Kolumbien | Nummer 529/530 - Juli/August 2018

„WIR MÜSSEN AM FRIEDEN FESTHALTEN“

Die Aktivistin und Sozialarbeiterin Leyla Andrea Arroyo Muñoz über schwarze Gemeinden in Kolumbien

Afrokolumbianische Gemeinden stehen der Regierung sowohl im bewaffneten Konflikt als auch in wirtschaftspolitischen Fragen oftmals im Weg. Die LN sprachen mit der Aktivistin Arroyo Muñoz über den Widerstand gegen Umsiedlung und die spezifischen Herausforderungen für schwarze Gemeinden im Friedensprozess. Arroyo Muñoz ist Aktivistin und Sozialarbeiterin an der Universidad del Valle. Sie ist aktiv bei der Orga­nisation Prozess der Schwarzen Gemeinden Kolumbien (PCN), wo sie sich für die Verteidigung der Menschenrechte afrokolumbia­nischer Gemeinden einsetzt. Muñoz hat in verschiedenen Funktionen und Organisatio­nen zwangsumgesiedelte Familien in Buen­aventura betreut.

Interview: Lea Fauth

Sie reisen als Menschenrechtlerin durch Europa, um auf die Probleme Ihrer Gemeinden aufmerksam zu machen. Was macht die Situation der Afrokolumbianer*innen in der Region Buenaventura aus?
Wir wohnen auf Grundstücken, die durch Landgewinnung aus dem Meer entstanden sind. Das ist ein Gebiet, das an unsere Wohngegend angrenzt und das wir durch eine traditionelle Praktik des Aufschüttens erobert haben, mithilfe von Bauschutt oder Müll. Das Gebiet macht 60 Prozent der Insel Buenaventura aus, der Ort ist die Kernregion für die Errichtung von Häfen in Buenaventura, 60 Prozent der Insel sind mithilfe der Aufschüttungstechnik entstanden. Es ist Teil unserer Landgüter, die wir nicht nur besetzt, sondern die wir mithilfe unserer Vorfahren mit unseren eigenen Händen gebaut haben. Die Regierung handelt im Sinne der Investoren, denn sie hat vor, diese Landgüter zu räumen. Dafür wird der bewaffnete Konflikt vorgeschoben oder die „Entwicklung“, um in der öffentlichen Politik einen Umsiedlungsprozess der Gemeinden durchzusetzen. Sie sagen, dass wir in einem hochgefährlichen Gebiet leben, nur um uns von dort zu vertreiben und dort mehr Häfen bauen zu können für die internationale Wirtschaft und den internationalen Tourismus. Wir fragen: Wie kann es sein, dass die Wohnstätten von uns schwarzen Gemeinden, die wir dieses Land gewonnen haben, in einer Gefahrenzone liegen, aber gleichzeitig keine Gefahr für Hotels, Infrastruktur und Häfen besteht, die sie in diesem Gebiet entwickeln wollen?

Wie artikuliert sich dieses Problem konkret?
Wir hatten einen Gemeindeführer: Temístocles Machado. Er widmete sein Leben der Denunzierung von Landraub. Er prangerte an, dass unsere Rechte verletzt werden, dass wir Besitzer dieser selbst erbauten Grundstücke sind, die wir durch Landgewinnung errungen haben. Er wurde am 27. Januar dieses Jahres gewaltsam ermordet.
Temísto hatte die meisten historischen Kenntnisse über diesen Streit und seinen Verlauf, er war der Gemeindeführer, der sich am meisten auf landesweiter Ebene bewegte, um öffentlich zu machen, was in Buenaventura passierte. Er dokumentierte alles, um die Erinnerung an die Herrschaftsprozesse zu etablieren.
Dieser Gemeindeführer wurde ermordet. Bei diesem Mord ging es nicht um ihn oder seine Familie, sondern darum, die Gemeinden zu lähmen, die er repräsentierte. Aber wichtig ist, dass wir weitermachen. Trotzdem kann man nicht leugnen, dass es Leute gab, die danach nicht mehr an Organisationen teilgenommen haben, dass aufgrund dieses Mordes Leute weggezogen sind. Das sind die Strategien, um die Dynamik unserer Verteidigungsorganisationen zu zerlegen. Temístocles ist nur eines von vielen Beispielen.

Warum sind afrokolumbianische Gemeinden angreifbarer als andere?
Wir ethnischen Völker erleben eine doppelte Form der Herrschaft, wir sind in einer doppelten Opferrolle. Zum Einen sind wir Opfer als Kollektiv, als Gemeinde. Neben dem bewaffneten Konflikt und über die extraktivistische Wirt­schafts­­politik hinaus gibt es für uns auch einen strukturellen Aspekt, nämlich den der sozialen Ausgegrenztheit. Zum Anderen sind wir Opfer in Bezug auf unsere Beziehung zu unserem Land, denn jenes Land, auf dem wir leben könnten, wird zerstört. Wir haben als Völker eine sehr enge Beziehung zu unserem Lebens- und Wohnraum. Unser Leben hängt von der Einheit mit unserem Land zusammen. Deshalb sind wir von Landraub auch besonders betroffen. Wenn wir umsiedeln, verlieren wir nicht nur die Möglichkeit, an diesem Ort zu sein, wir verlieren die Möglichkeit unserer alltäglichen kulturellen Praxis. Ich kann nicht in den Bergen fischen. Ich brauche das Meer oder den Fluss.

Die Regierung beschuldigt Menschen aus den afrokolumbianischen Gemeinden, Mitglieder von Guerrillas zu sein.
Wir werden übertrieben gerichtlich verfolgt. So ist es zum Beispiel Ende April passiert, mit zwei Gemeindeführerinnen, Mutter und Tochter, aus Tumaco, dem Gebiet von Río Mira an der Pazifikküste. Diese beiden Frauen wurden von der Regierung und durch die nationale Staats­anwaltschaft als Mitglieder der ELN juristisch verfolgt. In den letzten 30 Jahren wurden wir afrokolumbianischen Gemeinden durch die Regierung immer wieder beschuldigt, Mitglieder der FARC zu sein. Heute gibt es keine FARC mehr – offiziell zumindest. Jetzt sind wir also Mitglieder der ELN. Die beiden Frauen wurden juristisch verfolgt, verhört und sofort in einem Hochsicherheitsgefängnis in Haft genommen wie die größten Schwerverbrecher des Landes. Die Geschichte von Tulia, der Mutter, ist aber die: Sie ist eine Frau aus der Gemeinde, die einen Teil ihres Lebens der Kinderfürsorge in Kindertages­stätten gewidmet hat. Im Prozess wurde behauptet, sie habe die Kinder auf eine Mitglied­schaft bei der ELN vorbereiten wollen. Und im Fall von Sára, der Tochter, hieß es, dass Vorsichts­­maßnahmen getroffen werden müssten, um Aktionen der ELN zu verhindern. Sára hat aber nur denunziert und öffentlich gemacht, dass auf ihrem Land Koka angebaut wurde und wie die Dynamik des Drogenhandels das Leben in der Gemeinde zerstört hat. Das alles sind historische Strukturen. Aber wir kennen die Vorgehens­weisen der Regierung schon. Wir hoffen, dass die Justiz Fortschritte macht, und tun alles, was in unserer Macht steht, um zu zeigen, dass Tulia und Sára Gemeinde­führerinnen sind, und dass die Verteidigung von Menschenrechten kein Verbrechen ist.

Welche Rolle habt und hattet ihr als Gemeinden in dem bewaffneten Konflikt wirklich?
In den kritischsten Momenten des bewaffneten Konflikts – in Anwesenheit der FARC – war unsere Rolle als Gemeinden einerseits, dass wir umsiedeln mussten, um uns zu schützen, andererseits Widerstand zu leisten, ebenfalls um uns zu schützen. Wir sahen das als Zwangs­umsied­lung an. Wir haben es geschafft, unser Leben zu verteidigen, aber nicht, unser Leben zu leben. Es gab Organisationen, die bestimmten, wann wir umziehen mussten oder wann es besser war, Widerstand zu leisten oder welcher Teil der Bevölkerung eines von beidem tun sollte. Wenn wir das nicht täten, würden wir nicht mehr existieren. Wir haben keine Alternative. In der aktuellen Situation nach dem Abkommen ist der Konflikt nicht zu Ende, aber man kann nicht leugnen, dass es weniger geworden ist, dass wir ein bisschen mehr Luft zum Atmen haben.Was ist unsere Rolle jetzt? Wir wollen die Umsetzung des Abkommens. Denn mitten im Krieg mussten wir die Zwangsrekrutierung unserer Gemeinde­mitglieder in die Reihen der Guerillas miterleben. Wir können nicht leugnen, dass es auch freiwillige Teilnahme gab. Aber in der Mehrheit war es erzwungene Teilnahme durch Zwangs­rekrutierung. Weil viel Druck ausgeübt wurde, da es keine Alternativen gab.

Wie gehen die Gemeinden mit diesen Menschen um?
Wir bereiten uns darauf vor, diejenigen wieder aufzunehmen, die eigentlich Teil unserer Gemeinde sind, aber die es irgendwann nicht mehr waren. Weil auch sie verwundet wurden. Und hier gibt es einen langen Prozess des Verständnisses, der neuen Auslegungen, dass diejenigen, die dort waren und jetzt wieder zurück kommen, keine Fremden sind, sie sind Teil unserer Gemeinden. Aber das ist nicht einfach. Es ist einfach zu sagen, aber schwer umzusetzen. Das ist eine Herausforderung bei der Schaffung von Frieden. Wir bereiten uns darauf vor, sie in Empfang zu nehmen, damit unsere Brüder als Teil der Gemeinde von Neuem eine Beziehung zum Zivilleben aufbauen können, damit sie nicht etwas Abgesondertes von uns sind. Einerseits. Dann gibt es den Prozess mit der Regierung: Wie befreien wir sie vom illegalen Anbau, also vom Koka-Anbau? Das hat etwas mit der Dynamik der Regierung zu tun.

Was bedeutet der Wahlausgang für Sie? Von Iván Duque ist zu erwarten, dass Teile des Friedensabkommens rückgängig gemacht werden.
Unsere Positionen sind weiterhin die, die unsere Vorfahren uns gelehrt haben. Um weiterhin Widerstand zu leisten und zu überleben, müssen wir daran festhalten, in unseren Gebieten, die wir seit unseren Ahnen bewohnen und die uns gehören, Frieden zu schaffen. In diesem Sinne ist es egal, welcher Kandidat die Präsidentschaft der kolumbianischen Republik antritt – unsere Rolle besteht darin, weiterhin zum Frieden beizutragen, indem wir aktiv an der Entwicklung von Abkommen teilnehmen und Protagonisten sind. Dazu kommt aber, dass wir weiterhin auf unserem Land ausharren müssen, denn selbst wenn wir im Friedensprozess aktiv an den Abkommen zwischen FARC und Regierung mitwirken, gibt es weitere Kriegsdynamiken in unseren Gebieten und andere Konfliktsituationen; Gewalt, wie eben wirtschaftliche Megaprojekte an den Häfen oder der Abbau von natürlichen Ressourcen.


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