Literatur | Nummer 306 - Dezember 1999

Zwischen Kolonialzeit, Gegenwart

Interview mit Jose Eduardo Agualusa

Ann-Catherine Geuder, Laurissa Mühlich

Nachdem Ihre frühe Prosa die kreolische Gesellschaft Angolas im 19. Jahrhundert porträtierte, waren Sie mit Estação das Chuvas in der angolanischen Gegenwart angelangt. Nun sind Sie mit Ihrem jüngsten Buch, Naçao Crioula ins 19. Jahrhundert zurückgekehrt. Wieso haben Sie die Gegenwart wieder verlassen?

Gerade in einem Land wie Angola ist es wichtig, über die Vergangenheit nachzudenken. Als ich anfing zu schreiben, gab es nur wenige historische Romane von angolanischen Schriftstellern. Es war sehr wichtig, die Menschen dazu anzuregen, daß sie über ihre Vergangenheit nachdenken, weil sie nicht viele Erinnerungen an ihre eigene Geschichte hatten, wie zum Beispiel an ihre eigenen Familien. Und obwohl die Handlung von Estação das Chuvas in der Gegenwart spielt, geht sie auch in die Vergangenheit zurück. Der zeitliche Rahmen des Buches ist weit.
Naçao Crioula beschäftigt sich wieder mit dem 19. Jahrhundert, das meiner Meinung nach von fundamentaler Bedeutung für das Verständnis des heutigen Angolas ist. Ohne das Wissen, wie die urbane Kultur in Angola entstand, kann man kaum verstehen, was Angola heute ist.

In Ihrem neuen Roman stellen Sie eine enge Verbindung zwischen Brasilien und Angola her. Wie kam es dazu?

Ich versuche zu zeigen, daß bis Ende des 19. Jahrhunderts eine sehr intensive Verbindung zwischen Brasilien und Angola bestand, die vielleicht sogar noch intensiver als die zwischen Angola und Portugal war. In dieser Zeit bildete sich eine gemeinsame Identität. Es gab viele Gemeinsamkeiten zwischen der angolanischen und der brasilianischen Identität, weil sie die ganze Zeit über in Kontakt standen. Das will ich zeigen. Außerdem will ich darstellen, welchen Einfluß die Brasilianer afrikanischer Herkunft im Kampf gegen die Sklaverei hatten. Das vergißt man normalerweise. Gerade in Brasilien. Obwohl man sich dessen bewußt ist. Die Intellektuellen wissen darum, aber geben ihr Wissen nicht an die breite Masse weiter.

Gibt es diese nahen Beziehungen zwischen Brasilien und Afrika heute noch?

Heute geht es eher um die Erinnerung. Brasilien kennt den gegenwärtigen afrikanischen Kontinent schlecht. Ich glaube, Brasilien schämt sich für Afrika, weil Afrika die Erinnerung an die Sklaverei repräsentiert. Und ich glaube, für die große Mehrheit der Brasilianer afrikanischer Herkunft ist dies die einzige Möglichkeit, ihre Würde wiederzuerlangen: indem sie die afrikanische Gesellschaft kennenlernen, die afrikanische Kultur und die Kraft dieser Kultur. Brasilien muß Afrika neu entdecken. Das muß auch politische Meinung sein, die Regierung muß diese Vergangenheit akzeptieren. Aber der Prozeß darf nicht von der Regierung oder politischen Kräften ausgehen, sondern muß aus der Gesellschaft selbst kommen. Ich denke, daß die Gesellschaft anfängt, diese Notwendigkeit zu sehen und ein Interesse für Afrika entwickelt.

Schreiben Sie auch, um einen Dialog zwischen den beiden Nationen anzuregen?

Ich glaube, ein Buch kann einerseits einfach als eine Geschichte, eine Erzählung gelesen werden, die irgendwann zu Ende ist. Aber ein Buch regt auch den Dialog an, Leute können sich über das Buch austauschen und ihre verschiedenen Wahrheiten diskutieren. Das ist gut, noch besser eigentlich.

Sie haben mit Fradique Mendes eine der bekanntesten Figuren der portugiesischen Literatur wieder zum Leben erweckt. Warum gerade ihn?

Das hat zwei Gründe. Zum einen als eine Hommage an Eça de Queiroz, der mich als Jugendlicher sehr stark beeinflußt hat. Und zum anderen einfach, weil ich eine Persönlichkeit wie Fradique brauchte, der ein Europäer war, mit einigen Vorurteilen gegenüber Afrika. Der jedoch Afrika kennenlernen wollte und sich dabei veränderte. Dieses Buch ist mit zwei Sichtweisen geschrieben, einer europäischen und einer afrikanischen. Denn ich brauchte genau diesen Gegensatz. Und Fradique eignet sich sehr gut dafür.

Die Perspektive ist also mehr zwischen Portugal und Angola, weniger zwischen Brasilien und Angola?

Auch! Ich glaube es ist ein Motiv, über alle drei Länder nachzudenken, weil diese zentrale Person Fradique ein Portugiese ist – mehr noch ein Europäer als ein Portugiese, weil er ein Portugiese aus Europa ist. Er lebt in Paris mit europäischen Vorstellungen, mit allen europäischen Vorurteilen dieser Epoche gegenüber Afrika. Und außerdem haben wir eine zweite Figur, Ana Olímpia, die auf einer realen Person, einer früheren Sklavin beruht, die die afrikanische Perspektive zeigt. Und später die Perspektive einer schwarzen Frau in Brasilien.

Sie sagten einmal, Sie hätten mit dem Schreiben begonnen, weil die Angolaner ihre Vergangenheit vergessen. Aber wie können Angolaner Sie heute lesen?

Es ist sehr, sehr schwer, weil die Mehrheit der Bevölkerung nicht lesen kann. Ich weiß aber, daß es oft vorkommt, daß eine Person, die lesen kann, für eine große Gruppe von Leuten liest. Ich selbst habe das im Krieg in Angola auch schon erlebt. Es existiert immer noch eine große Erzähltradition. Die aufgeschriebene Literatur ist ja eine Fortsetzung der mündlichen Erzählung. Die Mehrheit der angolanischen Bevölkerung lebt in totaler Armut, eine kleine Gruppe von Leuten hat sehr viel Geld, aber liest kaum. Außerdem gibt es noch eine kleine Gruppe mittelloser Intellektueller. Einige unter ihnen sind Dozenten, aber mit einem Universitätsgehalt kann man sich auch keine Bücher leisten. Mit Sicherheit lesen mehr Portugiesen, oder jetzt auch – hoffentlich – Deutsche mein Buch als Angolaner.

Begegnen Ihnen unterschiedliche Reaktionen in den drei Ländern?

Ich stelle keine großen Unterschiede fest. Aber der angolanische Leser liest natürlich andere Dinge heraus als der portugiesische. Für den brasilianischen Leser hat das Buch mehr brasilianischen Bezug durch die Orte. Der angolanische Leser versteht mehr den Rest, der tiefer geht, über die sozialen Konflikte in Angola im 19. Jahrhundert, Konflikte die bis heute andauern. Er wird das Buch sicher anders lesen als ein portugiesischer oder deutscher Leser.

Wie wurde in Brasilien auf Ihren Roman reagiert?

Die Reaktionen waren sehr gut, leider gab es auch einige Kritik. Ich glaube, daß die Brasilianer afrikanischer Herkunft das Buch durchaus beachten, da ein eigenes Bewußtsein entsteht. Dies ist sehr wichtig. Vor ein, zwei Jahren erschien eine Zeitschrift, die sich Raa do Brasil nennt. Sie war eine Riesenüberraschung. Denn in sehr kurzer Zeit verkauften sich mehrere tausend Exemplare. Durch sie gelangten die Afrobrasilianer in die öffentliche Diskussion, da auch die traditionellen Zeitungen anfingen, über sie zu berichten.

Was sind Ihre nächsten Pläne?

Ich schreibe an zwei neuen Büchern. Im Moment lebe ich in Indien, in Goa, weil ich neues Material für eines der Bücher suche. Es ist also ein etwas anderer Platz, obwohl die Hauptperson auch ein Angolaner sein wird. Außerdem schreibe ich an einem Buch, dessen Handlung hauptsächlich in Rio de Janeiro stattfindet, obwohl die beiden Hauptpersonen auch wieder Angolaner sein werden. Es wird sich mit den aktuellen, vorherrschenden Fragen Brasiliens beschäftigen, zum Beispiel mit dem Thema Rassismus.


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