Identität | Nummer 315/316 - Sept./Okt. 2000

„Wir wissen, wer wir sind“

Ein Interview mit Carlos Fuentes über mexikanische Identität, Demokratisierung und die Möglichkeiten von Literatur

Carlos Fuentes, einer der bekanntesten
Schriftsteller Mexikos und Lateinamerikas, hat mehr Zeit seines Lebens außerhalb von Mexiko zugebracht als innerhalb. Nicht nur, dass er 1928 in Panama-Stadt geboren wurde (sein Vater war Diplomat): Er lebte zunächst in den USA, Argentinien und Chile, verbrachte ab seinem 16. Lebensjahr einige Jahre in Mexiko und studierte dann in Mexiko-Stadt und Genf Jura. In den 60er und 70er Jahren war er vielfach im Ausland tätig, so 1975–77 als mexikanischer Botschafter in Paris. Seit einigen Jahren verbringt er die eine Jahreshälfte schreibend in London und lebt die andere reisend-öffentlich in Mexiko, den USA und anderswo.
Trotz der räumlichen Ferne zu Mexiko gilt Fuentes als wichtige Stimme dieses Landes, in seinen Werken beschäftigte er sich immer wieder ausführlich mit dessen alter und neuerer Geschichte (so auch in seinem kürzlich auf Deutsch erschienenen Buch Die Jahre mit Laura Díaz, vgl. Rezension in LN 312). Inwiefern fühlt er sich selbst als Mexikaner, was bedeuten ihm die An- und Abwesenheit in seinem Land? Ist er nicht genauso gut US-Amerikaner, Lateinamerikaner, Kosmopolit?

Ann-Catherine Geuder / Valentin Schönherr

Sie haben einen großen Teil Ihrer Kindheit in den USA verbracht; erst als Sie 16 Jahre alt waren, zogen Sie nach Mexiko.
Nun gut, wir haben ja auch lange in Chile und in Argentinien gelebt. Als ich mit meinen Eltern in Washington wohnte, fuhr ich jedes Jahr in den Ferien drei Monate zu meinen Großmüttern nach Mexiko.
Haben Sie sich damals schon als Mexikaner gefühlt?
Ja, klar. Die Gringos haben dafür gesorgt, dass wir uns als Mexikaner gefühlt haben!
Haben die Gringos Sie für einen Chicano, einen mexican-american gehalten?
Nein, den Begriff von den Chicanos gab es damals noch nicht, wir sprechen ja von den 30er Jahren, das war eine andere Welt. Ich war einfach Ausländer. Mein bester Freund in der Schule war ein jüdischer Junge, der mit seiner Familie vor den Nazis geflohen war. Über den machten sich alle lustig, aber wir gehörten zusammen, weil wir die Ausländer in der nordamerikanischen Schule waren.
Sie leben auch heute viel Zeit im Jahr außerhalb Mexikos, in London und an anderen Orten. Meinen Sie, dass Sie nach wie vor eine mexikanische Stimme sind, dass Sie für andere Mexikaner sprechen können?
Ich beabsichtige nicht, für irgendjemand anderen als mich selbst zu sprechen. Andere können sehr wohl für sich sprechen, sie brauchen mich nicht. Absolut nicht. Aber ich habe ein großes Publikum in Mexiko, ich reise oft zu Vorträgen und Lesungen dorthin, immer sind die Plätze voll besetzt. Ich stehe ständig in Kontakt mit der Jugend meines Landes, so dass von einem Fremdgewordensein keine Rede sein kann.
Was aber Ihre langjährigen Aufenthalte in den USA anbelangt: Könnte man Sie nicht als mexican-american bezeichnen?
Mich? Nein, auf keinen Fall. Ich bin Mexikaner, nichts weiter.
Worin besteht der Unterschied?
Der Unterschied besteht darin, dass ich keinen Identitätenkonflikt habe wie die Chicanos. Ich muss mir keine Grundrechte erkämpfen, die der US-amerikanische Staat den Chicanos vorenthält. Ich bin mir über meine mexikanische Staatsbürgerschaft völlig im Klaren. Für einen Chicano hingegen gibt es zahlreiche Probleme – mit der Persönlichkeit, mit der Staatsbürgerschaft, mit der Kultur.
Wenn man in mexikanischen Zusammenhängen von Identität spricht, landet man schnell bei dem Konzept der mexicanidad (Mexikanität), das Octavio Paz und andere entwickelt haben. Glauben Sie, dass es so etwas gibt wie „das Mexikanische“? Was könnte das sein?
Ich denke, das ist inzwischen ein geklärter Begriff. Die mexikanische Identität ist geklärt, wir wissen, wer wir sind, woher wir kommen, was wir getan haben; das stellt kein Problem mehr dar. Das ist zu großen Teilen das Verdienst von Leuten wie José Vasconcelos, Alfonso Reyes, Octavio Paz und vielen anderen Soziologen, Philosophen und Schriftstellern. Die derzeitige Herausforderung besteht aber nicht in der Identität, sondern in der Diversität. Das Problem ist für uns Mexikaner nicht mehr, wer wir sind, sondern worin wir uns unterscheiden, und wie wir die Diversität respektieren – die religiöse, die der Rasse, die politische, die ideologische. Das ist heute die Frage.
Können Sie erkennen, dass das Konzept der Diversität einen Niederschlag in den Medien, in der öffentlichen Kommunikation hat?
Es gibt einen Prozess der Demokratisierung in der mexikanischen Gesellschaft. In den Medien können sich sehr unterschiedliche politische und ideologische Positionen artikulieren, die Frauen- und die Schwulenbewegung haben enorm an Kraft gewonnen, gewerkschaftliche Autonomiebestrebungen werden immer stärker gegenüber der eisernen Kontrolle des PRI-kontrollierten Gewerkschaftsdachverbandes CTM, und die Welt der Kommunikation hat sich diversifiziert. Vorher gab es praktisch ein Monopol des staatlichen Fernsehens, heute nicht mehr. Die Presse kann heute sehr frei kritisieren und sich artikulieren, früher ging das nicht, denn die Regierung kontrollierte das Papier, und wer nicht loyal war, bekam kein Papier.
All das ist Vergangenheit. In Mexiko herrscht ein viel demokratischeres Klima; was dem Land allerdings fehlt, ist eine tiefreichende demokratische Kultur. Das liegt daran, dass wir eine fast durchgehende Tradition des Autoritarismus haben, mit kurzen Unterbrechungen: Juárez und Madero. Der Rest, seit Moctezuma, ist Autoritarismus. Deshalb ist es schwierig, von heute auf morgen eine demokratische Kultur zu schaffen.
1995 haben Sie gesagt, Mexiko bedürfe einer Modernisierung, und dazu müsse sich die Demokratie auf die mexikanische Tradition stützen. Was haben Sie damit gemeint? Wie kann sich die Demokratisierung auf die Tradition stützen? Welche Rolle spielt dabei die indigene Bevölkerung?
Eine Demokratie, die sich nicht auf die eigenen Fundamente des Landes stellt, bleibt eine Erfindung, ein Überbau. Nun gut, angesichts der Probleme der Globalisierung hat man immer gesagt: Die Globalität nützt gar nichts, wenn ihr keine Lokalität zur Seite steht. Genauso ist das bei dem Problem, das Sie ansprechen, bei der Demokratisierung: Wir müssen an die Fundamente des Landes gehen. Das sind in Mexiko die kleinen ländlichen Siedlungen, die Dörfer, die Gemeinden, die indigene Welt.
Wenn von dorther nicht die Demokratie erwachsen kann, dann entsteht sie auch nicht einfach aus dem Überbau des Kongresses und der Parteien in Mexiko. Die Demokratie muss auf der Gemeindeebene praktiziert werden, frei von der Peitsche der PRI, der Kaziken, der Korruption, der paramilitärischen Banden, frei von allem, was die Demokratie auf der untersten Stufe behindert. In den Provinzen wohnt immer noch die Mehrheit der mexikanischen Bevölkerung. Wenn sich die Demokratie dort nicht erkämpfen lässt, dann wird die Demokratie im ganzen Land auf tönernen Füßen stehen.
Glauben Sie, dass die Literatur eine bedeutende Rolle in diesem Demokratisierungsprozess spielen kann?
Selbstverständlich. Warum befehlen Diktatoren, Bücher zu verbrennen, Schriftsteller zu verhaften, zu foltern, zu ermorden, sie ins Exil zu treiben? Das wird schon seinen Grund haben, nicht? Ich will damit sagen, das Wort und die Imagination sind etwas, das zählt. Ich spreche dabei nicht von doktrinären politischen Positionen, von Engagement, sondern von der simplen Tatsache des Schreibens, des Erfindens, davon, sich in die Welt der Sprache zu vertiefen, in eine Sprache, die nicht nur “ja” sagt, sondern manchmal auch “nein”. All das hat große Bedeutung, und von Zeit zu Zeit kann das den Machthabern ganz schön zu schaffen machen.
Interview:
Ann-Catherine Geuder /
Valentin Schönherr

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