Arbeit in Lateinamerika | Brasilien | Deutschland | Nummer 587 - Mai 2023

Ein Konzern blamiert sich

VW leugnet die Verantwortung für Menschenrechtsverletzungen auf der firmeneige­nen Rinderzuchtfarm

Am 29. März scheiterten in São Paulo Verhandlungen zwischen Vertreter*innen von VW do Brasil, der brasilianischen Tochter des Volkswagenkonzerns, und der brasi­lianischen Staatsanwaltschaft über eine Entschädigung für die sklavenähnlichen Ar­beitsverhältnisse auf der VW-Rinderzuchtfarm Rio Cristalino. Die Staatsanwaltschaft hatte eine Zahlung von VW an die Geschädigten von rund 25 Millionen Euro vorge­schlagen. VW do Brasil verließ die Verhandlungen und erklärte, nicht weiter an einer Einigung interessiert zu sein. Der deutsche Mutterkonzern nahm eine Petition mit mehr als 3.000 Unterschriften zugunsten der Geschä-digten nur über den Presse­sprecher entgegen.

Von Günther Schulz

VW in São Paulo Druck aus der Zivilgesellschaft (Foto: Ennio Brauns)

Es ist vor allem dem Priester Ricardo Rezende von der Landarbeiterpastoral CPT zu verdanken, dass die skandalösen Verhältnisse auf der Rinderzuchtfarm von VW do Brasil nicht in Vergessenheit gerieten. Er dokumentierte die menschen-unwürdige Be­handlung der Arbeiter*innen bereits in den 1970er und 1980er Jahren, sammelte jahrelang Zeugenaussagen und Beweise und bewirkte bereits Anfang der 1980er Jahre eine polizeiliche Untersuchung. Diese zog allerdings keine weiteren Konse­quenzen nach sich. 2022 war es erneut Rezende, inzwischen Professor für Anthro­pologie und Menschenrechte, der eine Anhörung durchsetzte. Bereits 2019 hatte er dem Arbeitsministerium (MPT) ein detailliertes Dossier ausgehändigt und nach drei­jähriger Auswertung fiel endlich von staatlicher Seite die Entscheidung, dass die auf­geführten Sachverhalte eine nähere Untersuchung rechtfertigen. 2022 griff die brasi­lianische Bundesstaatsanwaltschaft die Ereignisse auf der Farm auf und eröffnete am 19. Mai ein Ermittlungsverfahren gegen Volkswagen, dem am 14. Juni 2022 eine erste Anhörung in Brasília folgte. Diese fand über Brasilien hinaus große Aufmerk­samkeit. In Deutschland berichteten unter anderem der Spiegel, die Süddeutsche Zeitung und der Weltspiegel der ARD. VW musste zu den Vorwürfen Stellung bezie­hen, die Hoffnung auf eine baldige Einigung bestand. Anklagepunkte waren Sklaven­arbeit, Menschenhandel und systematische Menschenrechtsverletzungen in hunder­ten von Fällen.

Um für das Treffen am 29. März 2023 eine Entscheidung herbeizuführen und eine weitere Verzögerungstaktik von VW zu unterbinden initiierte die Brasilieninitiative Freiburg e.V. Anfang Februar bei campact eine WeAct-Petition: „VW soll Menschen­rechtsverletzungen anerkennen.“ Binnen kurzer Zeit kamen fast 3.000 Unterschriften zusammen. Weder der im VW-Vorstand zuständige Herr Dr. Döss noch die Men­schenrechtsbeauftragte Frau Dr. Waltenberg – 2022 hatte VW die Stelle einer Menschenrechtsbeauftragten eingeführt – standen jedoch für die Annahme zur Verfü­gung, allein der VW-Pressesprecher nahm am 24. März die Petition in Wolfsburg ent­gegen. Auch die zeitgleich geplante Übergabe in São Paulo gestaltete sich anders als erwartet: Vertreterinnen verschiedener NGO waren anwesend, die VW-Delega­tion ging wortlos an ihnen vorüber, eine Annahme der Petition wurde abgelehnt. Das Treffen selbst brachte erneut keine Einigung, im Gegenteil. Vertreter*innen von VW do Brasil verließen den Verhandlungstisch und erklärten nicht weiter an einer Eini­gung interessiert zu sein: VW sei nicht verantwortlich für die Geschehnisse auf der Farm. Der auf dem Tisch liegende Vorschlag der Staatsanwaltschaft über eine Ent­schädigungszahlung von umgerechnet rund 25 Millionen Euro fand keine Beachtung. Diese sollte den bereits identifizierten geschädigten Arbeitern bzw. deren Familien zugutekommen sowie der Einrichtung eines Opferfonds dienen. Der leitende Staats­anwalt Rafael Garcia sagte nach der Begegnung im Gespräch mit der Tageszeitung Folha de São Paulo: „Wir bedauern die Haltung von Volkswagen, welche die Arbeit­nehmer, die mehr als zehn Jahre lang versklavt und in ihrer Würde und Freiheit be­schnitten wurden, nicht respektiert.“

Der Auseinandersetzung um die Entschädigungszahlungen an die Geschädigten auf der VW-Rinderzuchtfarm ist ein jahrzehntelanges Tauziehen um Entschädigungen für die während der Militärdiktatur begangenen Menschenrechtsverletzungen in den VW-Werken vorangegangen. Es dauerte bis ins 21. Jahrhundert, bis VW sich – notgedrungen – seiner Vergangenheit in Brasilien stellen musste. Anlass war der am 10. Dezember 2014 nach zweijähriger Arbeit überreichte Bericht der bra­silianischen Wahrheitskommission an die damalige Präsidentin Dilma Rousseff. In diesem dreibändigen Bericht wurden die Menschenrechts-verletzungen während der Militärdiktatur 1964 bis 1985 aufgearbeitet.

Der Bericht legte sowohl die Kollaboration mit der Militärdiktatur, die Verfolgung ge­werkschaftlich aktiver Arbeiter im VW-Werk in São Bernardo do Campo, als auch die sklavenähnlichen Verhältnisse auf der VW-Rinderzuchtfarm im Bundesstaat Pará of­fen. Bereits 1983 vorliegende Dokumente, die jedoch damals keine Beachtung fan­den und die von menschenunwürdigen Zuständen berichteten, sollten bestätigt wer­den. Eine Reaktion von VW wurde notwendig und so beauftragte der Konzern 2016 den Historiker Christo­pher Kopper mit der Aufarbeitung der Vorwürfe. Dieser recherchierte so­wohl zur Zusammenarbeit mit der Militär-regierung und der Verfolgung kritischer Ge­werkschafter im Automobilwerk in São Bernado do Campo (Bundesstaat São Paulo), als auch zu den Vorwürfen in Bezug auf die VW-Rinder-zuchtfarm Rio Cristalino in Amazonien. Sein Urteil war eindeutig: „Das Management von VW do Brasil verhielt sich gegenüber der Militärregierung uneingeschränkt loyal und teilte ihre wirtschafts­politischen und innenpolitischen Ziele.“

Was die Vorwürfe gegenüber der Behandlung der Beschäftigen im VW-Werk betraf, erklärte sich VW 2020 schließlich dazu bereit, umgerechnet rund 5,5 Millionen Euro an Ent­schädigung zu bezahlen. Damit erhielten ehemalige Gewerkschafter, die während der Militärdiktatur nachweislich gefan-gen, gefoltert oder verfolgt wurden, eine späte finanzielle Entschädigung; auch ein Opferverband wurde eingerichtet. Für VW war da­mit dieses dunkle Kapitel der Firmengeschichte abge-schlossen.

„Vergessen“ hatte man allerdings die Vorkommnisse auf der VW-Rinderzuchtfarm, die Historiker Kopper ebenfalls in seinem Bericht belegte. VW hatte in den 1970er Jahren beschlossen, nicht nur Autos zu produzieren, sondern sich auch in der Rin­derzucht zu betätigen. 1978 erwarb der Konzern die Fazenda Rio Cristalino mit 139.000 Hektar Land im Bundesstaat Pará, wo sich die Arbeitsbe-dingungen für die nicht festan­gestellten Arbeiter als prekär erweisen sollten. Für das Abholzen, Niederbrennen und Um­zäunen beauftragte das Firmenunternehmen Subunternehmer, die sogenannten gatos (Kater): „Zu den bevorzugten Opfern der gatos gehörten verschuldete Wan­derarbeiter, deren Schulden sie übernahmen. Da von dem Lohn nach Abzug der Ver­pflegung kaum Geld zum Abzahlen der Schulden übrig blieb, gerieten verschuldete Wanderarbeiter in eine längerfristige Schuldknechtschaft.“ Laut Kopper war die Lei­tung der VW-Farm zweifellos mit den Verhältnissen auf dem ländlichen Arbeits­markt vertraut und kannte die ausbeuterischen Praktiken der gatos.

Verfehlungen in der Militärdiktatur – Verantwortung wird bis heute abgelehnt

Die zwischen 600 und 1.200 Männer mussten ihre Unterkunft in Zelten, ihre Verpfle­gung und ihren Transport selbst bezahlen. Damit waren sie von Beginn an hoch ver­schuldet und durften die Farm nie verlassen. Private Sicherheitsdienste hinderten sie daran. In einem Interview mit den Brasilien Nachrichten 1986 bestätigte der ehemali­ge Sicherheitsbeauftragte der VW-Farm, Adão, dass zeitgleich mehrere Subunterneh­men tätig waren und dass es vorkam, dass Menschen flohen. Die Tatsache, dass 90 Prozent der Farmarbeiter Analphabeten gewesen seien, habe den Umgang mit ihnen erleichtert, ihre Rechte hätten sie nicht gekannt. „Auch wenn es sich nicht um wirkli­che Sklaven handelte und VW do Brasil nicht unmittelbar für ihre katastrophalen Ar­beitsbedingungen verantwortlich war, unterließ VW alles, um die Lage der Wander­arbeiter zu verbessern“, stellte Kopper fest. VW do Brasil entschloss sich 1986 schließlich zum Verkauf der Fazenda Rio Cristalino. Zum einen wurde wohl ein Imageschaden befürchtet, zum anderen blieben die erhofften Gewinne aus.

Für den engagierten Vertreter des Arbeitsministeriums, Staatsanwalt Rafael Garcia, gab es nach Sichtung der Unterlagen keine Zweifel, dass „VW immer wusste, was auf der Fazenda geschah, zum einen weil VW der Besitzer war und zum zweiten da der Zugang zur Fazenda und der Verbleib auf ihr unter voller Kontrolle der VW-Ver­waltung stand“, so Garcia gegenüber Agência Brasil. Zur Tatsache des be­waffneten „Sicherheitsdienstes“, der die Arbeiter*innen daran hinderte, die Fazenda zu verlassen, meinte Garcia: „Ein derartiges Verhalten wäre ohne Zustimmung der für die Fazenda Verantwortlichen unmöglich gewesen.“ Es stand und steht für ihn außer Frage, dass VW Verantwortung zu übernehmen hat.

Dagegen lehnt der ehemalige Verant­wortliche der VW-Farm, Brügg, bis heute jede Verantwortung ab. „Die Vorwürfe sind völliger Blödsinn“, sagte er am 22. Mai 2022 im Weltspiegel der ARD. Auch die Konzernleitung von VW weigert sich bis heute, die unhaltbaren Zustände der damaligen Zeit anzuerkennen. Angesichts der nur noch wenigen Überlebenden ist das besonders skandalös. „Statt die Opfer der VW-Sklavenarbeit auf der Rinderzuchtfarm endlich nach all den Jahren zu entschädigen, will Volkswagen auf der am 10. Mai in Berlin anstehenden Jahres­hauptversammlung des Konzerns die Bezüge, Boni und Gehaltszahlungen für den Vorstand erhöhen“, kritisiert Christian Russau, Vorstandsmitglied des Dachverbands der Kritischen Aktionär*innen aus Köln. „In der Summe wären das potentielle Erhö­hungen von 27 Millionen Euro, dies entspricht ziemlich genau der von der Staats­anwaltschaft geforderten Entschädigung. Dieses Geld steht den ehemaligen Skla­venarbeitern zu!“

Nachdem VW do Brasil die Gespräche abgebrochen hat, ist jetzt der Mutterkonzern gefragt. VW sollte schnellstens einer Vereinbarung zustimmen, die Verzö­gerungstaktik aufgeben und endlich dieses düstere Kapitel seiner Firmengeschichte zum Ab­schluss bringen. Eine Stellungnahme des Mutterkonzerns in Wolfsburg auf die Ereignisse in São Pau­lo am 29. März sowie auf die von fast 3.000 Bürger*innen unterzeichnete Petition lag, trotz mehrfacher Nachfrage, bis zum Redaktionsschluss nicht vor.

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