Nachruf | Nummer 241/242 - Juli/August 1994

Wenn es schon nicht mehr darauf ankommt

Wenn es schon nicht mehr darauf ankommt

Am 1. Juli wäre er 85 Jahre alt geworden. Rund einen Monat vor seinem Ge­burtstag starb der uruguayische Schriftsteller Juan Carlos Onetti am 30. Mai in Madrid.

Brigitte Müller

“Er war ein besonders hellsichtiger Mensch, der im Bett lebte und dachte, und er hatte so viel Hochachtung vor dem Tod, daß er ihn schon seit einiger Zeit übte,” so der spanische Schriftsteller Manuel Vicent über Onetti. Daß Onetti in den letzten Jah­ren seine Madrider Dachwohnung kaum noch verließ, es fast unmöglich war, ihn zu einem Interview zu bewegen, daß er viermal verheiratet war, viel rauchte und gerne Whisky trank, findet sich in fast je­dem der unzähligen Nachrufe, mit denen Anfang Juni die internationale Presse den alten Herrn würdigte – vor allem aber sein literarisches Werk, seine Romane und Er­zählungen, mit denen er zu einem der be­deutendsten lateinamerikanischen Autoren avancierte. Zwar ist er dem deutschen Pu­blikum weit weniger bekannt als die jün­geren “Boom”-Schriftsteller, die mit dem “magischen Realismus” den literarischen Markt eroberten, doch sagt dies mehr über die Sehnsüchte der LeserInnen nach Exo­tik aus denn über das Werk des Autors. Die erste Übersetzung erscheint hierzu­lande 1976 (“Die Werft”, Frankfurt/M. 1976), doch erst in den 80er Jahren gehen seine Bü­cher häufiger über den Laden­tisch. 1980 erhält Onetti in Spanien den “Premio Cer­vantes”, die höchste Aus­zeichnung für spanischsprachige Literatur. Auf die Fra-ge, was die Preisverleihung für ihn be­deute, sagte er lapidar “zehn Millionen Peseten”, eine Antwort, die auf distin­guierte Literaten geradezu beleidi­gend wirkte. Dabei hat er es oft wieder­holt: Es liege ihm nichts daran, Schrift­steller zu sein, nur das Schreiben sei ihm wichtig .
Santa María – das Universum
So gut wie alles, was Onetti geschrieben hat, ist von geradezu niederschmetternder Trostlosigkeit, und es ist fast unmöglich, zwei seiner Romane hintereinander zu le­sen, ohne dem Alkohol oder zumindest in tiefe Melancholie zu verfallen – “Unsere Ver­gangenheit mochte schmutzig, viel­leicht unumgänglich gewesen sein. Aber die Gegenwart war, wie gewöhnlich, schlimmer”.
Seine Themen: Santa María, die erfundene Stadt irgendwo zwischen Buenos Aires und Montevideo, und immer wieder Santa María. Mittelmäßigkeit, Dekadenz, Verlo­genheit, Langeweile, zerrüttete Ehen, die alltägliche Korruption, gestrandete Exi­stenzen. Dieselben Figuren tauchen auf, die gleichen Straßen und Plätze – die inter-textuellen Verweise stricken die sanmaria-nische Welt immer dichter. Doch ist auch Santa María eine Illusion, ein Para­dies der Abgründe. In “Lassen wir den Wind spre­chen” (Franfurt/M. 1986; “Dejemos hablar al viento”, Barcelona 1979) klärt der eine den anderen darüber auf, daß Santa María und all seine Bewohner die Erfindung ei-nes Dritten sind: “Das steht geschrieben, weiter nichts. Es gibt keine Beweise”. Der andere kehrt aber doch nach Santa María zurück und erfährt, daß auch der Dritte, der Stadtgründer, nur eine Romanfigur ist. Der ihm dies eröffnet, mißt die Zeit in Sei-ten. “Oh, alte Ge­schichte. Wir waren eine Zeitlang in einem Haus in den Dünen. Seltsamer Typ. Das liegt viele Seiten zu-rück. Hunderte.” Durch solche literar-is­chen Tricks gelingt es Onetti, den Rea-lismus als Fiktion zu entlarven, ohne ihn als erzählerisches Prinzip aufzugeben. Am Ende von “Lassen wir den Wind spre-chen” steht die Zerstörung Santa Marías durch ein Feuer, das, vom Wind ange-facht, die ganze Stadt erfaßt. Erstaunlich-erweise läßt Onetti sie in seinem letzten Roman wieder auferste­hen, mit einer klei-nen orthographischen Variante: Santa-maría. “Cuando ya no importe” (Wenn es schon nicht mehr darauf ankommt) er-scheint 1993, eine Art Tagebuch, in dem der Erzähler gesteht: “Ich sah, daß die To-talität fast aller Dinge auf Santamaría und die Ereignisse dort zu­rückgeht. Und daß, geheimnisvollerweise und ohne große Lust, es einzugestehen, das einzige, woran mir wirklich liegt, diese Stadt ist, dieser Ort, dieses Provinz­nest”. Gleich auf der ersten Seite kom­mentiert der Erzähler als Alter Ego des Autors auch ein viel-gelob­tes literaturtheoretisches Stecken-pferd: “… dieser Witz, den die Rechten für uni­ver­sell halten, des­sen Anhänger sie gut zu be­zahlen wissen und den sie Post-moderne getauft haben”.
Autor, Portier und Kellner
Seine erste Erzählung veröffentlicht Juan Carlos Onetti 1932 in der Tageszeitung “La Prensa” in Buenos Aires, wo er da­mals lebte. Wieder in Montevideo, über­nimmt er 1939 einen Redaktionsposten in der neugegründeten Wochenzeitschrift “Marcha”. Zuvor arbeitet er als Portier, Kellner und Verkäufer, später dann bei der Nachrichtenagentur Reuter und schließlich als Direktor der städtischen Bi-bliotheken in Montevideo. Kurz nach dem Militärputsch in Uruguay wandert er für einige Monate ins Gefängnis: er hatte ei-ner Jury angehört, die eine – in den Augen der Militärs verwerfliche – Erzählung prä-mierte. Ab 1974 lebt Onetti in Madrid, seit 1982 in seinem Bett, überzeugt, daß “draußen” sowieso nichts passiere, was der Aufmerksamkeit wert wäre. Und San-ta María? Im letzten Jahr noch einmal auf-erstanden, auch “wenn es schon nicht mehr darauf ankommt”. Für Dich, viel­leicht, Onetti. Ich jedoch gehe zum Regal, schlage das Buch noch einmal auf und da ist sie wieder – die Stadt Santa María. Vielleicht kommt es eben doch darauf an.

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