Literatur | Nummer 289/290 - Juli/August 1998

Wider die literarische Dienstleistung

Was politische Literatur in Nicaragua war und was aus ihr wurde

Um generalisierende Aussagen zum Debattenthema „Politische Literatur“ waren die Beiträge von Carlos Monsiváis und Mario Delgado Aparaín bemüht, die wir in den LN 286 und 287 veröffentlichten. Cristina Nord beschäftigt sich in ihrem Artikel mit konkreten Beispielen und beschreibt die literarische Landschaft Nicaraguas. Dabei wird deutlich, daß das Ende „literarischer Dienstleistung“ für politische Projekte wie das sandinistische einer neuen Generation von Schriftstellern durchaus Chancen eröffnen.

Cristina Nord

Nicaragua – territorio libre“: So lautete in den achtziger Jahren die Formel, die wie keine zweite Stolz und Selbstbewußtsein des mittelamerikanischen Landes spiegelte. „Nicaragua – freies Gebiet“: Das war das in Worte gefaßte Pendant zu Sandinos Schattenriß, der als Graffito an Häuserwänden und Mauern der Nationalgarde trotzte; das stand für die Überwindung der Somoza-Diktatur, für Selbstbestimmung und nationale Souveränität, für die Umverteilung gesellschaftlichen Reichtums, für ein Ende von Willkür und Folter. Und es stand, versehen mit dem Zusatz „libre de analfabetismo“ („frei von Analphabetentum“), noch für etwas anderes: für die mit viel Euphorie und Idealismus vorangetriebene Alphabetisierungskampagne, neben der Agrarreform eines der ersten Projekte, das die siegreichen Sandinisten in Angriff nahmen.
Als Truppen der Befreiungsbewegung im Juli 1979 die Hauptstadt einnahmen und der Diktatur ein Ende bereiteten, konnte die Hälfte der Bewohner und Bewohnerinnen Nicaraguas weder lesen noch schreiben. Um dies zu ändern, wurden noch in den unmittelbar auf den Triumph der Revolution folgenden Monaten Studenten und Schüler in die ländlichen Gebiete Nicaraguas entsandt. Zehntausende beteiligten sich an der Kampagne, die den campesinos und campesinas einen Schlüssel zur Welt der Schrift in die Hände gab. Mit großem Erfolg: Mitte der achtziger Jahre war die Analphabetenrate auf 13 Prozent gefallen und lag damit unter lateinamerikanischem Durchschnitt; im Nachbarland Honduras betrug die Rate 1990 noch fast 27, in Guatemala knapp 45 Prozent.

Literatur unters Volk

Nun ging es den jugendlichen Lehrern und deren Auftraggebern nicht allein darum, die Fähigkeit zum Schreiben und Lesen zu vermitteln. Es galt darüber hinaus, die Literatur an und unters Volk zu bringen. Auch dieses Ansinnen hallte im emphatischen „territorio libre de analfabetismo“ wieder: Rezeption und Produktion literarischer Texte sollten nicht länger Angelegenheit, nicht länger Privileg einer gebildeten Bürgerschicht sein. Bauern, Guerilleros, Marktfrauen, Handwerker – sie alle sollten, eben noch des Schreibens unkundig, als Leser wie als Autoren, Zugang zu den Gefilden der Lyrik und Prosa haben. Die Dichterschulen eines Ernesto Cardenals, im hintersten Winkel des mächtigen Nicaragua-Sees, auf Solentiname, eingerichtet, unternahmen einen Vorstoß in diese Richtung; der Vormarsch der Testimonialliteratur tat ein Übriges, damit das geflügelte Wort, ein jeder sei Dichter in Nicaragua, Wahrheit würde.

Militante Literatur

So fingen sie an zu schreiben: die comandantes, die campesinos, die guerrilleros und die Lektoren, die Texte wie Omar Cabezas „Die Erde dreht sich zärtlich, Compañera“ („La montaña es algo más que una inmensa estepa verde“, 1982) publizierbar machten. Zwei große Verlagshäuser, „Vanguardia“ und „Nueva Nicaragua“, entstanden; Tomás Borge brachte mit „La paciente impaciencia“ seine Memoiren an den Mann, Gioconda Belli mit „La mujer habitada“ eine autobiographisch angehauchte education sentimentale an die Frau, selbst der sonst für literarische Raffinesse bekannte Sergio Ramírez versuchte sich in Schlachtbeschreibung und Heldenlied („La marca del Zorro“), und nur wenige Autoren – etwa der Soziologe Orlando Núñez mit seinem 1990 erschienenen Roman „Sábado de gloria“ – wagten einen kritischeren Blick aufs allseits gefeierte sandinistische Projekt. So war die Literatur der achtziger Jahre vor allem eines: militant in einer Weise, wie sie der Urugayer Mario Delgado Aparaín vor einigen Wochen an dieser Stelle umriß: „Militante Literatur war in unseren Ländern immer mehr als nur politisiert – parteiisch eben. Und als solche fügte sie sich ein in einen wie geschmiert laufenden Mechanismus von Veröffentlichungen, Vertrieb und Lektüre. Militante SchriftstellerInnen und militante LeserInnen. Der Schriftsteller verschrieb sich mit all seinem Sein einer bestimmten Richtung des Schaffens und umgekehrt.“ Eine Literatur ohne politischen Anspruch, ohne das mehr oder minder direkte Ziel, dem Sandinismus zur Seite zu stehen: Das war kaum denkbar. Cardenal, nach Rubén Darío größter Poet des Landes, wußte es schon 1972: „Literatur nur um der Literatur willen führt zu nichts. Literatur muß einen Dienst leisten. Sie muß – wie alles andere auch auf der Welt – dem Menschen zu Diensten sein.“
„Nicaragua – territorio libre de analfabetismo“: Von der Vision einer durch und durch literarisierten Gesellschaft, in der all die, die zu Schweigen und Nichtigkeit verdammt waren, zu Stimme und Schrift kommen würden, ist acht Jahre nach der Wahlniederlage der Sandinisten nicht viel geblieben. Vor vier Jahren, als ich einige Monate in Managua verbrachte, stand am Rand der Carretera Sur, der Ausfallstraße Richtung Masaya, eine riesenhafte Werbetafel. Vielleicht steht sie dort noch heute, vielleicht leuchten dort noch immer die roten Lettern auf gelbem Grund, die damals verkündeten: „Nicaragua – territorio Maggi“. Nicaragua, Gebiet eines Suppenwürfelherstellers – nirgends wird sinnfälliger, welche Veränderungen das Land durchgemacht hat, nirgends tritt deutlicher zutage, wieviel Zynismus bei dieser Transformation im Spiel war und ist.
In dem Maße, in dem die Errungenschaften der Sandinisten zurückgenommen wurden, starb auch die literarische Infrastruktur; „Nueva Nicaragua“ und „Vanguardia“ existieren nicht mehr, arrivierte Autoren wie Sergio Ramírez publizieren im Ausland; Bibliotheken, Lesepublikum, billige Bücher – all das ist nicht länger vorhanden, und die Analphabetenrate steigt. In einer gegenläufigen Bewegung jedoch konnte etwas Neues entstehen, etwas Neues und Aufsehenerregendes, etwas, was aus dem Schatten der Revolutionsschreiber und -schreiberinnen hinaustritt und deren Arbeiten um Längen schlägt. In Kleinstverlagen wie „El Zorrillo“ oder „Printart“, in Zeitschriften wie „400 Elefantes“ oder „Artefacto“ – allesamt auf viel Enthusiasmus und ehrenamtliche Arbeit gegründet – meldet sich eine neue Generation von Autoren und Autorinnen zu Wort. „Generation der Suche“ – so nennt sie der 1965 geborene Leonel Delgado, dessen Erzählband „Road Movie y otros cuentos“ bei seinem Erscheinen vor zwei Jahren die Rezensenten begeisterte. Eine Generation, die Gewißheiten und Ziel verloren habe, der das Wissen um richtig und falsch abhanden gekommen sei, die aber auch bereit sei, den Orientierungsverlust als Chance zu begreifen.

Fragen stellen, statt Mythen zu entwerfen

So unterschiedlich die Arbeiten von Autoren wie Delgado, Daniel Pulido, Marisela Quintana, Patricia Belli oder Juan Sobalvarro im einzelnen sein mögen, so zeichnet sie doch eines aus: die Bereitschaft zum kritischen Blick, die Bereitschaft, den Finger in die Wunde zu legen, und wenn es noch so schmerzen mag. Darin unterscheiden sie sich von ihren Vorläufern, die oft genug Mythen entwarfen, statt Fragen zu stellen (als ein Beispiel sei hier der nicht nur bei Gioconda Belli häufig zu findende Rückgriff auf das indigene Erbe Nicaraguas genannt. „La mujer habitada“ etwa verschränkt den Befreiungskampf der Frente Sandinista mit dem indigenen Widerstand gegen die spanische Kolonialmacht. Damit wird eine Kontinuität suggeriert, die in dieser Form in keinem Augenblick existierte, wird eine Traditionslinie behauptet, die ihr löchriges Fundament, ihre Konstruiertheit nicht zu erkennen gibt).
Daß es Wunden gibt in Nicaragua, unverheilte Wunden, das dürfte außer Frage stehen. Die Traumata, die der Bürgerkrieg hinterlassen hat, wurden allzu oft im Geschwätz von den Helden und Märtyrern erstickt; Borges Memoiren sind bestes Beispiel dafür, wie sehr das Sterben, wie sehr das Töten in die zweifelhafte Ökonomie des Heldenliedes gepreßt wurden. Der Schmerz fand keinen Raum, nicht im politischen und nicht im literarischen Leben, und all die Fehltritte der Frente wurden bereitwillig mit dem Mantel des Schweigens versehen, damit die gute Sache keinen Schaden nähme. Noch heute herrscht diese unerbittliche Logik; im Umgang mit den Vorwürfen, Borge und Ortega hätten sich des sexuellen Mißbrauchs schuldig gemacht, wird sie überdeutlich. Wenn es denn zutrifft, daß der einstige Präsident als Familienvater versagt hat, indem er seine Stieftochter mißhandelte, dann stellt dies natürlich auch den Landesvater in Frage. Die Diskussion indes wird im Keim erstickt; Zoilamérica Narváez der Lüge bezichtigt.

Keine politischen Forderungskataloge mehr

Der Schmerz, die Traumata, die Überdosis an Gewalt: Was in der öffentlichen Debatte noch immer unausgesprochen bleibt, in den Arbeiten der jüngeren Autoren findet es einen Raum. Bei Sobalvarro, dessen Kurzgeschichten auf den Bürgerkrieg blicken, ohne der Heroisierung zu verfallen. Bei Patricia Belli, in deren Collagen und Texte Narben eine große Rolle spielen; unversehrte Körper wird man hier nicht finden, genausowenig bei Pulido, der, noch ganz der Tradition des magischen Realismus verhaftet, Krüppel und Leichen auftreten läßt. Den dreien gemein ist, daß sie in einer Grauzone von Phantastik und erzählter Realität operieren. Da die Übergänge vom einen zum anderen kaum auszumachen sind, kommt es zu einer nachhaltigen Verunsicherung, zu einem Taumel. Der verstärkt sich noch, da die Figuren zwischen Mensch und Tier changieren. Auch hier gilt: Nicht immer ist klar bestimmbar, an welchem Punkt der Metamorphose sich die Akteure befinden.
Marisela Quintana nimmt einen anderen, nicht weniger konsequenten Weg. Sie fängt Alltagsfetzen ein, erzählt von einer Frau, die um ihre Rente ansteht, von einem Bettler, der Geschichten zu verkaufen sucht, von einem Arbeitslosen, der auf ein Bewerbungsgespräch wartet. Das ist genau beobachtet, sprachlich präzise, unspektakulär, ruft zu keiner Handlung auf, zwingt das Denken auf keinen vorgegebenen Pfad. Quintana arbeitet damit wie die übrigen jungen Autoren an einer Literatur, die der Sprache wieder zu ihrem Recht verhilft, die zeigt, daß sie aus Metaphern, aus Klängen, aus Satzbau gemacht ist und nicht aus politischen Forderungskatalogen. Mit anderen Worten: eine Literatur, die – im Gegensatz zu Cardenals Forderung – durchaus um ihrer selbst willen existiert.
Das heißt nicht, daß die neue nicaraguanische Literatur das Politische ausschließen würde. Im Gegenteil: Natürlich beinhalten Texte, die Szenen des Bürgerkriegs oder der Armut in ihren Mittelpunkt rücken, ein politisches Potential. Doch dieses Potential bewegt sich auf einer anderen Ebene als bei den Vorgängern, insofern es sich nicht unmittelbar in den Dienst einer Partei, einer gesellschaftlichen Gruppierung stellt, insofern es sich der Ökonomie problemloser, schneller Verwertbarkeit entzieht. Wie gesagt: Statt um rasche Antworten oder Handlungsanweisungen geht es um Fragen, um Widerspruch. Etwas anderes sollte sich Literatur nicht vornehmen, liefe sie doch Gefahr, den Versuchungen der Propaganda zu erliegen. Denn der Schritt von der literarischen Dienstleistung, wie Cardenal sie dereinst forderte, hin zu ideologischer Erstarrung ist oft sehr klein. Die „Generation der Suche“ tut gut daran, Wege jenseits dieses traurigen Zusammenhangs zu beschreiten.

Die Texte auf den nachfolgenden Seiten stammen von SchriftstellerInnen aus Nicaragua, die – neben anderen – vom 28.-30. April 1998 zu Gast in der LiteraturWERKstatt Berlin waren.

Daniel Pulido
Hadas de un cuento

I
Hoy les quiero relatar un cuento de una princesa muy hermosa…

II
Les quiero contar hoy un relato muy corto de una princesa que vivía hermosamente en un inmenso castillo…

III
Hoy les quiero contar el castillo de un cuento, que relata princesadamente una viva soledad. Y la pobre ella, todas las tardes cortas asomaba a una ventana muy alta en una de las torres…

IV
Ventanar hoy les quiero, una torre de un corto – muy princesa -, que relataba las tardes de un inmenso cuento; mientras el vivir asomaba alto y sólo en un relato de contar hermoso. Hasta que vino un príncipe azul en su blanco corcel y -el pobre- valiéndose de una soga…

No, no, no, intento la última vez:

V
Corcelearles hoy una soga quiero. Ventanar de princesa asomada a un contar inmenso de las tardes, hasta que la torre so excuse de la ventana intentando por última vez, que venga un castillo solo, de alto vivir en un relato príncipe y -valiéndose del blanco hermoso- la rescate, no, no, no, valientemente azul se case muy con ella, sean felices y colorín colorado…

VI
Colorearles un blanco príncipe, hoy castillo feliz, quiero. Muy hermosamente corcel de princesa inmensa, hasta que la excusa -asomada y sola a la soga- dé con la torre en un contar valiente, cuando las tardes del rescate sean felices. Y valiéndose el corcel de un colorín, por última vez se case y corte al pobre por lo alto del vivir… no, no, no, este cuento ha terminado azul.

León, 25 de enero 1994.

Märchen einer Erzählung

I
Heute möchte ich Ihnen ein Märchen erzählen, von einer wunderschönen Prinzessin…

II
Ich möchte für Sie heute Märchen machen mit einer wunderkurzen Erzählung, von einer Prinzessin, die schön in einem riesigen Schloß lebte…

III
Heute möchte ich Ihnen das Schloß eines Märchens erzählen, die prinzessinnenhafte Erzählung einer lebhaften Einsamkeit. Und die Ärmste erschien jeden kurzen Nachmittag an einem wunderhohen Fenster in einem der Türme…

IV
Erfenstern möchte ich für Sie heute den Turm eines Kurzen, der – höchst prinzessinnenhaft – die Nachmittage eines riesigen Märchens erzählte; während das Leben wunder- und einsam in der Erzählung schönen Märchenmachens erschien. Bis ein blauer Prinz auf einem weißen Roß eintraf und der Ärmste sich eines Stricks bemächtigte…

Nein und nochmals nein, ich versuch’s ein letztes Mal:

V
Einen Strick rösseln möchte ich Ihnen heute. Scheinblaue Prinzessin beim Erfenstern eines riesigen Märchenmachens der Nachmittage, bis der Turm sich vom Fenster entschuldigt und ein letztes Mal versucht, ein Schloß zu treffen, einsam und hochsollerleben in Märchengestalt des Prinzen, und – indem er sich des schönen Weißen bemächtigt – sie befreit, nein, nein, nein, möchtig blau sich wundersam mit ihr verheiratet, und sie lebten glücklich, bis am Ende eine Maus und das Märchen ist…

VI
Ich möchte einen weißen Prinzen, heute ein glückliches Schloß, für sie mausen. Wunderschön rösselte die riesige Prinzessin, bis die Entschuldigung – blau und einsam am Strick – auf den Turm traf in einem mächtigen Märchen, und die Nachmittage der Befreiung lebten glücklich. Und indem sich das Roß einer Maus bemächtigte, soll es ein letztes Mal heiraten und der Ärmsten das Hoch des Lebens verkürzen…
Nein, nein, nein, dieses Märchen ist blau und aus.

Übersetzung: Christian Hansen

Juan Sobalvarro
Wozu so viele Worte?

Ich stelle mir keine Fragen, und wozu soll man von den Leuten Erklärungen verlangen. In dringenden Fällen wie diesem kommt ein Moment, da nützen Erklärungen nichts, und man darf nicht viele Worte machen. Ich habe in denen bloß so etwas wie Tiere gesehen, darauf habe ich mich konzentriert, ohne mich um etwas anderes zu kümmern. Das ist nämlich mein Job, sind wir vielleicht keine „Berufsarmee“, wie unsere Chefs immer sagen. Und ich stehe voll hinter unserer Sache. Außerdem ist es nicht schwer, mit der Zeit gewöhnt man sich die Gefühlsduselei ab. Wie das erste Mal, als uns in Chontales diese blöden Hubschrauber in die Quere kamen, für mich war das unbekanntes Terrain, aber dort wartete schon ein ortskundiger Führer auf uns, ein Riesenkerl mit Bart, der sich vor lauter Faulheit selber zuviel war, ‘ne richtige Flasche, dieser Typ, aber er kannte nun mal den Auftrag und führte uns durch diese Gegend, Feldwege rauf, Feldwege runter, einen ganzen Tag und eine Nacht, und am folgenden Morgen machten wir Halt bei einer Hütte, und der Mann sagt zu uns: „hier ist es“, wir betreten diese Bretterbude, und da ist ein Mann mit Frau und Kind, und unser Begleiter sagt noch einmal: „der da ist es“, und der andere, auf den gezeigt worden ist, hat kaum Zeit zum Blinzeln, „kommen Sie mit, mein Lieber, wir wollen uns ein bißchen unterhalten“, sage ich zu ihm, und die Frau hängt sich an den Mann, damit er nicht fortgeht, aber der Mann schickt sie in ihre Ecke, abweisend, mit gebieterischer Miene, und das Mädchen schaut atemlos hoch zu den Köpfen, ahmt das Weinen seiner Mutter nach, und unser Begleiter sagt noch einmal: „sollen wir ihn fesseln?“, „nein“, sage ich, „es ist bloß eine kurze Unterhaltung“, und der Mann gehorcht aus freien Stücken, wir bringen ihn aus der Hütte hinaus, führen ihn ins Gelände, und ich sage zu unserem Begleiter, er soll ein Stückchen hinter uns bleiben, irgendwo bedeute ich dem Mann, vor mir stehenzubleiben, und schieße auf ihn, zwei Schüsse und fertig, beim ersten war er schon tot, den zweiten habe ich instinktiv abgefeuert. Das Wichtige ist, die Arbeit schnell zu erledigen, einfach so, ohne nachzudenken, man konzentriert sich darauf, daß es Tiere sind, die ohne einen Mucks zu Boden stürzen, wie Putzlappen, an die niemand denkt, wenn man sie so sieht, ist es leichter, und man gewöhnt sich an den Gedanken, daß sie bloß sterben und daß sogar ein besseres Leben auf sie wartet.

Übersetzung: Ilse Layer

Marisela Quintana
Die Rente

Sie stand am Ende einer Schlange von mindestens fünfzehn Leuten. In einer sinnlosen Geste legte sie den Kopf schräg, um zu zählen, wie viele vor ihr bedient werden mußten. Sie lutschte an ihrem blanken Zahnfleisch, ein Zeichen ihrer Ungeduld. Ihr Blick begann auf den Wänden der Bankumherzuschweifen, auf der Suche nach einem Halt für ihr langes Warten. Da war nichts, was diese Wände zierte. Ins Auge fiel lediglich eine Uhr, ernst und förmlich, die eine falsche Zeit anzeigte. Ihr einziger Zweck war, mitzuteilen, wann genau in diesem Viertel der elektrische Strom abgestellt worden war.
Die Schlange rückte einige Schritte vor, das heißt, alle schlurften ein paar Schritte vor, und sie tat das gleiche. Ihre Knie schmerzten, in ihren Füßen war ein Stechen, und vor Hitze rang sie nach Luft. Sie strich sich über das Gesicht in dem Versuch, sich den Schweiß abzuwischen, der sich bereits auf ihre Brillengläser legte. Bei der Berührung spürten ihre Finger deutlich die Furchen in ihrer Stirn, die schlaffe Haut, die hervorstehenden Falten und die paar Härchen anstelle der Augenbrauen. Sie griff sich an den Kopf, und ihre Fingerspitzen begegneten einer Handvoll struppiger grauer Haare.
Die Person vor ihr setzte sich erneut in Bewegung, und sie rückte zwei Backsteinlängen weiter nach vorn. Sie wußte, daß es genau zwei Backsteinlängen gewesen waren, denn ihr Körper kannte bereits das Ausmaß der Anstrengung, um eine Backsteinlänge vorzurücken, und diese letzte Bewegung war ihr doppelt so schwer gefallen. Sie schaute zu Boden. Ihr Blick fiel auf etwas, das entfernt an Füße erinnerte, die sie im ersten Moment nicht als ihre eigenen erkannte. Sie waren ganz krumm und steckten in so etwas wie Gummilatschen von undefinierbarer Farbe. Eine gipsähnliche Masse füllte die Stellen aus, an denen einmal kräftige Zehennägel gewesen waren.
Mit einem Mal verschwamm alles, und sie dachte: „Ich werde ohnmächtig!! Jetzt sterbe ich wirklich.“ Bald begriff sie jedoch, daß der Tod sie noch nicht mit seinem Besuch beehrte. Ihre Brille war vollkommen beschlagen, und das war der Grund für ihre Sehstörung. „Dumme alte Schachtel“, sagte sie zu sich, und indem sie den Oberkörper so weit vorbeugte, wie ihr Rheuma es zuließ, machte sie sich daran, ihre Brille mit dem Saum ihres abgetragenen Unterrocks zu putzen. In dieser Haltung und trotz ihrer teilweisen Blindheit konnte sie erkennen, daß ihre morschen Beine einen ausgeprägten Bogen bildeten.
Kein Wunder, daß sie ihr allmählich den Dienst versagten. „Ich sehe ja aus wie ein Cowboy“, murmelte sie zähneknirschend oder besser gesagt zahnfleischknirschend.
In ihre eingehende Untersuchung vertieft, bemerkte sie nicht, daß sie bereits vor dem Auszahlungsschalter stand. „He Oma“, rief der Kassierer ihr zu, und hastig legte sie ihren Ausweis auf das Pult. Während sie bedient wurde, fragte sie sich, was schlimmer sein konnte, als zahnlos, kahl, blind, voller Runzeln, klapprig und kindisch zu sein.
Mechanisch streckte sie die Hand aus, um etwas in Empfang zu nehmen, erhielt es und verließ gedankenverloren die Bank. Ein Windstoß holte sie in die Wirklichkeit zurück. Unter Schmerzen öffnete sie ihre Faust und betrachtete den ausgebleichten Geldschein, so alt und abgenutzt wie ihr eigener Körper. Ihre Augen wurden feucht, und nun schimmerte Mutlosigkeit in ihnen. „Offen gesagt, ich bin beschissen dran“, brummte sie, und ohne Ziel schlufte sie mühsam davon, verfolgt vom Echo ihrer eigenen Worte.
(1992)

Übersetzung: Ilse Layer


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