„Wohin mit den abgetriebenen Träumen?“
Daniel Maximins Roman Sonnenschwarz taucht tief in die karibische Geschichte ein
In diesem Roman steckt Geschichte. Schon im Schicksal der deutschen Übersetzung spiegelt sich das Zeitgeschehen: Die erste Ausgabe erschien im Juni 1990, vierzehn Tage vor der Währungsunion, im Ostberliner Verlag Rütten & Loening. Wie viele andere DDR-Titel verschwanden auch einige Tausend schön gemachter, preiswerter Exemplare dieses Romans – damals unter dem Titel “Sonne mutterseelenallein” – über Nacht aus den Lagern und Buchhandlungen und damit vom Buchmarkt. Erst 2004, im Sklaverei-Gedenkjahr der Vereinten Nationen, ist er in überarbeiteter Fassung wieder erschienen. Damit könnte die Geschichte neuen Schwung gewinnen, zumindest die Publikationsgeschichte Daniel Maximins: L’Isolé soleil, so der klangvolle Originaltitel, ist nur der erste Band einer 1987 durch Soufrières und 1996 durch L’Ile et une nuit komplettierten Romantrilogie.
Historisch ist aber zuallererst das Thema des Romans selbst. Daniel Maximin versucht darin nichts weniger, als eine Version – seine Version – von zweihundert Jahren Kolonialgeschichte darzulegen, vermittelt durch eine weitverzweigte Familie, die sich zwischen dem Mutterland und der Karibikinsel hin- und herbewegt. Ausgangs- und Endpunkt des Romans ist ein Briefwechsel zwischen dem jüngsten Spross dieser Familie, Marie-Gabriel, und ihrem in Paris lebenden Freund Adrien. Darin tauchen sie andeutungsweise, wie zur Probe, in die Familiengeschichte hinab. Sie stoßen auf Marie-Gabriels Vater, der 1943 von Guadeloupe flieht – die Insel ist von den Anhängern des Nazi-freundlichen Pétainregimes besetzt – und in die USA entkommt, ein widerständiger Jazzmusiker. Der Tod ereilt den Vater 1962, als er mit einem Passagierflugzeug am Vulkan der Inselgruppe zerschellt. Mit an Bord: zwei Kämpfer für die guadeloupische Autonomie. Wir befinden uns mitten in der Welle des antikolonialen Befreiungskampfes, der auch Guadeloupe streift.
Guadeloupe ist nicht Haiti
Nachdem also ein paar Pfosten angebracht sind, zwischen denen die Geschichte verlaufen wird – der Jazz wird eine Rolle spielen, der Widerstand und das schmerzhafte Fehlen von Widerstand (die Insel gehört bis heute zu Frankreich), die enge Verknüpfung von individuellem und kollektivem Schicksal – taucht der Roman weit hinab in die Zeit um 1800. Die Französische Revolution ist der Auslöser dafür, dass sich die französischen Antillen von Sklaverei und kolonialer Herrschaft befreien. Was in Haiti gelingt, scheitert hingegen auf Guadeloupe. Denn anders als in Haiti, wo die napoleonischen Truppen, die die Macht wiedererlangen und die Sklaverei wieder einführen sollen, in die Flucht geschlagen werden, übergibt der aufständische General auf Guadeloupe die Insel den Franzosen kampflos. Nur eine kleine Truppe widersetzt sich und sprengt sich schließlich mit den Angreifern in die Luft.
Bei diesen Kämpfen, die als demütigende Katastrophe erscheinen, sind Marie-Gabriels Vorfahren dabei. Passage um Passage bewegt sich der Text nun mit der Familie in Richtung Gegenwart: über eine Rebellionsbewegung 1843, die durch ein Erdbeben noch verstärkt wird, über die Abschaffung der Sklaverei durch das französische Parlament 1848 – die bewusst um zwei Monate verzögert wird, damit die Sklaven noch die Zuckerernte einbringen – bis hinein ins 20. Jahrhundert. Die an einschneidenden Ereignissen nicht gerade reiche Geschichte der Insel gewinnt ihre Bedeutung im reflektierten Erleben des Einzelnen, in der wohl ewig relevanten Frage danach, wie den Einzelnen die Geschichte prägt und welchen Stempel der Einzelne selbst der Geschichte aufdrücken kann. Dass die Geschichte einer Familie genügt, um die Welt zu zeigen, diesen Gedanken führt Maximin überzeugend aus.
Wo der Säbel hängen sollte
Der Roman ist jedoch doppelt gewebt. Maximin unterstreicht die Vielstimmigkeit der familiären Erinnerung, in dem er von Kapitel zu Kapitel eine andere Textsorte, eine andere Sprechweise und Perspektive wählt: mal einen Briefwechsel, mal die auktoriale Erzählung, mal ein Tagebuch, immer wieder eingestreute Originalzitate wie Reden, Verse, offizielle Berichte oder Verlautbarungen. Das Scheitern vor den napoleonischen Truppen wird beispielsweise in elf kurzen Abschnitten erzählt, die jeweils durch ein Sprichwort zusammengefasst werden („Hänge deinen Säbel stets dorthin, wo deine Hand ihn greifen kann.“).
Als Höhepunkt des Romans in formaler wie inhaltlicher Hinsicht könnte das Kapitel „Siméas Tagebuch“ gelten. Siméa, die Mutter der eingangs erwähnten Marie-Gabriel, lebt 1939 in Paris, wo sie in den Kreisen der afrikanischen und karibischen Intellektuellen verkehrt. Hier wird von Dichtern wie Aimé Césaire aus Martinique, Léon-Gontrand Damas aus Guayana und anderen das Konzept der négritude entwickelt. Es wird ein neues, antikoloniales schwarzes Selbstbewusstsein gefordert und formuliert. Just 1939 erscheint Césaires epochales Langgedicht Notizen von einer Rückkehr ins Land der Geburt, das Siméa mit ihren Freunden begeistert aufnimmt.
Sie selbst befindet sich zu dieser Zeit in einer tiefen persönlichen Krise: Eine Schwangerschaft wurde aus Gründen der „Familienehre“ durch eine erzwungene Abtreibung beendet. Sie leidet grauenhaft unter dem Verlust des Kindes: „Dein Leichnam aus meinen Trümmern gezerrt“, schreibt sie. Bei Césaire nun findet sich, bezogen auf die schwarze Misere der Gegenwart, folgender Satz: „Niemand weiß, wohin mit seinen abgetriebenen Träumen.“ Für Siméa gewinnen solche Formulierungen ganz wörtliche Bedeutung. Sie spricht mit ihrem „abgetriebenen Traum“ wie mit einem lebendigen Kind, und sie kehrt schließlich in ihr „Land der Geburt“ zurück. Was Césaire als Konzept formuliert hat, lebt sie. Daniel Maximin liefert hier eine Begründung und Würdigung der négritude, die nicht nur als Erzählung ergreifend, sondern auch literaturgeschichtlich höchst intelligent ist und ganz nebenbei die Frage aufwirft, warum jemand wie Césaire heute, wenn überhaupt, nur noch in Universitätsseminaren gelesen wird.
Erzählt mit eigenem Herzblut
In der Gegenwart der sechziger Jahre und wieder bei Marie-Gabriel angelangt, bleiben eine Menge Fragen offen. Sonnenschwarz ist ein Buch, das Zeit braucht, Zeit zum Lesen und zum Blättern, zum Wirkenlassen, Zeit für den Gang in die Bibliothek, wenn man Césaire und Co. nicht zu Hause hat. Je länger man es bei sich trägt, umso stärker wirken die einzelnen Szenen, die sich nicht unbedingt beim ersten Lesen erschließen. Das sollte man sich nicht entgehen lassen.
Dennoch ist zu befürchten, dass das Buch nicht genügend wahrgenommen werden könnte. Warum? Es fängt zu schwierig an. Maximin, der die assoziativen, bei den Expressionisten anknüpfenden Formulierungen liebt, überfrachtet die ersten Seiten, und wer das Buch mal schnell anliest, wird es kopfschüttelnd wieder weglegen. Warum noch? Es passt nicht zum Zeitgeist und dürfte im “großen” Rezensionsfeuilleton kaum eine Rolle spielen. Dort werden derzeit skeptische Städter, Reisende und Krimistoffe bevorzugt. Wer mit eigenem Herzblut eine Geschichte des Widerstands erzählt, fällt leicht unter den Tisch, und wer sich dabei nicht marktgängig ausdrückt, erst recht. Sollte das so sein, wird es weder eine zweite Auflage noch eine Taschenbuchausgabe geben. Man lese Sonnenschwarz also am besten jetzt, bevor es aus den Lagern wieder verschwindet.
Daniel Maximin: Sonnenschwarz. Aus dem Französischen von Klaus Laabs. Rotpunktverlag, Zürich 2004, 409 Seiten, 22,50 Euro.
Daniel Maximin wird an den Literaturtagen im schweizerischen Solothurn (6. bis 8. Mai) teilnehmen.