Argentinien | Nummer 373/374 - Juli/August 2005

Zurück zur Normalität

In den zwei Jahren Kirchner-Regierung hat sich das Land außergewöhnlich schnell stabilisiert

Néstor Kirchner ist Argentiniens erster gewählter Präsident nach dem Zusammenbruch des Landes 2001. Kaum jemand gab ihm eine Chance. Doch hat er es in der ersten Hälfte seiner Amtszeit geschafft, das Land zu stabilisieren. Nun muss es wieder aufgebaut werden. Keine leichte Aufgabe.

Antje Krüger

Als der argentinische Präsident Néstor Kirchner am 25. Mai vor zwei Jahren sein Amt antrat, hatten nur 22 Prozent der WählerInnen auf ihn gesetzt. Der Peronist kam als kleineres Übel in den Präsidentenpalast. Er war ein Niemand, der Provinzler aus Feuerland – wie sollte der schon das krisengeschüttelte und korrupte Argentinien aus dem Dreck ziehen?
Das Chaos des Zusammenbruchs ist in Argentinien unvergessen und doch klingt das Wort Krise heute schon nach „Damals“. Wir erinnern: Damals im Dezember 2001 hatte der tausendfache Lärm von Topfdeckeln in nur einer Woche fünf Präsidenten aus dem Amt gefegt. Grund war eine unkontrollierbar gewordene Wirtschaftskrise. Als unhaltbare Lüge erwies sich die an den Dollar gekoppelte Währung. Argentinien ging bankrott und wertete den Peso ab. Die Wirtschaft kollabierte, Fabriken schlossen, es war kein Geld mehr im Umlauf. Dass das Land nicht einmal vier Jahre später politisch wieder gestärkt und wirtschaftlich im Aufschwung sein würde, glaubte damals niemand.
Doch Argentinien ist zur Normalität zurückgekehrt. Wenn auch zu einer Normalität, die hinnimmt, dass heute noch immer die Hälfte der Bevölkerung in Armut lebt. Das Gefühl von überwundener Vergangenheit hat verschiedene Ursachen. „Argentinien ist wieder halbwegs stabil mit einem starken Präsidenten. An den politischen Strukturen hat sich nichts grundle-gend geändert, so dass es scheint, es gehe so weiter wie bisher. Der Überlebenskampf, der vor vier Jahren auf die Straße getragen wurde, ist hinter die Wohnungstüren ins Verborgene zurückgekehrt. Man glaubt, die Krise wäre Vergangenheit“, erklärt die Politologin Cecilia Lucca.

Große Popularität

Der vor zwei Jahren belächelte Präsidentschaftskandidat legte schnell einen ungeahnten Charakter an den Tag. Der Peronist erwies sich als außerordentlich volksnah. Genau das, was Argentinien brauchte. Kirchner brach mit der Tradition der Selbstbeweihräucherung seiner Vorgänger und ging Themen von großer Popularität an, was ihm gleich in den ersten Monaten seiner Amtszeit die Zustimmung von über 80 Prozent der Bevölkerung einbrachte. Die immer gleichen Szenen wiederholen sich bis heute, egal, wo Kirchner hinkommt. Von allen Seiten greifen die Hände nach ihm. Eine Frau hält ihn umarmt, ein Kind streichelt das schüttere, graue Haar. Fast erdrücken sie den Mann mit den schiefen Augen, dem kleinen Mund und der gekrümmten Nase, der sich an kein Protokoll hält, der seine Krawatten an die Arbeiter verschenkt, wenn sie ihn darum bitten. Den Herren mit dem Sprachfehler, dem die Worte holpernd von den Lippen kommen, dessen Reden weder glatt noch schön, dafür aber Klartext sind.
Lange war Kirchner das Sinnbild für einen Präsidenten, wie er sein sollte. Ungewohnt in Argentinien. „Ich hätte nicht gedacht, dass es überhaupt noch ehrliche Politiker in unserem Land gibt. Aber Néstor Kirchner scheint ein ernsthaftes Interesse daran zu haben, dass es uns besser geht“, sagt Lidia Barone aus Buenos Aires. Ihr Bruder Aldo zweifelt trotzdem. „Man sagt, er versuche die Medien zu manipulieren. Er dränge auf Erfolgsmeldungen und blendet aus, was ihm nicht gefällt“, widerspricht der studierte Psychologe. Immer wieder kommen leise Zweifel an der Aufrichtigkeit der Regierung auf. Argentinien ist zu sehr vom Korruptionssumpf geprägt, als dass wahrhaftiges Arbeiten in der Politik für möglich erachtet wird. „Ein Problem für das Image von Néstor Kirchner ist, dass es in seiner Regierung Mitarbeiter gibt, die noch den alten Strukturen angehören. Der Bruch mit dem etablierten Machtapparat ist nicht ausreichend“, erklärt der Journalist Miguel Bonasso.
Die Rechtsstaatlichkeit in Argentinien ist nicht garantiert, Bestechlichkeit an der Tagesordnung und Misstrauen kennzeichnet die Menschen.

Auslandschulden
und Menschenrechte

Höhepunkte von Kirchners bisheriger Amtszeit waren die rigorose Ächtung der Verbrechen der Diktatur in Argentinien (1976-1983), deren Täter bislang politisch geschützt wurden, der Kampf gegen die Korruption, der unter anderem zu Absetzungen von Führungsriegen in der Polizei oder dem Obersten Gerichtshof und zu vielfältigen Prozessen führte. Und die unnachgiebige Haltung seiner Regierung bei der Schuldenfrage.
Das Thema Auslandsschulden ist in der argentinischen Gesellschaft derartig präsent, das jetzt sogar ein Museum dazu eingerichtet wurde. Argentinien hatte mit 132 Milliarden US-Dollar Schulden 2002 die Zahlungsunfähigkeit erklärt. Im März diesen Jahres wurde nun die größte Umschuldungsaktion aller Zeiten abgeschlossen. Danach verzichteten 76,07 Prozent der Anleger auf etwa 65 Prozent ihrer Forderungen. Insgesamt über 100 Milliarden US-Dollar Anleiheschulden plus aufgelaufener Zinsen. Zwar hatten einige Fonds noch versucht, die Aktion juristisch zu stoppen, doch ist seit Mitte Mai nach einer Entscheidung eines US-amerikanischen Berufungsgerichtes der Weg zur Umschuldung frei.
Und mit einem weiteren Verhandlungserfolg erreichte Wirtschaftsminister Roberto Lavagna vor wenigen Tagen, dass der Internationale Währungsfonds (IWF) die Frist der bis April 2006 fälligen Zahlung von 2,51 Milliarden US-Dollar um ein Jahr verschob – eine Atempause für das Land. „Wir müssen die dringenden sozialen Probleme der Bevölkerung angehen. Sie haben Priorität vor der Rückzahlung der Schulden”, begründete Kirchner die harten Verhandlungen.
Auch beim Thema Menschenrechtsverbrechen der Diktatur konnte Kirchner sich mit seiner Linie letztendlich durchsetzen. Kirchner ging vehement gegen zwei Gesetze vor, die bislang die gerichtliche Verfolgung der Verbrechen der Diktatur behinderten. Schon kurz nach seinem Amtsantritt ließ er das Befehlsnotstands- und das Schlusspunktgesetz in Kongress und Senat für ungültig erklären. Beide Gesetze wurden 1986 und 1987 vom ersten nach der Diktatur gewählten Präsidenten, Raúl Alfonsín, verabschiedet.
Das Befehlsnotstandsgesetz sprach sämtliche Militärangehörige niederer Ränge von ihrer Verantwortung an den Verbrechen der Diktatur frei, da sie Befehle ausführen mussten. Und das Schlusspunktgesetz setzte seinem Namen getreu einen Schlusspunkt unter die bis dato laufenden Verfahren gegen die Juntamitglieder. Nun erklärte auch der Oberste Gerichtshof die Gesetze für verfassungswidrig. Damit sind diese nicht nur politisch geächtet, sondern der Weg für neue Prozesse ist nun frei. Präsident Néstor Kirchner begrüßte die Entscheidung als einen „frischen Wind“.
Nun wird mit einer Flut von Verfahren gerechnet. Im Verteidigungsministerium wird geschätzt, dass mehr als 500 Militärangehörige mit Vorladungen vor Gericht rechnen müssen und deshalb eine gewisse Unruhe in der Armee herrsche. Insgesamt sitzen derweil schon über 120 Militärs in Haft.
Doch damit sind langsam alle medienwirksamen Rundumschläge getan. Was folgt, ist ein Weg der kleinen Schritte, das Begonnene weiterzuführen. Und hier macht sich trotz verschiedener Erfolge wie einem Wirtschaftswachstum von 7,1Prozent in den ersten vier Monaten des Jahres ein Gefühl der Stagnation breit.

Kirchners einziger Trumpf

Der politische Apparat ist der gleiche geblieben. Der schon heftig geführte Parlamentswahlkampf (Oktober 2005) läuft wie eh und je. Am stärksten wird um die Provinz Buenos Aires gerungen. Hier regiert Kirchners Gegner Eduardo Duhalde mit einem mafiösen Machtapparat. Nun soll die Präsidentengattin Cristina Fernández de Kirchner die wichtigste aller Provinzen gewinnen. Laut Umfragen hat sie bislang weitaus die besten Chancen.
Kirchner selbst stilisiert derweil die Wahlen zu einem „Plebiszit“ über seine Amtsführung hoch. Der Rückhalt im Volk ist sein einziges Machtinstrument. Denn der Präsident hat seine Partei nicht geschlossen hinter sich. Bei den Peronisten (PJ) machen sich verschiedene Strömungen die Vorherrschaft streitig. Um so wichtiger ist für Kirchner anderweitige Unterstützung, die er ursprünglich in einem breiten Bündnis außerhalb der PJ gesucht hatte.
Auch der ausufernden Korruption wird Kirchner nicht wirklich Herr. Wie normal Bevorteilung in Argentinien war und ist, zeigen die jüngsten Enthüllungen im Skandal um zusätzliche Politikergehälter in der Ära Carlos Menem (1989-1999). Damals wurden an Regierungsmitglieder monatliche Beträge zwischen 30.000 und 100.000 US-Dollar zusätzlich zum Gehalt gezahlt. Diese Plünderung öffentlichen Vermögens ist über geheime Dekrete und Gesetze legitimiert worden, die auch Kirchner nicht abschaffen will.
Aus diesen Gründen ließ auch die Popularität des Präsidenten ein wenig nach. Denn zudem ist trotz Wirtschaftsaufschwung und verschiedenster sozialer Maßnahmen wie Lohn- und Rentenerhöhungen und eines umfangreiches Wohnungsbauprogramms eine wirkliche Verbesserung der Lebensverhältnisse vor allem der armen Bevölkerung noch nicht zu spüren. Hinzu kommt die Angst vor einer fortschreitenden Inflation. Momentan liegt die Verteuerung jährlich bei rund acht Prozent. Auf diese Besorgnis erregende Entwicklung antwortet die Regierung Kirchner mit der Einführung eines „sozialen Warenkorbs“. So sollen die Kosten der Grundnahrungsmittel unter Kontrolle gehalten werden.
Die fast einheitliche Zustimmung zur Politik von Néstor Kirchner ist einer ersten Kritik gewichen, zumal ein konkreter Regierungsplan für die nächsten zwei Jahre nicht zu erkennen ist. Trotzdem würden für Kirchner, sollte am nächsten Sonntag gewählt werden, rund 58 Prozent der ArgentinierInnen stimmen. Noch immer eine gute Basis für die zweite Hälfte des Mandats von Präsident Néstor Kirchner in einem Land, das selten an einem Strang zieht.

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