Literatur | Nummer 389 - November 2006

„Die Schule sollte die Volkskunst nutzen“

Interview mit dem brasilianischen Kinderbuchautor Ricardo Azevedo

Neben seinen literarischen Werken hat Ricardo Azvedo mehrere Artikel über die Bildung in Brasilien verfasst. Im Rahmen des 6. Literatur-Festivals in Berlin sprach der Autor mit LN über seine Vorstellungen von der Verbesserung des Bildungssystems und die Rolle, die Literatur und Volkskunst dabei spielen sollten.

Kornel Moravecz

Herr Azevedo, Sie sind einer der bekanntesten Kinderbuchautoren Brasiliens. Allerdings lehnen Sie selbst die Zuordnung ihrer Literatur zu bestimmten Altersgruppen ab. Ist das nicht ein wenig paradox?

Ich arbeite seit 26 Jahren mit Büchern. Dabei wurde mir allmählich bewusst, dass ich wesentlich mehr mit volkstümlicher Literatur arbeite, als mit tatsächlicher Kinderliteratur. Ich empfinde Literatur für Kinder als zu stark didaktisch: etwa Bücher, die den Kindern beibringen sollen, die Natur zu lieben oder keine Angst vor dem Zahnarzt zu haben.
Erzählungen, Fabeln oder Märchen waren noch nie nur für Kinder gedacht. Eines der wesentlichen Merkmale der volkstümlichen Kultur ist das Fehlen jeglicher Unterteilung in Altersgruppe. Die Vorstellung von einer Einteilung ist kulturell geprägt. Mir gefällt diese Vorstellung nicht. Werden wir denn auch eine Literatur für geschiedene Frauen in ihren 30ern haben oder für Ingenieure? Ich sage lieber, dass ich mit volkstümlicher Literatur arbeite, um möglichst viele Menschen anzusprechen.

Sie zeichnen auch viel zu ihrer Literatur. Welche Rolle spielt die Illustration in ihrem Werk und sind ihre Zeichnungen ebenfalls durch die Volkskunst geprägt?

In Lehrbüchern unterstreichen die Abbildungen die Aussage des Buches. Bei einem literarischen Werk verhält es sich umgekehrt. Die Zeichnungen können Informationen enthalten, die der Text nicht birgt. Somit erweitern sie die Bedeutungswelt der Geschichte. Es hängt jedoch von dem jeweiligen Text ab. Es gibt durchaus Texte, die ausschließlich gelesen werden sollten und solche, die mit den Zeichnungen im Dialog stehen.
Ich habe über die brasilianische Volkskunst geforscht, jedoch nur als einen Teil meiner Arbeit. Wenn meine Bücher nun von dieser Kunstrichtung inspiriert wurden, etwa Abwandlungen volkstümlicher Erzählungen darstellen, so verwende ich eine Bildersprache, die an das Volkstümliche angelehnt ist. Für meine eigenen Werke verwende ich jedoch auch bei den Illustrationen eine eigene Sprache.

Sie haben des öfteren die soziale Kluft Brasiliens angeprangert und die miserable Situation des Erziehungswesens sowie des allgemeinen Bildungsstands hervorgehoben. Ist ihrer Meinung nach die Alphabetisierung der erste entscheidende Schritt zur Verbesserung der allgemeinen Lage?

Ich verfechte folgende Idee: die Kinder sollen Schreiben und Lesen lernen, allerdings darf dabei auf keinen Fall das Volkstümliche verloren gehen. Ich glaube, dass das Erziehungswesen in Brasilien die Kultur des Volkes sehr gering schätzt. Das führt zu einer äußerst schwierigen Situation, denn wenn das Kind eines Analphabeten in die Schule kommt, wird ihm vermittelt, dass es ein Nichts ist, ebenso wie sein Vater und Großvater.

Und weshalb?

Weil sie nicht lesen und schreiben können und keine Allgemeinbildung besitzen. Und das bedeutet, dass sie nichts wissen.
Das stimmt aber überhaupt nicht. Sie wissen über andere Dinge Bescheid. Sie verfügen über eine eigene, reiche Kultur. Gerade habe ich den Kindern hier [im Rahmen des Berliner Literatur-Festivals, Anm. d. Red.] eine brasilianische Erzählung vorgelesen. Sie hat ihnen sehr gut gefallen und es ist tatsächlich eine hervorragende Geschichte. Und es gibt zahlreiche Geschichten, Reime, Wortspiele oder auch Rezepte. Die Schule sollte die Volkskunst als einen kulturellen Vermittler nutzen. Ein Kind sollte zum Beispiel in der Schule eine Erzählung von zuhause wiedererkennen können. Dann kann es zum Unterricht weitere Erzählungen beitragen, denn seine Eltern werden auch andere Geschichten erzählen. Wenn die Schule damit beginnt, wird sie einen besseren Unterricht leisten, der lebendiger und näher an der Realität unseres Landes ist.

Weshalb tut sich das brasilianische Bildungswesen so schwer?

Etwa 25 Prozent der Bevölkerung Brasiliens sind tatsächlich alphabetisiert. Die restlichen 75 Prozent sind entweder Analphabeten oder nur teilweise des Lesens und Schreibens fähig. Andererseits sind diese Menschen tief mit der oralen Kultur verwurzelt. Es sind Menschen mit einer überaus reichen Kultur. Sie sind es, die etwa den Samba geschaffen haben, der ist nicht an den Universitäten entstanden.
Das momentane Schulwesen empfinde ich als nicht überaus geistreich. Die Bildung beschränkt sich auf das Auswendiglernen von grammatikalischen Formeln und ähnlichem. Diese Informationen halte ich für austauschbar. Es sind größten Teils kurzlebige Normen, die sich in ständigem Wandel befinden. Daher sollte man das Wissen relativieren. Meiner Meinung nach bildet die brasilianische Schule unkritische Technokraten heran. Ich denke jedoch, dass es auch hier in Deutschland ähnlich ist.
Allerdings muss ich hinzufügen, dass sich in Brasilien in diesem Bereich einiges getan hat. Beinahe alle Kinder gehen heutzutage zur Schule. Das war vor einigen Jahren noch anders.

Ist diese Entwicklung der jetzigen Regierung Lula zu verdanken?

Es handelt sich eher um eine allgemeine Entwicklung, jedoch versucht diese Regierung, dem eine Kontinuität zu verleihen. In Brasilien wurde noch nie soviel über Erziehung geredet wie in den letzten zehn Jahren. Mir scheint, die Gesellschaft hat endlich wahrgenommen, dass das Land ohne Bildung nicht aufblühen kann. Bildung muss es den Menschen ermöglichen, sich in die Gesellschaft zu integrieren.

Sie haben an einem sozialen Projekt namens „Fura-Bolo“ (Zeigefinger) mitgearbeitet. Könnten Sie das Projekt beschreiben?

Wie in anderen Ländern auch, sind in Brasilien viele Projekte entstanden, die durch private Initiative begründet wurden. Bei „Fura-Bolo“ handelt es sich um die große US-amerikanische Firma CARGILL, die in ländlichen Regionen Brasiliens tätig ist. Diese Firma wollte sich in den Regionen, in denen sie wirtschaftlich tätig ist, auch sozial engagieren. Ich wurde zur Planung eingeladen und habe ihnen den Vorschlag gemacht, Kindern in diesen Gebieten den Zugang zu Literatur zu ermöglichen. Die einzigen Bücher, die diese Kinder bislang hatten, waren Schulbücher, die ihnen von der Regierung zur Verfügung gestellt worden waren. Also haben wir neun Bücher erarbeitet, die kostenlos verteilt wurden. Zusätzlich erhielten ihre Lehrer eine Fortbildung, um mit diesen Büchern zu arbeiten, denn in diesen abgelegenen Gebieten sind auch die Lehrer arm und nur mangelhaft ausgebildet.
Das Projekt existiert inzwischen seit neun Jahren und über 100.000 Kinder werden damit erreicht. Diese Kinder wussten nicht einmal, dass es Bücher zur Unterhaltung gibt, über die man lachen kann, die Gefühle erzeugen. Durch dieses Projekt haben sie dies erfahren.

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