„Wir arbeiten wie ein Ameisenkollektiv“
Interview mit dem chilenischen Folteropfer Edmundo Lebrecht
Edmundo Lebrecht ist Sohn eines deutschen Juden, der 1937 Ulm verlassen hatte, um in Chile Zuflucht zu suchen. Er studierte an der Schauspielschule der Universität in Santiago de Chile und arbeitete später als Dozent für Theaterwissenschaft.
Am 29. September 1974, etwas mehr als ein Jahr nach dem Militärputsch unter General Augusto Pinochet, wurde Lebrecht wegen seiner Tätigkeit im Widerstand von der chilenischen Geheimpolizei DINA festgenommen. In einem geheimen Folterzentrum in Santiago wurde er zunächst zwei Wochen lang physisch und psychologisch gefoltert, in den folgenden sieben Monaten in verschiedene Haftanstalten und Konzentrationslager gebracht. Hilferufe seiner Frau Gilda erreichten einen jüdischen Schulfreund des Vaters von Lebrecht, der mit der Hilfe von amnesty international die Einbürgerung der Familie Lebrecht durch das baden-württembergische Innenministerium und schließlich die Ausreisegenehmigung aus Chile erwirkte.
Im Anschluß an die Festnahme Pinochets in London im Oktober 1998, stellte Lebrechts Rechtsanwältin Petra Schlagenhauf Strafanzeige gegen den chilenischen Exdiktator beim Bundesgerichtshof in Karlsruhe wegen Straftaten im Sinne der UN-Folterkonvention. Das Verfahren wurde an die Staatsanwaltschaft Düsseldorf übergeben.
Welche Bedeutung hat für Sie persönlich die Suche nach Wahrheit und Gerechtigkeit?
Für mich sind Wahrheit und Gerechtigkeit vielleicht die wichtigsten Prinzipien des Lebens. Alles, wofür ich mich engagiert habe, in der Politik, in der Theaterarbeit und in anderen gesellschaftlichen Gruppierungen, war immer mit der Suche nach Gerechtigkeit und Wahrheit verbunden. Das sind Prinzipien, die man geerbt hat, von Leuten, deren Bücher man gelesen hat oder von den Eltern. Wichtig ist, dass man diesen Prinzipien, so allgemein sie auch sind, im Alltag gerecht wird: man muss sie wie ein Versprechen halten.
Und was bedeuten die Prinzipien von Wahrheit und Gerechtigkeit im Zusammenhang mit ihrer Strafanzeige gegen Augusto Pinochet hier in Deutschland?
Ich kann das sehr einfach formulieren: ich bin auch ein deutscher Bürger und man hat mich physischer und psychischer Folter unterworfen. Wenn hier jemand auf der Straße oder hinter einer Ecke einen anderen verprügelt, fesselt, misshandelt, dann wird er wegen dieses Verbrechens verhaftet. Und das, was man mit mir gemacht hat – wenn man vom politischen Rahmen abstrahiert – war eine solche Art von Verbrechen. Nachdem Pinochet am 14. Oktober 1998 in England festgenommen worden war, habe ich mir gedacht, dass Deutschland, seine Gesellschaft und seine Institutionen sich engagieren sollten bei der Suche nach Gerechtigkeit für all das, was man einem deutschen Bürger angetan hatte.
Hugo Gutiérrez, einer der sieben Klägeranwälte im Fall der „Todeskarawane“, in dem nun Anfang Februar Anklage gegen Pinochet erhoben wurde, sagte, dass erst jetzt mit der Anklageerhebung die Diktatur Pinochets wirklich beendet sei. Sehen Sie das ähnlich?
Ich sehe das etwas anders, vor allem sehe ich die noch andauernden Probleme der Diktatur nicht nur in der Gegenüberstellung von Vertretern derselben und der Justiz, sondern begreife das viel allgemeiner. Was in Chile stattgefunden hat, war eine richtige konservative Revolution, die die gesamte Gesellschaft geprägt hat, weshalb sie wohl auch so lange gedauert hat. Es hat sich ein neues wirtschaftliches – sehr ungerechtes – System entwickelt und mit ihm eine Ideologie des Konsumismus und Individualismus. Insbesondere aber hat man die Organisationen des Volkes und schlimmer noch die Gewohnheit der Menschen, sich zu organisieren und zu kämpfen, zerstört. Das sind die großen Erben der Diktatur.
Heutzutage hat man in Chile die Freiheit zurückerobert: Ich kann mich in einem Café mit Freunden über Politik unterhalten ohne Angst haben zu müssen, dass der Mann hinter mir vielleicht ein Spitzel ist. Wir haben auch die Möglichkeit zurückerobert, eine gewählte Regierung zu haben, deren Möglichkeiten allerdings sehr beschränkt sind: Es ist eine Regierung mit der Aufgabe, dieses wirtschaftliche Modell, das sich unter Pinochet entwickelt hat, zu verwalten. Deshalb leben wir jetzt in Chile in einer formalen Demokratie, die sehr viele Züge von der Diktatur trägt, insbesondere ideologischer Art.
Welche Gefühle haben die juristischen Erfolge im Fall Pinochet zunächst in England und danach vor der chilenischen Justiz in Ihnen hervorgerufen?
Ich habe damals, als Pinochet in London festgenommen worden war, sehr viel darüber nachgedacht, ob ich Rachegefühle empfinde oder nicht. Eigentlich habe ich überhaupt keine Rachegefühle. Ich habe mich gefragt, was es für einen Menschen, der so viel Macht durch Gewalt hatte, bedeutet, seine Freiheit zu verlieren. Und ich dachte vor allem an diese kleinen, und doch so wichtigen Dinge, etwa dass Pinochet vielleicht einen englischen Wächter um Erlaubnis bitten müsste, um pinkeln zu gehen. Solche Kleinigkeiten haben mir eine Art Genugtuung und Freude beschert.
Ich glaube schon, dass wir Opfer der Diktatur sehr viel projizieren. Wir projizieren das, was man uns genommen und was man uns angetan hat, auf diese juristischen Fälle von Pinochet und einigen anderen wichtigen Generälen der Diktatur, die heute vor Gericht stehen. Es ist ja so, dass außer den Menschenrechtsorganisationen und besonders den Angehörigen der Verschwundenen die Menschen in Chile diese Verfahren nur vor dem Fernseher in den Nachrichten sehen. Sie sehen es mit großem Interesse, aber sie mobilisieren sich nicht, auch nicht diejenigen, die Pinochet verteidigen würden.
Aber ich würde sagen, dass diese engagierten Rechtsanwälte und auch die Richter, die sich so wunderbar für die Menschenrechte in Chile einsetzen, einen großen Teil der chilenischen Gesellschaft vertreten. Denn für sehr viele ChilenInnen geht es in den Prozessen nicht nur um historische Gerechtigkeit, sondern eben auch um eine ganz persönliche Gerechtigkeit. Was verhandelt wird, sind eher repräsentative Fälle, nicht aber der Fall des einfachen Mannes, der auch sehr viel gelitten hat während der Diktatur. Deshalb projizieren die Menschen die juristischen Erfolge gegen Pinochet auf ihr persönliches Schicksal.
Sie sprachen von Rachegefühlen. Im Rahmen der Foltertherapie heißt eine Art Grundregel: „Ohne Hass keine Versöhnung“ – ein allzu schneller Verzicht auf Gefühle wie Hass und Rache sei ein großes Problem bei Folteropfern. Wie sind ihre Erfahrungen mit Rache und dem Verzicht auf Rache?
Praktisch gesehen wäre es ja gar nicht so schwer für uns Opfer gewesen, sich ein Gewehr zu besorgen und ein paar Schüsse auf die abzugeben, von denen wir glauben, dass sie verantwortlich sind für das, was uns geschehen ist. Aber für uns, die wir damals zum Widerstand gehörten, war es nicht nur ein vernünftigerer, sondern auch viel sinnvollerer Umgang mit den Verbrechen, überall in der Welt Druck auszuüben. Die Erfolge, die jetzt – gerade im Verlauf des letzten Jahres vor der chilenischen Justiz – erreicht worden sind, sind das Ergebnis der Arbeit von Ameisen. Wir alle, so viele Menschen und Organisationen in der ganzen Welt – auch ihr von den Lateinamerikanachrichten und das FDCL (Forschungs- und Dokumentationszentrum für Chile und Lateinamerika, d. Red.) – haben wie ein großes Kollektiv von Ameisen über so viele Jahre tagtäglich Druck gemacht. Jetzt zeigt sich, dass nichts von dem umsonst war.
Wissen sie, wie die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft Düsseldorf in Ihrem Fall bisher vorangekommen sind?
Darüber bin ich nicht sehr gut informiert. Ich habe jedenfalls in einem Schreiben an die Staatsanwaltschaft geschildert, was man mit mir nach meiner Festnahme am 29. September 1974 gemacht hat. Die Staatsanwaltschaft benötigt ja diese Tatsachen. Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich die gegen mich begangenen Verbrechen in Einzelheiten beschrieben.
Es gibt bei strafrechtlichen Ermittlungen und Prozessen im Ausland ja regelmäßig ein Beweisproblem. Wie groß schätzen Sie die Chancen ein, dass es in Ihrem Fall zum Erlass eines Haftbefehls kommt?
Wissen sie, ich bin ja viel mehr ein politischer Mensch als einer der Justiz. Wie ich schon am Anfang sagte, habe ich mit der Strafanzeige bei der deutschen Justiz vor allem das Ziel verfolgt, dass die Gesellschaft und die Institutionen in Deutschland sich mit den Verbrechen gegen deutsche Staatsbürger während der chilenischen Militärdiktatur auseinandersetzen. Außerdem habe ich die Strafanzeige zu einem Zeitpunkt gestellt, als Pinochet in London festgenommen war, so dass die Möglichkeit bestand, dass sich die Bundesrepublik für seine Auslieferung nach Deutschland einsetzen würde. Diese Aufgabe der deutschen Justiz hat sich dann erledigt, als Pinochet wieder nach Chile reisen durfte. Und natürlich finde ich es viel wichtiger, dass statt einem deutschen Gericht nun die chilenische Strafjustiz über seine Verbrechen urteilt.
Haben sie auch in Chile vor dem zuständigen Ermittlungsrichter Guzmán Klage gegen Pinochet eingereicht?
Ja, es gibt ein solches Verfahren, und zwar als Kollektivverfahren: 500 ehemalige Verhaftete, die gefoltert worden sind, wir haben zusammen Klage gegen Pinochet eingereicht. Auch hieran sieht man, dass der Kampf gegen die Straflosigkeit von Menschenrechtsverbrechen eine kollektive Sache ist. Man könnte sagen: Jeder einzelne Fall für sich ist vielleicht zu schwach, aber die Vielzahl der Fälle schafft den erforderlichen Druck.
Sie haben mir erzählt, dass sie bei Ihrer neuen Tätigkeit an der Universität Temuco ein Projekt mit dem Mapuche-Volk ins Leben gerufen haben. Um was für ein Projekt handelt es sich dabei?
Ich arbeite dort in Temuco in zwei Richtungen: Einmal gebe ich sowohl an der privaten, als auch an der öffentlichen Universität Theaterunterricht. Außerdem bin ich an der privaten Universität, der Universidad Mayor, Koordinator eines Programms für die Beziehungen mit dem Mapuche-Volk. Hauptsächlich wenden wir uns mit dem Programm an die älteren Mapuche, die sich mit ihrem Wissen organisieren sollen. Und das machen wir mit großem Erfolg – es bestand da eine richtige Lücke. Denn die alten Menschen, die noch das Wissen ihrer Vorfahren haben, merken, dass sie dieses heutzutage nicht an die Kinder und Enkel weitergeben können, weil die ganz woanders in die Schule gehen und auch nicht so daran interessiert sind. Wir sammeln also jetzt im Rahmen des Programms dieses Wissen der Mapuche und wollen es vor allem in Schulbüchern an die neue Generation weitervermitteln. Ich habe auch die Gelegenheit meines Deutschlandaufenthaltes dazu genutzt, Kontakte zu knüpfen, damit wir mit dem Programm weitermachen können.
Soll es auch einen Austausch mit deutschen und anderen europäischen Universitäten geben?
Ja, wir arbeiten daran, dass in zwei oder drei Jahren Studenten europäischer Universitäten nach Temuco kommen können, um dort Praktika zu machen oder Magisterarbeiten zu schreiben.