Zwischen Gottes Menschenfreundlichkeit und neoliberalem Opferkapitalismus
Zur Theologie der Befreiung von Gustavo Gutiérrez
Zehn Jahre später, im Frühjahr 1998, geht die Nachricht durch die Medien, die römische Glaubenskongregation habe dem kirchlichen Vorgesetzten von Gutiérrez mitgeteilt, die von der vatikanischen Behörde bereits 1983 vorgetragenen Kritikpunkte an dem Buch seien noch immer nicht hinreichend geklärt und Gutiérrez’ Theologie der Befreiung stünde weiter unter Prüfung. Zwei Punkte vor allem kreiden römisch denkende Köpfe dem Peruaner an. Auf dem Gipfel des Streits um die Befreiungstheologie schoß zum Beispiel der damalige Kölner Kardinal Joseph Höffner 1984 auf den „Vater“ der Theologie der Befreiung: „Wer die marxistische Analyse kritiklos übernimmt, wird im Sozialismus auch die ideale Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung sehen“. Und der zweite Vorwurf: Wer nicht vor der Kategorie Klassenkampf zurückschrecke, gefährde damit unwillkürlich die Einheit der Kirche.
Der Reihe nach: Wenige Wochen vor der Medellíner Bischofskonferenz 1968 soll der Studentenseelsorger und Pfarrer des limenser Armenviertels Rimac in Chimbote einen Vortrag halten über eine mögliche Theologie der Entwicklung. Doch Gutiérrez überschreibt sein Referat Theologie der Befreiung. Er findet nämlich, die Kategorie Befreiung sei biblischer und umfassender als das Thema Entwicklung, wie es in den sechziger Jahren in aller Munde ist. Was ihn treibt, ist die Frage: Wie kann einem Volk, das über Generationen hin nichts als Menschenverachtung erfahren hat, glaubhaft vermittelt werden, daß Gott die Menschenfreundlichkeit ist (Titusbrief 3,4)? Als Deutemuster bietet sich ihm da die biblische Bildlichkeit von der Gefangenschaft des Volkes Israel in Ägypten und von seiner Befreiung durch Gott aus der Sklaverei an. Wichtig ist aber dabei, daß Situationsbeschreibung und mögliche Lösungsschritte nicht unvermittelt theologisch, sondern zunächst einmal gesellschafts- und humanwissenschaftlich erörtert werden.
Was Gutiérrez 1968 in Chimbote skizziert und was – unter anderem dank seinem Einfluß – auch Sprache der Bischöfe im kolumbianischen Medellín wird, entfaltet er dann in seinem mittlerweile in vierzehn Sprachen übersetzten Buch. Im Rückgriff auf die damals tonangebende Dependenztheorie führt er aus, Lateinamerika mit seinem „ausgeprägten Zweiklassensystem“ – wie Medellín dann in seinem Abschlußdokument (Frieden 3: marcado biclasismo) formuliert – sei in Strukturen von Abhängigkeit und Ausbeutung gefesselt. Die Länder steckten in institutionalisierter Abhängigkeit von ökonomischen Machtzentren außerhalb des Erdteils, was dazu führe, daß sie weder Eigentümer ihrer Güter noch Herren ihrer wirtschaftlichen Entscheidungen seien (vgl. Medellín, Frieden 8). Die weltweite Lage, die sich in jedem einzelnen Land aber noch einmal wiederhole, könne nicht treffender als mit dem der marxistischen Gesellschaftsanalyse entlehnten Begriff Klassenkampf beschrieben werden. Da sich die Klassenzerrissenheit aber auch innerhalb der Kirche auswirke, sei die Frage der Zuordnung von „Christlicher Brüderlichkeit und Klassenkampf“ unumgänglich. So schreibt Gutiérrez: „Unsere Liebe ist nicht echt, wenn sie nicht den Weg der gesellschaftlichen Solidarität und des Klassenkampfes geht … Man kann einfach nicht von der Einheit der Kirche reden, ohne die greifbaren Bedingungen ihrer Lage in der Welt zu berücksichtigen“ (264). Als mögliche Lösung bieten die Dependeztheoretiker die Dissoziation an, die Abkopplung der schwächeren Gesellschaften von der interkontinentalen Mechanik des liberalen Kapitalismus, verbunden mit dem Bemühen, aus der eigenen Schwäche, aber auch aus der eigenen Kultur und Kreativität Schritte in Richtung auf das eigene politische und ökonomische Subjektsein zu tun. Bezeichnend dafür ist ein anderer Buchtitel von Gutiérrez: „Die historische Macht der Armen“.
Im Prozeß einer umfassenden Befreiung lassen sich nach Gutiérrez drei Ebenen unterscheiden. Was wir hier bisher als politisch-ökonomische Analyse und Überwindungs- und Abkopplungsstrategie nachzuvollziehen versucht haben, entspricht demnach der ersten Ebene der wissenschaftlichen Rationalität. Aber Abhängigkeit und Ausbeutung haben auch eine Dimension der individuellen und kollektiven Entfremdung beziehungsweise – positiv gewendet – der Bewußtwerdung. Auf dieser zweiten Ebene – der der Utopie – siedelt Gutiérrez das ganze bewußtseinsbildende Engagement des brasilianischen Pädagogen Paulo Freire mit seinen Instrumenten von Anklage und Ansage an. Für glaubende Menschen gibt es darüber hinaus noch eine dritte Dimension, die des Glaubens oder der Theologie. Was sich wissenschaftlich erheben und mit psychologisch-pädagogischen Mitteln diagnostizieren läßt, heißt auf der Ebene des Glaubens Sünde bzw. in der positiven Version Heil. Gutiérrez’ theologische Handschrift läßt sich unzweideutig verfolgen bis in die Beschlüsse der Bischofskonferenz 1979 in der mexikanischen Stadt Puebla: „Befreiung erlangen wir durch die Teilhabe am neuen, von Jesus Christus gebrachten Leben … Bedingung dazu ist freilich, daß wir besagtes Geheimnis auf [allen] drei angedeuteten Ebenen leben, ohne auch nur eine davon auszuschließen. Dann kommt weder die verkürzte Vertikalisierung einer saft- und kraftlosen, [bloß] spirituellen Verbindung mit Gott dabei heraus … noch viel weniger ein [rein] sozio-ökonomisch-politischer Horizontalismus“ (Puebla Nr. 321-329).
Doch mittlerweile ist viel in der Welt passiert. Hatten Köpfe wie Gustavo Gutíérrez in Medellín den teilweise etwas unbedarften Bischöfen ihre analytische, theologisch-interpretierenden und pastoral-praxisorientierte Diktion andienen können, formiert sich jetzt die Reaktion. Der Vatikan rüstet zur Opposition und zieht seine Fäden zwischen Rom, dem Rheinland und Rio.
Inzwischen werden sich 400 Millionen Afroindiolateiner und Afroindiolateinerinnen zusehends der Tatsache bewußt, daß unter ihnen mindestens 60 Millionen Ureinwohner, 50-55 Millionen Nachfahren von aus Schwarzafrika importierten Sklaven und Dutzende von Millionen Mestizen leben. Von sich selbst sagt Gutiérrez: „Yo soy mestizo – Ich bin Mestize“. Und zudem sind mehr als die Hälfte all dieser Menschen Frauen! Den – männlichen – Befreiungstheologen dämmert, daß Unterdrückung und Befreiung nicht nur mit Soziologie und Politik zu tun haben, sondern auch mit Kultur und ethnischer Zugehörigkeit, mit Rasse und Geschlecht. Eine indianische und eine schwarze Theologie der Befreiung klingen an. Befreiungstheologinnen ergreifen das Wort. Unter der Überschift „In die Zukunft blicken“ denkt Gustavo Gutiérrez über all diese Herausforderungen und Chancen in der Neuauflage seiner „Theologie der Befreiung“ von 1988 nach.
Was der Peruaner vorzeitigen Tod nennt, geriert sich unterdessen immer dreister. Mehr als einmal prangert er die für die Kleinen mittelbar wie unmittelbar tödlichen Folgen der Außenverschuldung der armen Länder an. Während der Zusammenbruch des realexistierenden Sozialismus in Europa für die Habenichtse in Lateinamerika zunächst einmal nichts bedeutet, erweist er sich bei näherem Hinsehen dann jedoch als umso verhängnisvoller für sie. Stand in der bis dahin bipolaren Welt der liberale Kapitalismus in Rivalität mit dem etatistischen Sozialismus, baut sich in der nunmehr monopolaren Welt der Neoliberalismus mit Informatisierung und Globalisierung als der große Sieger auf. Ja, die sich mittlerweile aller sozialen Verpflichtungen immer entschiedener entledigende universalisierte Marktwirtschaft führt sich zunehmend als eine neue Religion auf, mit allen Instanzen von Verbindlichkeit und Verheißung. Wichtig vor allem auch der Begriff Opfer. Sprachen afroindiolateinische Christen und Christinnen bisher von capitalismo liberal beziehungsweise von liberalismo capitalista, hört man heute von capitalismo sacrifical, von Opferkapitalismus reden. Menschen müßten geopfert werden, weil das System ohne sie auskomme. Weil sie weder über Kaufkraft verfügten noch als Arbeitskräfte benötigt würden, seien sie überflüssig. Hatte der traditionelle Kapitalismus mit Unter-menschen operiert, produziert der globalisierte Neoliberalismus Nicht-menschen.
Die Gesellschaft hat sich eklatant verändert. Folglich hätten sich – so Gutiérrez – auch die Sozialwissenschaften verändert, und – wolle die Theologie nicht ihre gesellschaftliche Relevanz preisgeben – müsse auch sie sich ändern. Eines aber gilt, nicht nur für Gustav Gustiérrez, weiter: Die Armen – jetzt als Opfer des globalisierten und sakralisierten Neoliberalismus – haben nach wie vor Vortritt, weil sie ja die „Lieblingskinder Gottes“ sind (Puebla 1143. 743). Wen wundert’s da, daß Gutiérrez nun das Kapitel „Christlicher Brüderlichkeit und Klassenkampf“ der ersten Auflage seiner „Theologie der Befreiung“ mit „Glaube und gesellschaftlicher Konflikt“ über- und im angedeuteten Sinn umschreibt.
Zum Weiterlesen:
– G. Gutiérrez, Theologie der Befreiung, deutsche Ausgabe, München-Mainz (1. Aufl.) 1973; 1. bis 9. Auflage (1986) unverändert. Die 10. deutsche Neuauflage (Mainz 1992) entspricht der erweiterten und überarbeiteten peruanischen Auflage von 1988.
– G. Gutiérrez, Aus der eigenen Quelle trinken, München-Mainz 1986.
– G. Gutiérrez. Von Gott sprechen in Unrecht und Leid – Ijob, München-Mainz 1988.
– G. Gutiérrez, Die historische Macht der Armen, München-Mainz 1984.
– G. Gutiérrez. Gott oder das Gold, Freiburg-Basel-Wien 1990.
– H.-J. Venetz / H. Vorgrimler (Hrsg.), Das Lehramt der Kirche und der Schrei der Armen, Freiburg (Schweiz) / Münster 1985.
– H. Goldstein, Kleines Lexikon zur Theologie der Befreiung, Düsseldorf 1991.