deregulierung aktuell den öffentlichen Diskurs. Und jede politische Veränderung wird mit der stets allgemein gehaltenen Feststellung begründet, die Arbeit beziehungsweise die Anforderungen an die Arbeitenden seien völlig andere als noch vor Jahrzehnten. Tatsächlich scheint die Welt in Unordnung geraten zu sein. Kapital fluktuiert über den ganzen Erdball und erschließt immer billigere ArbeiterInnen, was den Konkurrenzdruck auch an allen anderen Standorten erhöht.
Aber selbst im Kapitalismus ist die Sklavenarbeit nicht ausgestorben. Laut einer Studie des US-Soziologen Kevin Bales schuften derzeit mindestens 27 Millionen Menschen in völliger Sklaverei und bilden das billigste Segment des Weltarbeitsmarktes. Viele von ihnen leben in ländlichen Gegenden Lateinamerikas, wie etwa der Amazonasregion. Aber auch in den Metropolen gibt es diese Form der Ausbeutung im Hightech-Zeitalter noch: Viele Hausangestellte leben praktisch wie SklavInnen in kleinen Zimmern in den Häusern ihrer „HerrInnen“ (siehe die Rezension in diesem Schwerpunkt).
In einer Vergleichsstudie in Bezug auf die Veränderungen der Arbeitsbeziehungen zwischen Staats- und Marktorientierung in Lateinamerika, die von Rainer Dombois und Ludger Pries erstellt wurde, konnten keine generalisierenden Aussagen über die Entwicklung getroffen werden. Zu unterschiedlich sind die nationalen Bedingungen. Allgemein festzustellen ist laut den Autoren nur eines: die Absenkung der Reallöhne beziehungsweise der Lohnquoten.
Dies scheint zunächst den Argumenten der globalisierungskritischen Bewegungen Recht zu geben, die den „Neoliberalismus“ als politisches Projekt für die sozialen Angriffe verantwortlich machen und für eine Neuauflage der öffentlichen Nachfragepolitik oder hoher Einfuhrzölle streiten. Nur: Warum haben die meisten lateinamerikanischen Staaten das über Jahrzehnte vergleichsweise erfolgreiche Projekt der Importsubstitution aufgegeben, das ihnen zumindest teilweise eine industrielle Entwicklung bescherte? Einerseits ist dies auf den politischen Druck der Glaubigerländer zurückzuführen, die seit dem Beginn der Schuldenkrise eine Marktöffnung der durch die nachholende Industrialisierung hochverschuldeten Länder Lateinamerikas forcierten. Andererseits greift eine rein politische Erklärung hier zu kurz.
In einem Punkt waren die klassische politische Ökonomie und der sie kritisierende Marxismus einig: Auf dem Markt realisieren die EigentümerInnen (auch die, denen lediglich ihre Arbeitskraft gehört) zwar den Wert ihrer Waren, geschaffen wird er aber ausschließlich durch Arbeit, also in der Produktion. Das spezifische Verhältnis hier bildet der Tausch von Arbeitskraft für bestimmte Zeiträume gegen Lohn. Für die, die weil sie von Kapitalbesitz frei sind nur von dem Verkauf ihrer Arbeitskraft leben können und müssen, hat die Sache aber einen riesigen Haken: Nachgefragt wird die Lohnarbeit in der Regel nur, wenn sie mehr leistet, das heißt an Wert schafft, als sie kostet. Nicht also der Markt, sondern die auf Ausbeutung beruhende private Produktion für den Austausch charakterisiert den Kapitalismus, dessen Motiv bekanntlich ja in der Maximierung von Profit besteht. Wie hoch die Löhne aber sind, welche Zusatzleistungen zu ihm gehören und wie brutal die Arbeitsbedingungen organisiert sind, ist nicht durch die Kategorie selbst fixiert.
Laut Marx hängt dieser Wert der Arbeitskraft von der „Kulturstufe“ eines Landes ab, ist also „historisch und moralisch“ definiert. Mit „Kulturstufe“ ist hier insbesondere der Grad kapitalistischer Entwicklung zu sehen. Da die Gesellschaften Lateinamerika noch viel stärker von historischen Arbeitsregimes wie Sklaverei und quasi feudaler Ausbeutung der Indígenas geprägt sind, ist dementsprechend der Wert der Arbeitskraft wesentlich geringer. Die meisten Menschen mussten sich hier schon immer sich auf eigene Faust durchschlagen. In den siebziger Jahren benannte man diese Sphäre von „KleinstunternehmerInnen“ in postkolonialen gesellschaften erstmals als „Informellen Sektor“. Die Grundannahme lautete zunächst: Die entkolonialisierten Gesellschaften vermögen sich im Rahmen einer kapitalistischen Entwicklung zu modernisieren.
In Wirklichkeit traten den schon immer informell arbeitenden Menschen auch noch die hinzu, die aus formellen Arbeitsverhältnissen herausfielen. Als in den achtziger Jahren mit der Schuldenkrise die Entwicklungsstrategie der Importsubstitution zu Grabe getragen wurde, verloren hunderttausende von formell Beschäftigten ihre Arbeit und mussten sich mit informeller Arbeit über Wasser halten. In Argentinien kann man derzeit beobachten, wie sich seit der Finanzkrise des Jahres 2001 ähnliches wiederholt. Die Piqueterobewegung in Argentinien ist ein Beispiel, wie Menschen versuchen, sich gegen derartige Tendenzen politisch zu wehren (siehe Interview in diesem Schwerpunkt).
Im Prinzip hat der informelle Sektor die gleiche Funktion wie das „Reserveheer der Arbeitslosen“ in industrialisierten Staaten: die Lohnansprüche der ArbeiterInnen so gering wie möglich zu halten. Wie der salvadorianische Ökonom César Augusto Sención Villalona sagt: „Ein Mensch, der keinen Job hat und keine Unterstützung erhält und dennoch am Leben ist: Das ist ein Kleinunternehmer.“ In Brasilien zum Beispiel muss sich mittlerweile über 50 Prozent der Bevölkerung mit informeller Arbeit ihren Lebensunterhalt verdienen (siehe die Reportage in diesem Schwerpunkt).

Der Angriff auf die Löhne
Doch auch das Normalarbeitsverhältnis in den alten Industrienationen korridiert zusehends. Ausgangspunkt aller Krisenerscheinungen war und ist das Verhältnis von produktiver und unproduktiver Arbeit. Dies betrifft nicht, wie landläufig angenommen, das Produkt des Arbeitsprozesses selbst, sondern seine Verwertung. Es ist im Kapitalismus völlig egal, ob allgemein als sinnvoll Erachtetes wie zum Beispiel Babynahrung hergestellt wird oder Panzer beziehungsweise die tausendste Waschmittelvariante den Markt überschwemmt. Entscheidend ist nur, ob Mehrwert realisiert werden kann. Zunehmend aber bedarf dies – insbesondere in den alten Industrienationen – immer größerer für sich genommen unproduktiver Arbeitsquanta, die dazu zwar unerlässlich sind (Marketing, staatliche Bürokratie, Zirkulationsarbeit, Ausbildung, Kreditvergabe, Versicherungen, repressive Absicherung, Sozialtransfers, aus der Konkurrenz hervorgehende Überproduktionskapazitäten etc.), aber aus der Mehrwertmasse der produktiven Arbeit mitbezahlt werden müssen und sei es über Steuermittel. Über die Deregulierung öffentlicher Leistungen wird versucht, die Quote der produktiven Arbeit zu erhöhen. Für die Arbeitenden bedeutet dies, dass das „automatische Subjekt“ Kapital gezwungen ist, permanent die einzige Möglichkeit der Senkung der Produktionskosten in Anschlag zu bringen: Den Angriff auf die Löhne. Dies geschieht nicht nur über die Nettolöhne, sondern eben auch über die Aussetzung von Lohnzusatzleistungen. In Lateinamerika ist man da einerseits noch nicht so weit, andererseits auch schon weiter: Bedeutende Sozialtransfers hat es dort nie gegeben und über Lohnzusätze finanzierte Renten- und Arbeitslosenversicherungen standen nur vergleichsweise privilegierten ArbeiterInnen der industriellen Zentren zur Verfügung, und auch dort nur in geringerem Maße als in den alten Industriestaaten. Dieser historische „Rückstand“ verwandelt sich nun zu einem „Vorteil“ für die Produktivität: Schon lange arbeiten zum Beispiel die Beschäftigten bei VW in Brasilien und Mexiko produktiver – im kapitalistischen Sinne – als ihre KollegInnen in Europa, da sie gleiche Werte bei niedrigerem Lohn schaffen. Der aktuelle Streik bei VW do Brasil um eine größere Gewinnbeteiligung zeigt aber, dass auch Gegentendenzen zu herrschenden Ausbeutungsverhältnissen existieren. Die Idee also, die Lohnarbeit sterbe aus, bezieht sich lediglich auf eine als normal angenommene Form, die zumindest in bestimmten Regionen so nie existierte.
Die schon immer kaum vorhandenen sozialen Absicherungen und niedrigen Löhne in Lateinamerika schaffen dort ein riesiges Reservoir für vollständig prekarisierte Tätigkeiten. Viele Menschen in Lateinamerika versuchen deshalb in Industrienationen zu migrieren, um für vergleichsweise höhere Löhne zu arbeiten – und diesen beispielsweise ihren in El Salvador zurückgebliebenen Familien zu schicken (siehe Artikel in diesem Schwerpunkt). Andere bemühen sich, Wert, der in industrialisierten Gesellschaften geschaffen und als Lohn ausgezahlt wurde, abzuschöpfen. Der Tourismus ist solch ein Beispiel: Wo die Ferienindustrie Tourismus boomt, ziehen bald Menschen aus ärmeren Regionen hin, um sich selbst ein Einkommen zu sichern (siehe die Reportage in diesem Schwerpunkt).
Gerade in touristischen Zentren ist Prostitution eine Form, diesen Wert abzuschöpfen. Sie ist gleichzeitig eine, die besonders prekär und von Gewaltverhältnissen geprägt ist. Doch auch Prostituierte organisieren sich, um für ihren Beruf rechtliche Anerkennung und gesellschaftliche Akzeptanz zu erstreiten (siehe Artikel in diesem Schwerpunkt).
So zeigt sich, dass selbst in diesem bitteren Szenario Emanzipationsprozesse möglich sind. Das Verhältnis von immer größerem Reichtum an Gütern und zunehmendem Elend legt den Zwangscharakter der Kapitalakkumulation schonungslos frei. Adam Smith’ Begründung des Kapitalismus aus dem Mangel aller Güter und der daraus abgeleiteten notwendigen Ungerechtigkeit der Verteilung heraus kann keinerlei Gültigkeit mehr beanspruchen. Alle Gebrauchswerte, die die Menschen zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse benötigen, werden in immer größerer Menge und immer kürzerer Zeit produziert.
Dennoch gilt: Wer nichts außer seiner Arbeitskraft hat, muss diese verkaufen, um die zu eigenem Überleben notwendigen Güter kaufen zu können, auch wenn insgesamt immer weniger Arbeit benötigt wird, um diese zu produzieren. Dieser Grundwiderspruch bedeutet die gewalttätige Trennung der Menschen von den gesellschaftlichen Möglichkeiten eines „guten Lebens“. Verdeutlicht man sich, dass heutzutage die große Masse der abgeleisteten Arbeit keinerlei Bindung an die Bedürfnisbefriedigung von Menschen mehr hat, sondern lediglich einen spezifisch kapitalistischen Gebrauchswert, dann ist die Vorstellung einer auf höchstem Niveau konsumierenden Gesellschaft, in der jede und jeder nur geringe Arbeitsquanta dafür zu erbringen hätte, längst aktuell. Dies scheint zwar derzeit nicht auf der Tagesordnung zu stehen, aber die letzten Jahre haben bewiesen, dass der Durchmarsch des Kapitals durchaus auch wieder auf Widerstand stößt. Grund genug, insbesondere die Arbeitsverhältnisse in Lateinamerika mit einen Schwerpunkt genauer zu beleuchten. „Denn“, so schreiben Dombois und Pries, „wie in einem Brennglas bündeln sich in Lateinamerika grundlegende Probleme des Verhältnisses von Markt, Staat und anderen sozialen Institutionen in Regulierung von Wirtschaft und Erwerb, wie sie sich … in vielen Teilen des Globus stellen.“
Axel Berger/Thilo F. Papacek

Ähnliche Themen

Newsletter abonnieren