Identität | Nummer 275 - Mai 1997

Wo bitte geht’s nach Babel?

Am Rio Grande blühen die Subkulturen

Die legale und illegale Migration von Lateinamerika in die USA erhitzt die Gemüter in den Staaten. In den letzten Jahren schlägt sich in den letzten Jahren in zunehmender Fremdenfeindlichkeit und in Gesetzesänderungen nieder. In Lateinamerika und ganz besonders beim direkten Nachbarn bewegt die kulturelle Dimension der Invasion aus dem Norden die Gemüter immer wieder. Schlagworte vom Verlust nationaler Identität oder dem Ausverkauf indigener Kultur werden ins Spiel gebracht. Für die Grenzgänger ist das mitunter eine Phantomdebatte, die abseits der realen Lebensumstände geführt wird. Sie betonen die globale Dimension des Phänomens. Rubén Martínez, in Mexiko-Stadt lebender Chicano, wirft mexikanischen Intellektuellen vor, die Flexibilität der MigrantInnen zu unterschätzen und althergebrachte Mythen zu pflegen. Mit diesem Essay setzt die LN die lose Reihe zum Thema Globalisierung und lateinamerikanische Identitäten fort (vgl. LN 270, Canclini Interview, und LN 260, Essay von Carlos Monsiváis).

Rubén Martínez

Gospel aus: Die Schriften des Apostel

.. da erschienen über ihnen gespaltene Zungen
wie aus Feuer und blieben bei jedem von ihnen
und sie waren alle erfüllt vom Heiligen Geist
und begannen mit anderen Zungen zu sprechen

Ein Cholo, ein Mestize, von der Purépecha-Hochebene schlendert die Hauptstraße von Nahuatzen hinunter. Er treibt greise Großmütterchen und Landarbeiter in schmutzigen Stiefeln vor sich her. Seine Kappe mit dem Emblem des Football-Teams “Oakland Raiders” sitzt mit dem Sonnenschild nach hinten auf seinem Kopf, den er sich im typischen East-L.-A.-Stil hat scheren lassen. Er trägt Nike-Sportschuhe und tiefsitzende baggy-Jeans. Seinen Oberkörper schmückt ein ärmelloses T-Shirt, das den Blick auf eine tragikomische Figur freimacht, die als Tattooe auf seiner Schulter prangt. La vida loca, das verrückte Leben ist dort zu lesen.
Er geht mit seinen Kumpels in eine Spielhölle und verbringt eine geschlagene Stunde damit, Ninjas, Schwarze und Araber zu töten. Jedesmal, wenn er einen der Bösen tötet, brüllt er: “En la madre, motherfucker!” Dann besteigt er seinen ranfla, einen schrottigen 79er Datsun mit North-Carolina Nummernschild und kreuzt, cruiseando, durch die Stadt und trällert dabei einen dieser goldenen Oldies: “My angel baby, my angel baby, oooh, I love you, yes I do….” Um acht, zum Geläut der Kirchenglocken, macht er sich auf nach Hause, wo seine Großmutter auf ihn wartet. Sie hat ihre Haare im traditionellen Stil in Zöpfe geflochten. Sie begrüßt ihn in Tarasco, der Purépecha-Sprache, und dieser harte Junge von jenseits der Grenze antwortet ihr mit höchstem Respekt in der alten Sprache.
Sie sitzen im Wohnzimmer, schalten ihren mit einer Satellitenschüssel verbundenen Samsung-Farbfernseher ein und verbringen einige Stunden vor dem Schirm, watchando MTV, CNN, und die telenovela “De pura sangre”.

Jenseits der Grenze ist diesseits der Grenze

Zurück in Los United, den USA: Ich kenne einen jungen Chicano, dessen Familie vor 20 Jahren eben jene Purépecha-Hochebene verlassen hatte, um als Erntehelfer zu arbeiten. Bei der Salaternte in Watsonville/Kalifornien, der Wassermelonen-Ernte in Kentucky, der Tabakernte in North-Carolina und der Orangenernte in Florida. Nachdem sie für eine Zeit lang in Nebraska für die Eisenbahn und in Dallas als Putzkolonne in einem Hotel gearbeitet hatte, ließ sie sich in Südkalifornien nieder. Dort brachte sie ihre Papiere in Ordnung und kaufte ein bescheidenes Heim im San Fernando Valley, zärtlich auch North Hollywood, Michoacán getauft.
Dieser junge Mann war ein herausragender Schüler, er liebt Biologie und studiert nun im dritten Jahr an der Universität von Kalifornien in Los Angeles. Er spricht perfekt Englisch und Spanisch und beherrscht sogar ein paar Brocken Tarasco. Früher hörte er leidenschaftlich gern Death-Metal- und Trash-Musik. Heute gehört er der Studentengruppe Moviemento Estudiantil Chicano de Aztlán (MEChA) an. Jedes Wochenende verbringt er in den Wäldern des Los Padres-Parkes, einer gebirgigen Gegend nördlich von Los Angeles. Dort lehrt ein alter Indianer vom Stamm der Chumash die jungen Chicanos die indianischen Traditionen und predigt von einem spirituellen Krieg, in dem die Rasse der Bronzefarbenen wieder ihre Würde erlangt.
Dieser junge Mann, gleichsam ein Purépecha und ein Chicano, geht nach dem Schwitzhüttenritual in Los Padres nach Hause. Dort verbringt er mit seinen Eltern und Geschwistern ein paar Stunden vor dem Fernseher und schaut MTV, CNN und die telenovela “De pura sangre”.

Gospel: Aus den Abenteuern von La Gaby (skandalöserweise unterdrückt von Kardinal Ratzinger), dem heißesten Jalisco-Transvestiten im La Plaza, einer Schwulenbar für Latinos in Hollywood.

Meine Liebe
wir sind immer im Aufbruch
spalten uns entzwei
reißen uns auseinander
dadurch, daß wir aufbrechen
es ist ein nie endendes Ich-gehe-wir-gehen
das uns nirgendwohin und überallhin bringt
oh mein Süßer! Aber Du bist so hübsch

Würden wir Mexikaner die Gegenwart durch die Linse der Vergangenheit betrachten, wir würden behaupten, unsere nationale Identität sei einmal mehr den Yankee-Invasoren und ihrem Freihandel ausgesetzt. Und wir würden behaupten, jede Satellitenschüssel sei eine direkte Herausforderung für das Königreich Ihrer Heiligkeit, der Jungfrau von Guadalupe. Wir würden weiter sagen, Chicanos seien nichts weiter als ein Haufen von Pochos, die kein Recht hätten, sich Mexikaner zu nennen und daß die Narco-Cholos, die Drogenmafia aus Michoacán die nationale Seele unseres geliebten Mexikos bedrohten. Wir würden sagen: Was für eine Schande, daß Menschen aus Purépecha MTV, CNN und “De pura sangre” glotzen, anstatt ihr Stückchen Maisfeld barfuß und mit den Gerätschaften ihrer Ahnen zu beackern.

Großstadt und Moderne formen neue Identitäten

An allen, die noch immer glauben, es existiere eine scharf gezogene Grenze zwischen dem, was Mexikaner, was Indios, was Mestizen und was Chicanos ausmacht, ist die Geschichte vorbeigerauscht. Wer immer noch der Vorstellung vom spirituellen Indio nachhängt, verneint den Indio der Gegenwart. Indios können so modern sein wie jeder postmoderne Großstädter unseres Planeten. Tatsächlich leben sogar mehr Indios in Städten als auf dem Land, und eine große Zahl lebt jenseits der Grenze in den USA.
Die Indios in den Schaukästen des Museums für Anthropologie und Geschichte in Mexiko-Stadt, die von Mestizen so bewundert werden, sind neugieriger, beweglicher und weitaus mehr mit der Moderne in Berührung als ihre Bewunderer. Die Indios sind diejenigen, die auf der anderen Seite im Norden arbeiten, die mit neuen Fernsehern und Videorecordern zurückkommen. Mestizen lamentieren oft über einen Verlust ihrer indigenen Vergangenheit und betrachten Chicanos und ihre angebliche Identi-tätskrise als tragischen Fall. Aber alle, die einen “Verlust des Mexikanischen” bei Chicanos zu sehen glauben, wissen nicht allzuviel über sich selbst. Chicanos sind in vielen Dingen “mexikanischer” als die Mittelklasse von Mexiko-Stadt, deren Blick ohnehin schon immer eher nach Paris oder New York ging.
Die mexikanische Mittelklas-se hat auf das falsche Pferd gesetzt. Sie glaubt, die Zukunft liege im Norden, also in den USA oder Europa, und die Vergangenheit in der Purépecha-Hochebene oder im Lacandonischen Urwald oder der Sierra Tarahmara. Die Wahrheit ist, daß Raum und Zeit solch primitiven Grenzen nicht länger gehorchen. Die Zukunft liegt auf beiden Seiten der Grenze, genauso wie die Vergangenheit und die Gegenwart überall ist: Satellitenschüssel und Cholos in Michoacán, neo-indianische und mestizische Fußballmanschaften in Kalifornien. Alles ist in Bewegung, alles ändert sich, alles bleibt. Anscheinend sind die einzigen, die sich in dieser rauhen See wohl fühlen, die Indios und die Chicanos. Sie haben verstanden, daß Zukunft und Vergangenheit in der Gegenwart zusammen existieren.
Mehr als ein Identitätsverlust ist eine Fortschreibung der mestizaje, der Prozeß der Mestizierung, zu beobachten. Indios und Chicanos können sich dabei ein Kultur-Paket eigener Wahl zusammenstellen. Kultur ist ein Organismus, der sich einer neuen Umgebung anpassen muß, um zu überleben und zu wachsen. So bleibt der junge Mixteke, der in Fresno, Nordkalifornien lebt, weiter ein Mixteke – auch wenn er die Sprache seiner Ahnen nicht mehr spricht. Schon der Philosoph Oswald Spengler erkannte, daß sich Landschaften kontinuierlich an neu entstehende Organismen anpassen. So ist das auch in diesem Fall. Heute konsumieren Gringos mehr Salsa als Ketchup, um ein eher oberflächliches Phänomen aus der Gastronomie heranzuziehen. Es steht ersatzweise dafür, wie abhängig die Gringo-Gesellschaft ökonomisch und gesellschaftlich bereits von den Latinos in den USA ist.

Stereotype des Indigenen produzieren Opferrollen

Die Zukunft wird nicht zwangsläufig die Vergangenheit auslöschen. Tradition und Moderne können sich in der Gegenwart ineinander verschränken. In den Städten der Purépecha-Hochebene mag das Haus mit der Satellitenschüssel einer bruja, einer Hexe, gehören, die “Krankheiten des Bösen” mit Kräutern oder durch Tarot-Legen heilt. Oder es lebt dort ein dreisprachiger – Englisch, Spanisch und Tarasco – Teenager, der genauso auf traditionelle Musik der Region, die pirecuas, wie auf die Hard-Core Band Transmetal steht.
Diesen gesamten Prozeß als schädlich für die kulturelle Gesundheit zu betrachten, ist nichts anderes als das Bild vom passiven Indio als Opfer der Geschichte zu pflegen. Und das ist so ziemlich das schlimmste Stereotyp, das Mestizen über indianische Identität geschaffen haben.
Vor ein paar Monaten kam eine junge, engagierte Frau aus Los United nach Mexiko. Ihre Eltern waren einst von Indien in die USA emigriert. Sie trug einen dieser merkwürdigen Rucksäcke, den Gringos und Europäer haben, wenn sie die Dritte Welt bereisen (als ob sie zu einer Safari aufbrächen, auf der Suche nach Elefanten oder Eingeborenen). Sie fand Mexiko-Stadt furchtbar. “So viele weiße Menschen”, sagte sie. So viel Lärm, so viele Lichter, so viele Gebäude, so viele Autos.
So machte sie sich auf den Weg zu den Tzotziles in Chiapas. Sie brauchen keinen Strom, kein Fernsehen, keine Bücher oder Schuhe, erklärte sie begeistert. Sie leben “au naturel”. Wie cool!
In ähnlicher Weise erfinden Mestizen aus Mexiko-Stadt Mythen über die Indios, um sich selbst modern zu fühlen. Schuld daran sind Minderwertigkeitskomplexe gegenüber Gringos und Europäern.
Es ist der Gipfel der Verlogenheit, wenn sich ein Großstadt-Mestize als Nationalist produziert und vor Fremden zum Verfechter des Neo-Indigenen wird. Als ich das erste Mal vor gut zehn Jahren nach Mexiko-Stadt kam, behandelten mich Uni-Professoren und Linke paternalistisch. Armer Chicano, hieß es. In Deiner Heimat, den USA, leidest Du unter der Geisel des Rassismus. Hier in Mexiko haben wir keine Identitätskrise. – Nun macht mal halblang!
Wir Chicanos (oder in meinem Fall Chicano-Salvadorianer, der in Los Angeles geboren ist und in Mexiko-Stadt lebt) wissen, so ein bißchen wie Buddhisten, daß Stabilität ein Zustand von Bewegung ist. Menschen, die sich nicht bewegen, sterben.
Das ist nun gerade das Gegenteil vom Motto der letzten Operation der Border Patrol (der US-amerikanischen Grenzpolizei): Bleibt draußen und ihr bleibt am Leben! Aber es gibt viele Mexikaner, die wissen, daß am Leben bleiben in Bewegung bleiben bedeutet – ökonomisch, kulturell, sprachlich, sexuell.
Unter Berücksichtigung all dessen präsentieren wir: Das Programm der Wetback-Partei, der Partei der nassen Hintern:

Das Problem ist nicht die Sprache, die wir sprechen oder der Akzent, mit der wir sie sprechen.
Das Problem ist die Grenzpolizei.
Das Problem ist nicht, daß wir schwul, hetero, bi oder Transvestiten sind.
Das Problem ist AIDS.
Das Problem ist nicht, ob wir Katholiken, Pentecostals oder Sufis sind.
Das Problem ist die fehlende Toleranz und die Tatsache, daß der Staat, die katholische Kirche und andere Gruppen aus Wirtschaft und Gesellschaft Intoleranz fördern, indem sie das falsche Bild von einer homogenen Nation vor sich hertragen.
Das Problem sind nicht die Straßenverkäufer, die Prostituierten oder die Drogenabhängigen.
Das Problem ist der Neoliberalismus, der viele Menschen alleine läßt, ohne jede Chance, ökonomisch oder kulturell am Prozeß der Globalisierung teilzuhaben. Profitieren kann die Mittelklasse in den USA und in Europa, die so gerne Salsa tanzt oder beim Thai ißt.

Gospel aus dem Buch von La Licuadora (ebenfalls skandalöserweise von Kardinal Ratzinger unterdrückt), der größte und härteste der Schlepper von Cherán, Michoacán.

Sie haben uns ganz schön zugesetzt diese Arschlöcher,
die Gringos von der Migra, aber
paßt auf das nächste Mal, denn jetzt
sind wir mit mehr bewaffnet als mit Wasser
an unseren Hintern
Sie nennen mich nicht umsonst “The Blender”

In den USA werden gleichmacherische Unwahrheiten vom konservativen und liberalen Establishment und auch von der extremen Linken verbreitet. So wurde zum Beispiel behauptet, daß mit einer Latino-Mehrheit in einigen US-Großstädten, die Bewegung progressiver Latinos, la raza, politische Macht in den Händen halten könnte, um sich fremdenfeindlichen Vorhaben wie beispielsweise der Proposition 187 in Kalifornien (vgl. LN 246) entgegen zu stemmen oder der infamen von Präsident Clinton abgezeichneten Reform der Sozialhilfe (vgl. LN 268) zu widersetzen. Und tatsächlich jagten die neuen Latino-WählerInnen Kaliforniens bei den Wahlen im November 1996 den Kongreßabgeordneten “B-1” Bob Dornan, ein Republikaner und Nativist, aus dem Amt und wählten eine junge Demokratin – fast überflüssig zu erwähnen, daß es eine Latina war, Loretta Sanchez.
Aber wir Latinos in Los United sind keine homogene Gruppe. Wir sind Salvadorianer und Guatemalteken, Kubaner und Puerto-Ricaner. Honduraner und Kolumbianer und Nicaraguaner, und unter den Mexikanern muß man unterscheiden zwischen denen, die erst vor kurzem ankamen, denen der zweiten und denen der dritten Generation und schließlich noch den Hispanos New Mexicos, deren Wurzeln im Südwesten Jahrhunderte zurückreichen. Und mehr noch: Wir gehören zur Mittelklasse und zu den Arbeitern, wir sind Weiße und Schwarze und Indigenas, Katholiken, Pfingstler und Juden. Wir sind das, was wir auch auf der anderen Seite des Grenzzaunes sind.

Mythos der Latino-Identität

Es ist schwer sich vorzustellen, daß die Kubaner Miamis immer einer Meinung mit den Chicanos Kaliforniens sind oder die Migranten aus Zacateca stets mit denen aus Michoacán klarkommen; es sei nur an die Auseinandersetzungen der beiden letztgenannten in St.Louis im Bundesstaat Missouri erinnert, bei denen es Dutzende Tote und Verletzte gab.
Auf beiden Seiten des Rio Grande sind wir in einen schnell voranschreitenden Prozeß der mestizaje verstrickt. Kulturen und Subkulturen blühen dort wie die tausend Blumen Maos. Dieser Prozeß erschafft gleichzeitig neue Utopien und neue Apokalypsen.
Ein Beispiel aus Compton – diesem Stadtteil im Süden von Los Angeles, berühmt auf der ganzen Welt wegen seiner afro-amerikanischen Gangs und Rapper wie Ice Cube oder Niggars With Attitude (NWA): Dort drohen neu angekommene Latinos, die meisten von ihnen aus Mexiko und Zentralamerika, die alte angestammte afro-amerikanische Gemeinde zu vertreiben. Während sich dieser demographische Wandel vollzieht, stehen sich auf den Straßen Comptons zwei Realitäten gegenüber. Einerseits gibt es einen Rassen- und Klassenkonflikt zwischen Schwarzen und Latinos: Die Konkurrenz um die wenigen schlecht bezahlten Jobs in Südkalifornien: “Pinches mayates” – “Scheiß Nigger” – sagen die Mexikaner zu den Schwarzen. “Scheiß Naßärsche”, ist die Botschaft in die andere Richtung.
Aber aus dieser scheinbar apokalyptischen Situation entstehen auch neue Möglichkeiten. Vor zwei Jahren wurde auf der Compton High School ein junger Salvadorianer Vorsitzender des Schülerrates. Er wurde es mit Stimmen von Latinos und von Schwarzen. Warum? Weil der Junge Spanisch und Englisch spricht. Weil er auf Rap, auf Oldies, auf Boleros und auf Rock steht. Weil seine Freundin schwarz ist. Weil er praktisch im Barrio geboren ist (er kam dorthin als er sechs war) und weil er sowohl das Englisch der Afro-Amerikaner wie auch Spanisch spricht.
Wir haben die Gegenwart zweimal und wir haben die Zukunft zweimal.

Abschied vom American Dream

Das Chaos eines modernen Babel oder eines neuen Pfingsten, in dem jeder jeden verstehen wird, obwohl wir letztenendes alle verschiedene Sprachen sprechen. Was uns mit dem neuen Babel droht, ist die ökonomische Kluft, wegen der Randgruppen um die Brosamen der neuen Wirtschaftsordnung streiten müssen, eine Ordnung, die sicherlich einer Mehrheit nicht den Zugang zum American Dream bringen wird. Das gilt für Mexikaner in New York, Afro-Amerikaner in Chicago, Türken in Frankreich, Nigerianer in England und Purépechas in Michoacán. Die Verzweiflung wächst und damit auch die verzweifelten Versuche zu überleben: Grenzüberquerungen in Arizona mit dem Risiko in der Wüste zu verdursten, Gefahren, in den Drogenhandel zu geraten, in die Prostitution, in den Straßenverkauf, all die tausend Wege, vom Schwarzmarkt zu leben. Oder sich Luft verschaffen durch Gewalt gegen seinesgleichen, wie die Zakateken und Michoacaner, die sich in St. Louis gegenseitig die Köpfe einschlagen, oder die mexikanische Gang “18th street” und die salvadorianische “Mara Salvatrucha”, die um den Stadtteil Pico-Union im Zentrum von Los Angeles kämpfen.

Zersplitterung als logische Folge der Vielfalt

Politische Einheit unter Latinos wird es, wenn überhaupt, immer nur zeitlich begrenzt, für den Moment geben. Der Kampf gegen Proposition 187 in Kalifornien ist dafür ein gutes Beispiel. Wenige Tage vor dem Referendum, mit dem 1994 die gesetzlichen Bestimmungen für ImmigrantInnen verschärft wurden, demonstrierten mehr als 100.000 Menschen in Los Angeles gegen die Proposition, unter ihnen viele Chicanos und Salvadorianer, von der ersten bis zur dritten Generation. Nachdem das Referendum verloren war, löste sich die Bewegung auf. Verzweiflung und Frust können Menschen zusammenbringen, aber sie können auch die Fragmentierung beschleunigen. Heute sind wir zersplitterter denn je. Das ist schrecklich und schön zugleich. Wenn die falschen, gleichmacherischen Konstrukte der Vergangenheit zusammenbrechen, wird das Bewußtsein für unsere Vielfalt, die Toleranz hoffentlich wachsen.
Wenn das “ursprüngliche, wahre” Mexiko nicht mehr existiert, was kann diese Lücke schließen? Wenn der melting pot, der Schmelztiegel, nicht existiert, wie können wir den American Dream wieder erschaffen?
Das ist nicht die Zeit um altes Geschwätz aufzuwärmen oder den Kopf hängen zu lassen. Es ist Zeit, unser Konzept von Identität, Toleranz und Demokratie zu erweitern.
Entscheidend dabei ist es, einen Weg zu finden unsere Prozesse kultureller und sozialer Migration mit unserer sozioökonomischen Situation zu verbinden und dabei gleichzeitig Bündnisse über die Grenzen von Rasse und Ethnie hinweg zu schmieden.
Denn wie sie in Chiapas sagen: Wo es Hunger gibt, kann es keine Demokratie geben. Oder wie eines der Kids aus Purépecha sagen würde: Wenn es keine Arbeit gibt, laß uns einfach auf die andere Seite gehen!

aus: NACLA Jan/Feb 1997
Übersetzung: Martin Ziegele

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