Mexiko | Nummer 391 - Januar 2007

Zwei Präsidenten und eine Krise

Nach dem Amtsantritt von Felipe Calderón drohen neue Konflikte

Aufstände in Oaxaca, Tumulte im Parlament und ein „alternatives Kabinett“: In Mexiko steht die politische Landschaft in Flammen. Durch einen Überraschungscoup hat sich Felipe Calderón zum Präsidenten wählen lassen. Den sozialen Bewegungen droht er mit verstärkter Repression.

Juliane Schumacher/Anne Becker

Um 9.46 Uhr ist er auf einmal doch da: Durch die Hintertür betritt Felipe Calderón Hinojosa am 1.Dezember den Plenarsaal des Abgeordnetenhauses, eskortiert von seiner Leibgarde. Die anderen Zugänge versperren Abgeordnete der oppositionellen PRD, vergeblich haben sie versucht, die Vereidigung des zukünftigen Präsidenten zu verhindern. Die Amtsübergabe geht unter in den euphorischen „Mexiko!“-Rufen seiner An­hängerInnen und dem Protestgeschrei der Opposition. Keine fünf Minuten später verlässt Calderón den Saal wieder, als Präsident der Vereinigten Mexikanischen Staaten.
Calderóns Auftritt im Parlament ist ein Bild für die momentane Situation des Landes, schreibt die mexikanische Tageszeitung La Jornada am nächsten Tag: Er kommt durch die Hintertür und übernimmt das Amt des Präsidenten inmitten von Tumulten, unter dem Schutz bewaffneter Einheiten.
Denn die Krise reicht weit über das Parlament hinaus. Seit Calde­rón, Kandidat der konservativen Partei der Nationalen Aktion PAN, am 2.Juli offiziell die Präsidentschaftswahlen mit einer hauchdünnen Mehrheit für sich entschieden hat, ist Mexiko politisch entzwei gerissen. Sein Gegenkandidat Andrés Manuel López Obrador („AMLO“) von der Partei der Demokratischen Revolution PRD, hat das Wahlergebnis wegen Unregelmäßigkeiten bei der Wahl nicht anerkannt.
Nachdem das Wahlgericht im September eine Neuauszählung der Stimmen verhindert hat, ließ er sich von seinen AnhängerInnen zum „legitimen Präsidenten“ Mexikos küren. Zehn Tage vor Calderón übernahm López Obrador dasselbe Amt. Am 20.November, dem Tag der Revolution, verlas er vor einer jubelnden Menge auf dem Zócalo sein Programm: Priorität für die Armen, Aufbrechen der Monopole der großen Unternehmen, Widerstand gegen die Privatisierung von Öl und Strom, Reform des umstrittenen Telekommunikationsgesetzes.
Er geizte nicht mit Schimpftiraden auf „die Mafia, die uns die Wahl geklaut hat“ und forderte ein wirkliche Volksregierung: „Die legitime Regierung soll das organisierte Volk sein!“ Dafür kündigte er an, ein Netz aus Millionen VertreterInnen aufzubauen, aus denen eine Demokratische Nationalversammlung zusammentreten soll. Alle Anwesenden lud er ein, „seine Repräsentanten“ zu werden.
Ein 12-köpfiges „alternatives Regierungskabinett“ soll zudem in Zukunft Initiativen zu aktuellen Fragen und Debatten erarbeiten und an die Abgeordneten des von der PRD angeführten Parteienbündnis „Frente Amplio Progresista“ (FAP) im Parlament weiterleiten. Die PRD ist die zweitstärkste Kraft im Parlament und stellt in einigen Bundesstaaten die Regierung. „ AMLOS Kabinettsmitglieder werden am ehesten als eine Art Berater von uns Parlamentariern fungieren“, sagt die PRD-Abgeordnete Elvia Medina. Sollte dies zutreffen, ist AMLOS „Schattenkabinett“ eher ein Think-Tank als eine Gegenregierung.
Für die PRD bedeutet AMLOs Projekt in jedem Fall eine Zerreißprobe. Schon jetzt haben sich drei der neun Strömungen in der PRD aus dem Projekt verabschiedet. Auch in der Gunst der BürgerInnen ist AMLO gesunken. Nur noch 20 Prozent befürworteten im November seine „legitime Präsidentschaft“, im September sprachen sich noch 60 Prozent der Befragten für ihn aus.

Erster Sieg für Calderón

Der Versuch der PRD, die Vereidigung von Calderón im Parlament zu stoppen, ist gescheitert. Schon Tage vor dem 1. Dezember besetzten die Abgeordneten von Calderóns PAN die Tribüne des Plenarsaals, um der PRD zuvorzukommen – diese hatte genau auf diese Art im September den damaligen Präsidenten Fox daran gehindert, seinen Regierungsbericht zu verlesen. Mit seinem überraschenden Auftritt im Parlament verbuchte Calderón den ersten Sieg. „Ich bin immer bereit zum Gespräch“, sagte er in seiner Antrittsrede, „aber ich werde nicht auf Gespräche warten, um mit der Arbeit zu beginnen“.
Von der Richtung, in die diese Arbeit gehen soll, zeugt sein Kabinett: Zum Finanzminister ernannte er den Technokraten Agustín Carstens, zuvor stellvertretender Direktor des Internationalen Währungsfonds (IWF). Er ist nicht der Einzige. Die Mehrheit der ins Wirtschaftsressort berufenen Personen blickt auf Posten in IWF oder Weltbank zurück. Die Börsen reagierten darauf als erste, sie verzeichneten Rekordwerte nach der Bekanntgabe von Calderóns Kabinett.
Dem Gesundheitsministerium wird künftig der José Córdoba vorstehen. Er gilt als radikaler Abtreibungsgegner und hat sich mehrfach für ein Verbot der so genannten „Pille danach“ eingesetzt. Am schärfsten kritisiert wurde die Berufung von Francisco Ramírez Acuña zum Innenminister. Der Ex-Gouverneur des Bundesstaates Jalisco ist für seine repressive Politik bekannt. Während des EU-Lateinamerika-Gipfels in Guadalajara 2004 waren Hunderte Jugendliche Opfer von Polizeigewalt und Folter geworden, Acuña als Gouverneur war für den Einsatz verantwortlich. Die Berufung von Acuña zum Innenministers sei ein „Zeichen von Calderóns Geringschätzung der Menschenrechte“, kritisierten Menschenrechtsorganisationen in einer Presseerklärung. Es sei zu befürchten, dass seine Politik eine der „Illegalität, Repression, Straflosigkeit und der Rückschritte in Sachen Grundrechte“ sein werde. Einen ersten Vorgeschmack gab Acuña bereits: Am 4. Dezember ließ er vier Mitglieder des Rats der Volksversammlung der Bevölkerung von Oaxaca (APPO) verhaften, darunter Flavio Sosa, einen der sichtbarsten Köpfe der Bewegung – einen Tag vor dem ersten Gesprächstermin mit dem neuen Personal des Innenministeriums (s. Artikel und Interview unten).
Die Berufung von Acuña ist somit ein deutliches Signal in Richtung Oaxaca. Die aus einem LehrerInnenstreik entstandenen Aufstände und ihre brutale Bekämpfung durch die Bundespolizei PFP standen die letzten Wochen im Zentrum der mexikanischen Öffentlichkeit. Die APPO fordert weiterhin den Rücktritt des umstrittenen Gouverneurs Ulises Ruiz von der Institutionellen Partei der Revolution PRI. Anstalten, der Forderung nachzukommen, macht Calderón nicht: Gleich an seinem ersten Amtstag dinierte er mit 19 Gouverneuren, Ruiz unter ihnen. Das Festhalten an Ruiz sei „der Preis, den Calderón für die Unterstützung durch die PRI zahlt “, schreibt La Jornada. Denn Calderóns PAN besitzt keine Mehrheit im Parlament. Um zu regieren, benötigt sie die Stimmen der PRI, diese fordert im Gegenzug, dass Ruiz Gouverneur bleibt. Wie Calderón den Konflikt in Oaxaca unter diesen Umständen beilegen kann, bleibt offen.
Derweil hat die neue Regierung im Bereich Bildung Ärger auf sich gezogen: Die Ankündigung, den Bildungsetat im kommenden Haushalt um 4,5 Millarden Peso (etwa 315 Millionen Euro) zu kürzen, hat in allen politischen Lagern Empörung ausgelöst. Unter der Kürzung leiden vor allem die staatlichen Universitäten, allen voran die Autonome Nationaluniversität UNAM. Auch in Mexiko-Stadt kündigen die LehrerInnen nun Streiks an, sollte Calderón an seinen Plänen festhalten.
„Weder Calderón noch seine Leute wollen anerkennen, wie dramatisch die Krise ist“, kommentiert Radio UNAM das Verhalten von Felipe Calderón am 1. Dezember. Dies sei das wirklich Besorgnis erregende Signal seines Amtsantritts.

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