Literatur | Nummer 397/398 - Juli/August 2007

„Wir leben in einer Bürgerkriegssituation“

Der brasilianische Schriftsteller Fernando Bonassi über soziale und literarische Realitäten

Fernando Bonassi ist einer der wichtigsten zeitgenössischen brasilianischen Schriftsteller, Bühnen- und Drehbuchautoren. 1962 in São Paulo geboren, erlebte er während seiner Jugend Aufstieg und Fall der brasilianischen Militärdiktatur und verarbeitete diese Erfahrungen in seinen Werken. Vorwiegend beschäftigt sich Bonassi mit den Themen Gewalt, Unterdrückung und Ausbeutung. Mit LN hat sprach er außerdem über manipulierte Erinnerungen und die Beamtenmentalität in der brasilianischen Literaturlandschaft.

Interview: Renata Martins

Worin besteht für Sie die Funktion der Literatur?

Brasilien ist ein Land ohne Vergangenheit. Wir pflegen keine Traditionen. Die Herangehensweisen der brasilianischen Literatur sind im Hinblick auf die Rekonstruktion der Vergangenheit oft reaktionär. Der historisch-brasilianische Roman ist reaktionär, weil wir eine reaktionäre und volksfremde Geschichte haben. Das Erbe Brasiliens ist verschlissen. Die Einkommensverteilung ist sehr schlecht, die Großgrundbesitzer haben das Land über 450 seiner 500 Jahre Geschichte beherrscht und beherrschen es in gewisser Weise immer noch. Das globalisierte Bild einer gerechten Landwirtschaft, das der Kapitalismus in der Dritten Welt verkaufen will, ist eine Lüge. Ich stimme nicht damit überein, dass man in einem Land wie diesem zurückblicken und etwas Konstruktives erkennen kann, weil da nichts ist. Das ist Teil unserer Originalität. Da wir über keine Traditionen verfügen, können wir, ästhetisch gesehen, auf das setzen, was wir wollen. Das Gute daran, Amerikaner zu sein, im weiteren Sinne der drei Amerikas, ist, dass wir keine Traditionen haben und das gibt uns Freiheit im Akt des Erschaffens. Ich schreibe aus folgendem Grund: Für mich ist die Literatur ein Prozess der Humanisierung, eine Humanisierung meiner selbst und des Lesers. Beim Lesen durchlaufe ich eine Katharsis, eine seelische Reinigung, und vermeide es, etwas zu tun, was diese oder jene Figur falsch macht. Schreiben ist menschlich, ist moralisch, im besten Sinne ethisch herausragend. Im Grunde besteht die Beschäftigung von uns Schriftstellern darin, unsere Erziehung zur Menschlichkeit mit anderen zu teilen.

Für Sie ist Brasilien ein Land ohne Traditionen. Vor wenigen Monaten hat das brasilianische Militär die Zerstörung aller geheimen Akten aus der Diktaturzeit (1964 – 1985) öffentlich gemacht. Ist Brasilien heute folglich auch ein Land ohne Erinnerungen und Zeugnisse seiner Vergangenheit?

Ich denke nicht, dass es in Brasilien kein kollektives Gedächtnis, keine Erinnerung gibt. Im Gegenteil: Was Sie beschreiben, ist ein selektiver und systematischer Prozess der Auslöschung schmerzlicher Erinnerung. Als ich das Drehbuch zum Film „Carandiru“ geschrieben habe, habe ich die Untersuchung über das feige Massaker, das in der gleichnamigen Haftanstalt stattfand, gelesen. Es war ein Ausbruch barbarischer Gewalt von Seiten der Polizei. Die Situation damals war harmlos, weil keine Geiseln genommen wurden. Trotzdem wurden dort 111 Menschen durch Schüsse in den Nacken hingerichtet. Die Haftanstalt wurde einige Zeit nach dem Vorfall aufgelöst. Es gibt diesbezüglich keine Erinnerungslücke, aber es sind Erinnerungen, die auf eine bestimmte Art und Weise konstruiert werden müssen. Es gibt eine Elite, die über die Macht verfügt – auch über die Macht der Information. Es sind dieselben Personen, dieselben wirtschaftlichen Kräfte, welche die finanzielle und politische Macht auf sich konzentrieren, auch wenn die Diktatur nicht mehr existiert. Diese Akteure wählen die Erinnerungen aus, die sie aufrecht erhalten wollen. Dass wir uns nicht erinnern, ist eine Lüge. Es gibt einen Zirkel der Mächtigen, die systematisch die für sie bedrohlichen Erinnerungen auslöschen wollen.

Wird das Land Brasilien überhaupt noch demokratisch regiert ?

Wenn ich Demokratie so definiere, dass ich sagen und schreiben kann, was ich denke, würde ich sagen, dass es eine Demokratie ist. Aber ohne eine gerechte Einkommensverteilung kann ich nicht an Demokratie glauben. Ich als Sozialist meine, dass alle Menschen über die gleiche materielle Grundlage verfügen sollten. In Brasilien ist das nicht so. Es findet hier grundsätzlich keine Bewegung im Sinne einer Umverteilung der Einkommen innerhalb des Sozialpaktes statt. Solange ein Polizist 500 Euro monatlich für die Ausübung dieses riskanten Berufes verdient, solange ein Lehrer für 8 Stunden Arbeit täglich 200 Euro im Monat bekommt, sind Verbesserungen der Gesellschaft nicht möglich. Wir leben in einer Bürgerkriegssituation, die sich in Kürze verschärfen wird.

Während der Frankfurter Buchmesse 1994, als Brasilien Gastland war, haben Sie eine ziemlich polemische Bemerkung gemacht: Sie sagten, in Kürze werde die gleiche Welle der Gewalt und Verrohung, die Lateinamerika und andere Länder mit ungleicher Einkommensverteilung erreicht hat, auch über Europa hinweg rollen.

Daran habe ich nicht den geringsten Zweifel. Der Bau der Mauer in der spanischen Exklave Ceuta auf dem afrikanischen Festland in Marokko, den Spanien gerade durchführt; die Gesetze, die ImmigrantInnen aus der Dritten Welt den Zugang nach Europa verweigern, sind Signale der europäischen Furcht. Nur wird diese Furcht nichts nützen, denn sie wird das Problem nicht lösen. Solange die Länder der Dritten Welt unter dem Druck der Globalisierung zu leiden haben, wird es ein Übermaß an verelendeten Arbeitskräften geben, die von dort wegziehen. Und keine Mauer in Ceuta und kein Einwanderungsgesetz von Tony Blair wird die Einwanderung der Dritten Welt nach Europa verhindern, so wie sie gerade passiert.
Ich schreibe gerade an einem Buch, das ich bald veröffentlichen werde: „Diário da Guerra em São Paulo“ (Tagebuch des Kriegs von São Paulo). Darin geht es um einen Jungen, der in São Paulo lebt. Am ersten Tag dieses Tagebuchs schreibt er, wie die Regierungstruppen São Paulo verlassen. Ich glaube, dass das hier wirklich eintreten wird. Das ist im Sudan bereits geschehen, genau wie es in Äthiopien geschieht: Die Menschen werden im Stich gelassen, während die internationale Staatengemeinschaft ihre Hände in Unschuld wäscht und Gangs, die bis dahin im Untergrund operierten, die Macht übernehmen. Das ist die gleiche Vorgehensweise, die auch in Brasilien praktiziert werden wird. Ich fand es gut, dass wir Truppen nach Haiti geschickt haben. So kann das Militär schon einmal sehen, wie Brasilien in Zukunft aussehen wird. Es ist gut, dass diese Truppen bereits im Voraus eine Erfahrung unserer zukünftigen Situation machen. Die schlechte Wohlstandsverteilung in unserem Land ist unerträglich.

KritikerInnen meinen, die gegenwärtige Literatur Brasiliens sei nichts weiter als eine Sammlung von Agenturmeldungen über die blutige Realität des Landes. Sehen Sie das ähnlich?

Das wichtigste Phänomen in Brasilien war der Eintritt der Peripherie in die Hochkultur. Zum Beispiel durch einen großartigen Film wie „Cidade de Deus“ (City of God), ein Meisterwerk, das die schrecklichen Zustände in Brasilien veranschaulicht. Einer der besten brasilianischen Filme, der jemals auf internationalen Festivals zu sehen war. Dennoch, auf ein Kunstwerk wie dieses kommen Hunderte von Machwerken, die dieses Klima der Gewalt unzureichend wiedergeben. Es gibt brasilianische Kunst, die ein niedriges Niveau hat, was Intelligenz und Risikofreude angeht.
Die Hochkultur und die literarische Kultur des Landes ist Mitte-Rechts-Kulturgut: Darunter sind großartige, wundervolle Schriftsteller und Schrifstellerinnen, aber sie kamen alle aus dem Bürgertum. Ein Problem der brasilianischen Literatur besteht für mich darin, dass ein gewisser Prozentsatz der Schriftsteller Beamte waren und sind. Daher kommt die Schwachstrom-Risikobereitschaft der brasilianischen Literatur. Carlos Drummond de Andrade war ein großer Dichter, aber eben auch Beamter, und deshalb limitiert. Guimarães Rosa: Was wären wir ohne ihn? Aber er war ein Diplomat, ein Dandy, der sich im brasilianischen Hinterland herumtrieb. Es ist wichtig, sowohl die Literatur dieser Dandys als auch der Autoren, die unter dieser Situation der Ausbeutung zu leiden hatten, zu lesen.
Von einem sozialen Blickwinkel aus gesehen sind die Literaturnormen in Brasilien sehr autoritär und ausgrenzend. Ein Liederbuch mit Sambas ist für mich wesentlich innovativer als die brasilianische Literatur. Beispielsweise sind die Verse von Wilsinho Rodrigues: „Esses moços que vão ao inferno a procura da luz“ (Diese Jungen gehen in die Hölle, auf der Suche nach dem Licht) von einer unvergleichlichen Kunstfertigkeit. Und diesen Samba hat ein Mann geschrieben, der alkoholkrank in Porto Alegre lebt. Leider schätzen die Menschen diesen Typ Künstler nicht.

Schon in ihren ersten Romanen haben Sie sich mit dem Thema der Gewalt in Großstädten auseinandergesetzt. Würden Sie sich als Visionär bezeichnen?

Ich würde das nicht visionär nennen. Ich habe in meinem Leben eine Liste von Leiden bemerkt und ich sah keine Literatur, die sich damit befasste. Die Tatsache, dass ich am Ende der Diktaturzeit unter Alkoholikern, Arbeitern und Reaktionären aufgewachsen bin und das Verlangen nach einer Demokratie, die von der jüngeren Generation getragen wird, hat mich dazu gebracht, diese soziale Schicht zum Thema zu machen. Ich schreibe Geschichten über Menschen, die in einer Fotografie gefangen sind, Menschen, die verrückt werden, die sich einbilden, ein Engel zu sein, aus dem Fenster hüpfen und sterben. Die brasilianische Misere hat eine eigene Gedanken- und Vorstellungswelt. Während ich das Drehbuch zum Film „Os Matadores“ (Die Killer) geschrieben habe, habe ich mit einigen Auftragsmördern gesprochen. Einer von ihnen war ein gläubiger Mann. Er ließ seine Opfer hinknien, legte sie auf den Boden, befahl ihre Seele in Gottes Hände und erst dann tötete er sie. Das ist kein einfacher Mord sondern ein Ritual, ein spezielles Ritual. Ich wollte das in der Literatur verwirklicht sehen und habe es nicht gefunden. Ich habe in keiner Weise eine visionäre Haltung eingenommen, indem ich beschrieb, was ich um mich herum wahrgenommen habe. Ich habe versucht, aus meinen Lebenserfahrungen einen literarischen Stempel zu machen.

Übersetzung: Dominik Zimmer

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