Wer hat Angst vorm illegalen Mann?
Erdrutschsieg für den republikanischen Gouverneur Pete Wilson und das rassistische Referendum 187
Die WahlkampfstrategInnen des Republikaners Wilson (des ehemaligen und zukünftigen Gouverneurs von Kalifornien) entwarfen letztes Jahr ein Wahlprogramm, das von den wirtschaftlichen Problemen ablenken und zu zwei äußerst emotionionsgeladenen Problemen hinlenken sollte: Immigration und Gewalt. Die Schuldigen waren schnell gefunden: Die Verantwortlichen für das Loch im Staatshaushalt seien die illegalen ImmigrantInnen – oder wie sie sich selber lieber nennen – die ausweislosen ImmigrantInnen, los indocumentados. Und so startete Pete Wilson im August letzten Jahres mit einem dramatischen offenen Brief an Bill Clinton die SOS-Kampagne (Save Our State) und sammelte mehr als 600.000 Unterschriften für die Durchführung des Referendums 187. Er übertraf damit bei weitem die Mindestanzahl von 385.000 Unterschriften und erhielt mehr Unterschriften für seinen Gesetzesvorschlag, als jemals für eine bundesstaatenweite Kampagne gesammelt worden waren.
Die Sprache des SOS-Antrags ist durch und durch rassistisch. Es geht nicht um illegale EinwanderInnen an und für sich, sondern um solche, die kriminell sind und die US-AmerikanerInnen allein durch ihre Anwesenheit bedrohen. Der Gesetzesvorschlag 187 beginnt mit einem Lamento: “Die Menschen aus Kalifornien erklären, daß sie aufgrund der Anwesenheit illegaler Ausländer in ihrem Staat ökonomische Härten erlitten haben und weiterhin erleiden, und daß sie durch das kriminelle Verhalten der Eindringlinge persönliche Verletzungen und Schaden erlitten haben und weiterhin erleiden; und daß sie ein Recht darauf haben, daß der Staat sie gegen illegale Einwanderer beschützt.”
Die möglichen Folgen
Nach Inkrafttreten der Gesetzesänderung sollen alle EinwandererInnen ohne gültige Papiere aus dem öffentlichen Erziehungs- und Gesundheitssystem ausgeschlossen werden. Einzig Notfällen soll weiterhin Erste Hilfe geleistet werden. Ermöglicht werden soll dies durch repressive Kontrolle durch ErzieherInnen, LehrerInnen, ÄrztInnen und Pflegepersonal, also durch sogenannte Vertrauenspersonen. Eine Gruppe von ÄrztInnen wehrte sich lauthals gegen diese Bespitzelung ihrer PatientInnen und warnte zu Recht davor, daß unter diesen Bedingungen viele nur noch in absoluten Notfällen kämen und so die Gefahr bestehe, daß hochansteckende Krankheiten unbehandelt blieben.
Der durchschlagende Wahlerfolg vom Proposal 187 zeigt, wie sehr dieses Thema den Leuten unter den Nägeln brennt. Selbst gestandene DemokratInnen unterstützten dieses Referendum, um ihren Unmut zu äußern. Viele SteuerzahlerInnen sind einfach erbittert darüber, daß Neuankömmlinge von dem System zu profitieren scheinen, für das sie selbst immer nur zahlen, aber kaum etwas herauskriegen. So sind die öffentlichen Schulen in einem derartig katastrophalen Zustand, daß Eltern, die sich dies leisten können, ihre Kinder auf private Einrichtungen schicken. Das verringert freilich nicht die Steuern, die für öffentliche Einrichtungen gezahlt werden müssen. Gouverneur Wilson machte sich dieses Manko in seinem Wahlkampf zunutze, indem er einfach folgendes behauptete: Werfe man die ganzen “illegalen” Kinder aus den öffentlichen Schulen, gäbe es genügend Geld, um jedem verbleibenden Kind einen Computer zur Verfügung zu stellen: eine infame, unhaltbare Idee, die bei den WählerInnen aber trotzdem sehr gut ankam.
Latinos/as als Sündenböcke
Ein Abbau dieser tiefverwurzelten Vorurteile – “Kalifornien geht es nur deswegen jetzt so schlecht, weil seit Ewigkeiten diese Immigranten aus dem Süden kommen und das amerikanische Gesundheits- und Sozialsystem ausnutzen” – könnte von Seiten der Latinos/as mit sinnvoller Öffentlichkeitsarbeit erreicht werden. Diese müßte versuchen, mit Fakten die bestehenden Vorurteile aus der Welt zu schaffen. Vorsichtigen Schätzungen zufolge halten sich in Kalifornien 1,5 Millionen ausweislose ImmigrantInnen auf. Umbekannt ist aber, wie hoch der Anteil der verschiedenen Ethnien liegt. Denn neben den Latinos/as, die in erster Linie aus Mexiko, Guatemala, El Salvador und Nicaragua kommen, gibt es viele asiatische EinwanderInnen und eine Gruppe, von der man wegen ihres assimilierten Äußeren kaum spricht: KanadierInnen.
Immer wieder kommt die erhitzte und emotionale Debatte darauf, wie viele lateinamerikanische Frauen in die USA kämen, nur um Kinder zu bekommen und völlig umsonst Schwangerschaftsversorgung einzustreichen. Diese Kinder wären immerhin qua Geburt US-AmerikanerInnen. Es genügt offenbar, daß es diese Fälle gibt und daß die durchschnittlichen US-AmerikanerInnen sich durch sie bedroht und ausgenutzt fühlt. Ungeachtet dessen hat ein Großteil der gut bis sehr gut Verdienenden keine Skrupel, solch illegale Arbeitskräfte weiterhin in ihren Haushalten, Gärten und Betrieben zu beschäftigen – ohne Papiere, ohne Steuern, ohne Abgaben.
Unterstützung erhielt das Proposal 187 aber auch aus dem sogenannten Ghetto. Argumente, daß die Jobs, die die Latinos/as annehmen, ansonsten sowieso keiner will, treffen für Stadtteile wie South-Central in Los Angeles nicht zu. In diesem wahrscheinlich ärmsten Slum von Los Angeles, der im April vor zwei Jahren durch die riots zu trauriger Berühmtheit gelangte und seither von Weißen gemieden wird wie die Pest, hat eine Menge Afro-AmerikanerInnen für das Referendum 187 gestimmt. Denn hier, wo jeder Job rar ist, glauben die Leute, daß die ImmigrantInnen bevorzugt werden. Man nimmt auch an, daß mindestens die Hälfte der legalen Latinos/as für die Verabschiedung des umstrittenen Referendums gestimmt haben. Ihre Argumentation beinhaltet eine gewisse Logik: Wenn sie sich den Schikanen der INS unterworfen haben und jetzt brav ihre Abgaben zahlen, warum sollen die anderen Neuankömmlinge – wenn sie wirklich in den USA bleiben wollen – sich nicht dem gleichen Procedere aussetzen?
Viele linke Intellektuelle sehen die EinwanderInnen aus dem Süden hingegen als eine neue, starke, unternehmerische Kraft, die eventuell Kalifornien die wirtschaftliche Erneuerung bringen könnte, die sich der Bundesstaat so dringend herbeisehnt. Kalifornien ist seit Anfang der neunziger Jahre durch die tiefste Rezession seit den Tagen der Großen Depression in den dreißiger Jahren gegangen. Stichpunkte dazu sind der Zusammenbruch der Rüstungsindustrie und die Schließung der Aerospace-Werke, bei der Hunderttausende ihren Job verloren und die eine Massenflucht von kleinen Unternehmern und Angestellten nach sich zog. Zur Zeit ziehen mehr Menschen aus dem Bundesstaat Kalifornien weg als sich neue ansiedeln.
Aus der politischen Verschlafenheit erwachen
Offen bleibt die Frage, ob der Antrag überhaupt verfassungsrechtlich in Ordnung ist. Vor der Einführung des Proposals 187 versprechen sowohl GegnerInnen wie BefürworterInnen dieses Antrages, bis vor das Oberste Verfassungsgericht zu gehen. Der springende Punkt ist, daß die Formulierung des Referendums von “illegalen Personen” ausgeht. GegnerInnen argumentieren mit den grundlegenden Menschenrechten, nach denen es keine “illegalen” menschlichen Individuen geben kann. Ein ähnlich formulierter Gesetzesamtrag wurde in Texas unlängst als nicht verfassungsmäßig abgelehnt. Insofern ist für die GegnerInnen noch nicht aller Tage Abend.
Trotzdem machte sich am Tag nach den Wahlen erst einmal eine gewisse Fassungslosigkeit breit. Latinos/as in Kalifornien, ob nun legal oder illegal im Lande, verspüren die Notwendigkeit, sich zu organisieren. Selbst für diese wichtigen Wahlen waren die Latinos/as nur schwer zu motivieren. Die spanischsprachige Tageszeitung ‘La Opinion’ geht zwar davon aus, daß 1,75 Millionen lateinamerikastämmige Menschen sich für die Wahlen registrieren ließen, aber höchstens 900.000 auch an den Wahlen teilnahmen. Trotzdem ist dies ein 50prozentiger Zuwachs an registrierten Wählerstimmen gegenüber den Wahlen von 1990. Die heftigsten Proteste, sowohl vor als auch nach der Wahl, gingen und gehen von den SchülerInnen aus. Und deren explosive Sprengkraft wird von Seiten der Behörden ziemlich gefürchtet, da man Ausschreitungen wie im April 1992 verhindern will. Bislang verliefen alle Proteste nach der Wahl friedfertig, einzig in Mexiko wurde ein ‘Mc Donalds’ als Symbol des Yankee-Imperialismus auseinandergenommen.
Es gibt in Los Angeles viele kleinere NGOs, die mit Hilfsbedürftigen aus bestimmten Ländern zusammenarbeiten. Unterschiedliche politische Hintergründe, geformt durch die Bedingungen in den jeweiligen Herkunftsländern, machen eine Zusammenarbeit der verschiedenen Organisationen aber oft sehr schwierig. Daß diese Haltung aber auch in Krisenzeiten wie in der heißesten Wahlkampfzeit mit der vehementen Polemik für das Referendum 187, nicht aufgegeben wird und die spanischsprachige Comunidad nicht etwas enger zusammenrückt, ist äußerst schade.
Business as usual
Sowohl bei der Gesundheitsversorgung als auch in den Schulen herrschte am Mittwoch, dem 9. November, einen Tag nach den Wahlen, business as usual. Fehlende Instruktionen einerseits, andererseits aber auch der Unwillen insbesondere des Gesundheitspersonals, sich nunmehr als Spitzel der INS zu betätigen, werden wohl auf kurze Sicht nicht dazu führen, daß das Referendum 187 wirklich eingesetzt und seine Vorschriften befolgt werden. Aber die Angst vor möglicher Denunzierung geht um, und die Verunsicherung ist groß.
Am zweiten Tag nach den Wahlen zeichnete sich auf bundesstaatlicher Ebene eine multiethnische Kampagne des zivilen Ungehorsams ab, die die Einführung von “187” um jeden Preis verhindern will. Die erste Aktion dieser Allianz aus asiatischen, afroamerikanischen und lateinamerikanischen Gruppen, die sich “Gerechtigkeit für alle” nennt, war das Verteilen von Informationsheften, die zum Engagement für die Bewegung aufrufen. Diese Bewegung will die Latinos/as aus deren politischer Verschlafenheit erwecken. Voller Selbstkritik beschreiben RepräsentantInnen aus dem Gewerkschafts- und Arbeitnehmerbereich die Latino-Gemeinde in den letzten Jahren als “schlafenden Giganten”.
Trotzdem ist Kalifornien über Nacht, wie die liberale Tageszeitung ‘Los Angeles Times’ schreibt, nicht mehr das “Land aller Möglichkeiten”, ist weniger “Schmelztiegel”, sondern mehr “wir” und “ihr” geworden.