Wir machen unsichtbare Themen sichtbar
Interview mit den chilenischen Radioaktivisten Juan Schilling und Gabriel Rojas vom Radiokollektiv Lorenzo Arenas
Glaubt ihr, dass es mit dem technologischen Fortschritt und dem Aufkommen neuer Technologien noch notwendig ist, über eine Radiofrequenz zu senden?
Juan Schilling: Ein über UKW gesendetes Radio ist absolut notwendig! Die Anbindung ans Internet in Chile ist gut, aber nicht alle sozialen Gruppen haben Zugang dazu. Wenn wir nur Internetradio machen würden, würden das viele junge Leute oder Studenten hören. Aber unser Ziel ist es, quer durch die ganze Gesellschaft Leute zu erreichen. Und es gibt viele alte Menschen in Lorenzo Arenas. Deshalb ist es wichtig, diese Frequenz zu haben. Es gibt zum Beispiel eine Gruppe, die bisher nur im Internet sendet, aber jetzt haben sie uns um einen Sendeplatz gebeten. Das zeigt, dass ein reines Internetradio nicht ausreicht.
Gabriel Rojas: Heute ist die Herausforderung, alle technischen Möglichkeiten kombiniert zu nutzen, um mehr Menschen zu erreichen. Das Internet ist für uns eine wichtige Ergänzung. Nicht innerhalb der Kommune, sondern wegen der Vernetzung mit anderen Regionen und um an andere Informationen zu kommen.
Wer bestimmt die Inhalte bei Radio Lorenzo Arenas, ein Redaktionskollektiv oder externe Gruppen?
G.R. Es ist eine Kombination aus beidem. Auf der einen Seite funktioniert das Radio als Kollektiv. Wir haben monatliche Versammlungen, an denen das ganze Kollektiv zusammenkommt. Außerdem macht jede Gruppe ihre eigenen Treffen und produziert ihre Inhalte, die sie selbst bestimmen. Mit diesen Inhalten hatten wir nie Probleme und haben auch nie Sendungen zensiert.
Entscheidet ihr auf der Basis eines gemeinsamen Konsenses?
G.R. Wir kennen uns alle und wissen, dass das Radio das Ziel hat, die Demokratie und die sozialen Bewegungen zu stärken und eine nachhaltige Entwicklung voranzutreiben. Dementsprechend haben wir einen Konsens über die Inhalte im Radio. Wir als Radiokollektiv sorgen im Wesentlichen dafür, dass das Radio funktioniert und nicht während eines Beitrags aufhört zu senden. Dann sind wir da.
J.S. Wir finden beispielsweise für neue Gruppen einen Platz im Programm, aber in die Inhalte an sich greifen wir nicht ein. Und es funktioniert.
Helft ihr auch dabei, die Arbeit in der Kommune zu organisieren, zum Beispiel nach dem Erdbeben im Februar 2010?
G.R. Ja. Sobald der Strom wieder da war, haben wir wieder gesendet. Wir haben darüber informiert, was passiert ist, und haben den Leuten geholfen, die ihre Angehörigen suchten. Wir haben auch darüber berichtet, was an anderen Orten passiert ist, sind auf die Straße gegangen und haben Interviews geführt. Wir hatten damals kein Telefon, deswegen haben wir alles aufgenommen oder Leute ins Studio geholt.
Wir sind auch zu den lokalen Autoritäten gegangen, um Hilfe für unsere Kommune zu fordern. Dann haben wir ein Treffen zwischen kommunalen und lokalen Behörden und den Sprechern der Nachbarschaftsräte koordiniert. Ausgehend davon wurden Absprachen getroffen, wohin zum Beispiel die Essensrationen gehen sollten. Die Ausgabestelle für 2.000 Mahlzeiten war für eineinhalb Monate direkt neben dem Radio. Wir haben Lautsprecher aufgestellt und Musik gespielt, um die Leute zu unterhalten, die in der Schlange standen. Über das Radio liefen viele Aufrufe, Essen oder Kleidung für Gemeinden wie Dichato oder die población (Armenviertel, Anm. d. Red.) Santa Clara zu spenden. Später haben wir gemeinsam mit Jugendlichen einen Dokumentarfilm in einem Camp gedreht.
Das Radio hat also bei der Hilfe direkt nach der Katastrophe und der Wiederaufbauarbeit recht gut funktioniert. Aber es gibt immer noch viele Menschen, die kein Dach über dem Kopf haben. Im dritten Jahr nach dem Beben leben immer noch Menschen in Lagern. Wir müssen an diesem Thema dranbleiben, weil die großen Medien es ignorieren.
Was ist der Unterschied zwischen dem, was ihr macht, und der Arbeit der großen Medien, wie der Gruppe El Mercurio und der Gruppe COPESA?
G.R. Es gibt riesige Unterschiede. Wir als kommunitäres Radio arbeiten in einer viel kleineren Region. Die großen Medien haben eine nationale Reichweite, aber wir mit unserer geringen Reichweite versuchen, jeden Flecken unseres Sendegebiets zu erreichen. Als kommunitäres Radio haben wir die Möglichkeit, ein Akteur unter anderen Akteuren zu sein, ein Werkzeug, um die Kommune zu vernetzen, zu organisieren und viel näher an den Geschehnissen zu sein.
Außerdem arbeiten wir daran, uns an der Bildung einer Bewegung zu beteiligen, einer transformativen Bewegung. Wir liefern Gegeninformationen und machen Themen sichtbar, über die andere Medien nicht berichten.
Wie zum Beispiel bei den Bildungsprotesten 2011, als die traditionellen Medien nur Vermummte und „Extremist_innen“ zeigten?
G.R. An den Bildungsprotesten haben wir uns direkt beteiligt. Es gab zwei besetzte Schulen. Wir haben die Besetzung begleitet. Die Schüler haben dann in dieser Zeit im Radio Sendungen gestaltet und die Bevölkerung und ihre Eltern, die anderen Schüler, ihre Leute informiert. Wir haben auch zwei öffentliche Veranstaltungen gemacht und die Leute informiert, warum die Schüler die Schulen besetzen und haben damit die Bewegung unterstützt.
J.S. In Concepción gibt es eine Gruppe, die ConceTV heißt und als Live-Stream sendet, mit der wir zusammengearbeitet haben. Alternative Medien wie wir oder ConceTV haben eine wichtige Rolle gespielt, weil die traditionellen Medien über die Proteste einfach nicht berichtet haben. TVN (drittgrößter chilenischer Fernsehsender, Anm. d. Red.) hat dann Archivmaterial benutzt und einen Vermummten gezeigt, der Steine geworfen hat. Das war ihr Hintergrundbild für die Nachrichten. Also eine offensichtliche Manipulation.
Habt ihr auch Probleme, beispielsweise mit Sendelizenzen oder Repression durch die
Polizei?
G.R. In den letzten fünf Jahren wurden viele Radios, die ohne Lizenz gesendet hatten, geschlossen. Wir haben 2000 angefangen und eineinhalb Jahre ohne Lizenz gesendet. Dann haben wir eine Frequenz bekommen, nachdem wir uns um sie beworben hatten. Seit 2006 gibt es eine Offensive von Seiten der ARCHI, der Vereinigung der kommerziellen Radios. Sie sind bisher unsere hauptsächlichen Gegner, weil sie – obwohl sie keine Prüfinstanz sind – kontrollieren, ob es Radios gibt, die ohne Lizenz senden. Sie überwachen den Funkraum und schreiben dann Anzeigen bei der Subtel (Regierungsorganisation, die für die Frequenzvergabe verantwortlich ist, Anm. d. Red.). Wenn Subtel feststellt, dass ein Radio ohne Lizenz sendet, dann schließen sie es, oft unter Anwendung von Gewalt.
J.S. Die Repression trifft aber auch Journalisten. Auf Demonstrationen hilft es nicht viel, einen Presseausweis zu haben. Die Polizisten verhaften einen trotzdem, es ist ihnen egal. Es gibt den Fall des deutsch-chilenischen Journalisten Dauno Tótoro, der für ein deutsches Medium berichtete. Die Polizisten haben versucht, ihn festzunehmen, aber die Leute haben ihn wieder befreit. Es gibt Videos davon, die zeigen, wie wenig Respekt die Polizei hat. Die Journalisten werden es in den kommenden Jahren schwer haben, weil die Repression präsent sein wird und der Journalistenverband nicht die Stärke hat, solche Dinge zu verhindern. Diese Vorgänge international öffentlich zu machen, kann helfen, damit diese Art von Übergriffen verhindert wird.
G.R.: Dann gibt es noch das Hinzpetergesetz (Gesetzentwurf, der unter anderem das Versammlungsrecht stark einschränken soll und von sozialen Bewegungen in Chile stark kritisiert wird, Anm. d. Red.), das dazu dient, die soziale Bewegung zu kriminalisieren. Ein Teil des Gesetzes betrifft auch die Weitergabe von Informationen. Die Polizei und die Sicherheitskräfte werden die Medien dazu auffordern können, ihnen Bilder von den Demonstrationen zu übergeben. Das macht uns große Sorgen, denn wir werden aus Prinzip nicht mit Sicherheitskräften zusammenarbeiten und unsere Compas (Kumpel, Anm. d. Red.) und uns selbst ausliefern. Wenn man ihnen die Aufnahmen nicht freiwillig gibt, werden sie beschlagnahmt. Wir müssen einen Weg finden, unsere Videoaufnahmen an einem sicheren Ort zu speichern. Und das wird nicht im Radiogebäude sein, weil sie dort schon einmal eingedrungen sind. Wir sind ein Ziel des Sicherheitsapparats, deshalb müssen wir Vorsichtsmaßnahmen treffen.
Werdet ihr eure Arbeitsweise ändern?
G.R. Mit dem Erstarken der sozialen Bewegungen seit 2011 sind wir in der aktuellen Situation mehr gefordert. Wir als einzelnes Medium können keine Bewegung anführen. Aber wir müssen unsere Kontakte und die Koordination mit den anderen Medien verbessern. Wenn wir ein Gegengewicht zu den traditionellen Medien sein wollen, müssen wir zusammenarbeiten und unsere Informationsbeschaffung verbessern, damit verbreitet werden kann, wo sich Leute organisieren. So können wir dazu beitragen, die sozialen Bewegungen sichtbar zu machen. Und wir müssen alle uns zur Verfügung stehenden Möglichkeiten nutzen, auch die neuen Medien.
Infokasten:
Juan Schilling (62 Jahre) und Gabriel Rojas (44 Jahre) sind Journalisten und arbeiten bei der NGO SEDEC, die kommunitäre Medien unterstützt. Im Jahr 2000 gründeten sie das kommunitäre Radio Lorenzo Arenas im gleichnamigen Stadtteil der chilenischen Großstadt Concepción. Das Radio ist in ein Stadtteilzentrum integriert. Es spielte sowohl bei den Bildungsprotesten 2011 als auch bei dem Erdbeben im Februar 2010 eine wichtige Rolle, indem es Aktivist_innen dabei half sich zu organisieren.
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